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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 752

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 841/19, Beschluss v. 03.06.2019, HRRS 2019 Nr. 752


BVerfG 2 BvR 841/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. Juni 2019 (OLG Frankfurt am Main)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung nach Weißrussland zum Zwecke der Strafverfolgung (Recht auf effektiven Rechtsschutz; hinreichende Sachverhaltsaufklärung; Zweifel an einer allgemeinen Zusicherung konventionskonformer Haftbedingungen bei lediglich 2,5 m2 persönlichem Raum; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 25 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 73 IRG; Art. 3 EMRK

Leitsatz des Bearbeiters

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Weißrussland zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Recht auf effektiven Rechtsschutz und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt hat, obwohl an der Belastbarkeit einer allgemein abgegebenen Zusicherung konventionskonformer Haftbedingungen Zweifel bestehen, weil die Behörden im Zielstaat weiter erklärt haben, jedem Inhaftierten stehe - lediglich - ein persönlicher Raum von jedenfalls 2,5 m2 zur Verfügung.

Entscheidungstenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die weißrussischen Behörden wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Die Vollziehung des Auslieferungshaftbefehls bleibt von der einstweiligen Anordnung unberührt.

Gründe

Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, der die ukrainische und libanesische Staatsangehörigkeit besitzt, nach Weißrussland zur Strafverfolgung.

I.

1. Gegen den Beschwerdeführer besteht ein Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Weißrussland vom 26. Mai 2015. Hierin wird ihm vorgeworfen, zu seinem persönlichen Vorteil die illegale Einreise von drei libanesischen Staatsangehörigen (seiner Schwester und deren Familie) aus der Russischen Föderation nach Weißrussland organisiert zu haben, um ihnen die illegale Weiterreise nach Westeuropa zu ermöglichen. Der Beschwerdeführer wurde am 16. April 2018 auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frankfurt am Main festgenommen und befindet sich seither in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main ordnete mit Beschluss vom 23. April 2018 die vorläufige Auslieferungshaft und mit Beschluss vom 14. Juni 2018 die Auslieferungshaft an, die es in der Folge mehrmals verlängerte. Der Beschwerdeführer hat sich mit seiner Auslieferung im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden erklärt und auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet.

2. Die weißrussischen Behörden legten mit Verbalnote vom 21. Mai 2018 die Auslieferungsunterlagen vor. Sie sicherten darin unter anderem zu, dass der Beschwerdeführer sowohl während der Untersuchungs- als auch während einer eventuellen Strafhaft in einer Haftanstalt untergebracht werde, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen vom 11. Januar 2006 entspreche, und dass er von deutschen Botschaftsangehörigen besucht werden dürfe.

3. Das Auswärtige Amt nahm mit E-Mail vom 11. Dezember 2018 zu den dort vorliegenden Erfahrungen mit den Haftbedingungen in drei Strafkolonien in Weißrussland Stellung:

- Strafkolonie Nr. 2 Babrujsk November 2017: Unterbringung im 30-Betten-Schlafsaal, ohne Angabe von Quadratmeterzahlen;

- Strafkolonie Nr. 15 Mahiljou Dezember 2017: Unterbringung im Gemeinschaftsschlafsaal (Zweietagenbetten) mit 22 Personen auf einer Fläche von 25 bis 30 m2;

- Strafkolonie Nr. 3 Vitba September 2018: Unterbringung im Gemeinschaftsschlafsaal mit 40 anderen Inhaftierten mit Etagenbetten auf etwa 80 m2.

