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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 726

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 665/18, Beschluss v. 25.04.2019, HRRS 2019 Nr. 726


BGH 1 StR 665/18 - Beschluss vom 25. April 2019 (LG München II)

Begriff der prozessualen Tat („Nämlichkeit“ der Tat bei Serienstraftaten).

§ 264 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die „Nämlichkeit“ der Tat als geschichtlicher Vorgang ist gegeben, wenn ungeachtet möglicher erst durch die Hauptverhandlung aufgeklärter Einzelheiten bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Auch bei Serienstraftaten wie hier den Missbrauchstaten zu Lasten eines Kindes bzw. einer Jugendlichen, die zudem erst nach längerer Zeit aufgedeckt werden, können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann (vgl. BGHSt 32, 215, 218).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 6. August 2018 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall C. IV. 3. der Urteilsgründe wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;

b) das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 1.203 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung, davon in weiteren 599 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen und davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern schuldig ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die weiteren Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener in drei Fällen, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener in 600 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, und wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener in 600 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch Widerstandsunfähiger, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung materiellen und - nicht näher ausgeführt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) - formellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat wegen eines Verfahrenshindernisses den aus der Beschlussformel ersichtlichen geringen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Eine Tat des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen (unter Ausnutzen einer eine Abhängigkeit begründenden Autoritätsstellung, § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB), nämlich der Fall C. IV. 3. der Urteilsgründe, wird nicht von der - unverändert zugelassenen - Anklage erfasst. Da es somit an einer Verfahrensvoraussetzung fehlt, ist das Verfahren gemäß § 206a Abs. 1 StPO insoweit einzustellen.

a) Dem Angeklagten war unter anderem mit der Anklageschrift vom 5. Mai 2017 zur Last gelegt worden, die ihm zur Erziehung anvertraute Tochter seiner Lebensgefährtin - die Nebenklägerin T. - auch im Zeitraum nach Vollendung ihres 14. Lebensjahres und vor ihrem 16. Geburtstag an 300 Tagen missbraucht zu haben, und zwar vaginal, anal oder oral mit seinem Glied oder zumindest mit seinem Finger in ihre Scheide eingedrungen zu sein; in einigen Fällen soll die Nebenklägerin den Angeklagten zusätzlich mit ihrer Hand befriedigt haben. Solche - nicht genauer bestimmten Tagen zuordenbare - sexuelle Handlungen habe der Angeklagte entweder in der gemeinsam genutzten Wohnung, im Lastkraftwagen seines Arbeitgebers oder im eigenen Fahrzeug ausgeübt. Von diesen 300 dem Angeklagten vorgeworfenen Fällen sind zwei nach dem Umzug von W. nach Bayern begangene Taten näher dahingehend beschrieben, dass der Angeklagte nach dem 15. Februar 2008 in einem Fall mit der Nebenklägerin den Analverkehr vollzog, als diese - auf seine Aufforderung hin - ihren Oberkörper über eine Couch beugte, und im