4. Mit Verbalnote vom 22. Dezember 2018 erklärten die weißrussischen Behörden:

„Laut Artikel 13 des Gesetzes der Republik Belarus vom 16. Juni 2003 Nr. 215-3 über die Regelung und Bedingungen der Inhafthaltung von Personen werden Personen in gemeinsamen Zellen zusammen mit anderen Personen in Haft gehalten, und in den Fällen, die durch dieses Gesetz vorgesehen sind, getrennt von anderen Personen, die Zellen müssen dabei den Brandschutzanforderungen und Hygieneregeln entsprechen. (…) Die Norm gesundheitlicher Raumfläche in einer Zelle pro eine Person wird in Höhe von mindestens zweieinhalb Quadratmeter festgesetzt. Den Personen, die in Haft gehalten werden, werden tägliche Spaziergänge mit der Dauer von mindestens zwei Stunden und achtstündiger Schlaf in der Nachtzeit geboten. Hafträume für Festgenommene werden mit Bade- und Waschräumen, Bibliotheken und Plätzen für Spaziergänge der Personen in Haft eingerichtet.“

5. Mit angegriffenem Beschluss vom 4. April 2019 erklärte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung wegen der dem Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Weißrussland vom 26. Mai 2015 zugrundeliegenden Tat für zulässig und ordnete die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Der Beschluss ging dem Beschwerdeführer am 9. April 2019 zu.

Das Oberlandesgericht führte zur Begründung aus, die Auslieferung nach Weißrussland verstoße nicht gegen § 73 IRG. Wie den vom Prozessbevollmächtigten vorgelegten Berichten zu entnehmen sei, weise der Strafvollzug in Weißrussland zwar allgemeine Defizite auf. Die weißrussische Generalstaatsanwaltschaft habe aber zugesichert, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung und fortdauernden Inhaftierung in einer Haftanstalt untergebracht werde, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen vom 11. Januar 2006 entspreche, und dass Beamten der deutschen Botschaft in Weißrussland Besuche des Beschwerdeführers mit dessen Zustimmung genehmigt würden. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in offenen Gemeinschaftsschlafräumen untergebracht werde. Dies sei nicht zu beanstanden, da, außer zum Schlafen selbst, grundsätzlich eine größere Bewegungsfreiheit als im Strafvollzug mit Einzelunterbringung und festen Umschlusszeiten gegeben sei. Zwar bleibe der Anteil an der Gesamtfläche des Schlafraums hinter den auf geschlossene Zellen bezogenen Vorgaben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurück, der einer Unterschreitung von 3 m2 persönlichen Raums pro Person ein starkes Indiz für eine Verletzung von Art. 3 EMRK entnehme, welches nur unter mehreren Voraussetzungen kompensiert werden könne. Allerdings ergebe sich daraus, ohne dass auf den Kompensationsgedanken abgestellt werden müsse, im vorliegenden Fall kein Indiz für das Vorliegen konventionswidriger Haftbedingungen. Die relativ freie Bewegungsmöglichkeit außerhalb des Schlafraumes kompensiere nämlich nicht eine zu kleine klassische Zelle, sondern verfolge ein vollständig anderes Strafvollzugskonzept. Dass Gemeinschaftsschlafsäle schon per se konventionswidrig seien, sei bisher nicht festgestellt. Haftunterbringungen seien stark kulturell geprägt. So werde zum Beispiel die in Mittel- und Nordeuropa favorisierte Einzelunterbringung zum Schutz der Privatsphäre in manchen Ländern als „Einzelhaftfolter" abgelehnt. Entscheidend sei eine bewertende Gesamtbetrachtung des Strafvollzugs. Angesichts der vom Auswärtigen Amt mitgeteilten Umstände zu den Haftbedingungen in den dort genannten Vollzugseinrichtungen ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine konventionswidrige Inhaftierung.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, fristgerecht eingegangen am 9. Mai 2019, wendet sich der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer insbesondere gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 4. April 2019. Er rügt insbesondere eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG.

Das Oberlandesgericht habe nicht erklärt, warum es davon ausgehe, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung in einer Strafkolonie untergebracht werde. Tatsächlich hätten die weißrussischen Behörden doch nur eine Haftraumgröße von mindestens 2,5 m2 zugesichert und eben keine Unterbringung in offenen Gemeinschaftsschlafräumen innerhalb eines frei begehbaren Komplexes, auch nicht die vom Oberlandesgericht behauptete „relativ freie Bewegungsmöglichkeit außerhalb des Schlafraumes“.

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sei verletzt, weil das Oberlandesgericht die den Beschwerdeführer erwartenden Haftbedingungen nicht sachgerecht aufgeklärt habe. Das Oberlandesgericht habe keine Kenntnis davon, in welcher Vollzugsanstalt der Beschwerdeführer in Weißrussland untergebracht werde, geschweige denn, wie die konkreten Haftbedingungen dort seien. Es begründe nicht, warum es die Auslieferung für zulässig erkläre, ohne Kenntnis davon zu haben, in welche Haftanstalt der Beschwerdeführer eingeliefert werde und wie groß der Haftraum dort sei. Das Oberlandesgericht übernehme zur Begründung stattdessen pauschale Bewertungen des Auswärtigen Amtes vom 11. Dezember 2018, das die Haftbedingungen noch als konventionskonform einschätze.

Nicht sichergestellt sei, dass die zu erwartenden Haftbedingungen Art. 3 EMRK genügten, da lediglich eine Fläche pro Person von 2,5 m2 zugesichert sei. Es bestehe eine starke Vermutung für eine Verletzung von Art. 3 EMRK, wenn einem Gefangenen in einem Gemeinschaftshaftraum weniger als 3 m2 als persönliche Fläche zur Verfügung stehen. Die Zusicherung von 2,5 m2 relativiere auch die sonstigen Zusicherungen der weißrussischen Generalstaatsanwaltschaft in Bezug auf eine menschenrechtskonforme Behandlung.

III.

Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die weißrussischen Behörden gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

1. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG erscheint nach dem Vortrag des Beschwerdeführers möglich, weil das Oberlandesgericht den Sachverhalt hinsichtlich der Gefahr, dass der Beschwerdeführer in Weißrussland menschenunwürdige Haftbedingungen erleidet, nicht hinreichend aufgeklärt haben könnte. Die Zusicherungen aus Weißrussland schließen nicht aus, dass der Beschwerdeführer in einer verschlossenen Einzel- oder Gemeinschaftszelle untergebracht werden könnte, in der ihm lediglich ein persönlicher Raum von 2,5 m2 zusteht und die damit den aus Art. 25 GG abzuleitenden völkerrechtlichen Mindeststandard unterschreitet. Es finden sich keine Angaben dazu, dass der Beschwerdeführer in einer Strafkolonie mit offenen Gemeinschaftsschlafsälen untergebracht werden wird, wie sie das Auswärtige Amt beschreibt und wie sie das Oberlandesgericht für zulässig erachtet. Auch wenn Weißrussland anfangs in allgemeiner Form zugesichert hat, dass der Beschwerdeführer in einer Haftanstalt untergebracht werde, die den Anforderungen der EMRK und der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze entspreche, hat es dies in seinen weiteren Ausführungen in der Verbalnote vom 22. Dezember 2018 dahingehend konkretisiert, dass jede inhaftierte Person sowohl in einer offenen Gemeinschaftszelle als auch in einer geschlossenen Zelle jedenfalls 2,5 m2 persönlichen Raum zur Verfügung haben werde und tägliche Spaziergänge von mindestens zwei Stunden Dauer machen könne. Angesichts dieser Ausführungen ergeben sich trotz des grundsätzlich zu beachtenden Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens Zweifel an der Belastbarkeit der Zusicherung konventionskonformer Haftbedingungen.

b) Die nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Auslieferung ist für zulässig erklärt und bewilligt worden. Vor der bevorstehenden Auslieferung wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache nicht ergehen können. Die Folgen, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergehen würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers rechtswidrig war, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung ergehen würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung nicht mehr möglich. Dadurch könnten ihm erhebliche und möglicherweise nicht wiedergutzumachende Nachteile entstehen. Demgegenüber wiegt eine Verzögerung der Übergabe des Beschwerdeführers weniger schwer. Er könnte, sollte sich die geplante Auslieferung als rechtmäßig erweisen, ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt an Weißrussland übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 752

Bearbeiter: Holger Mann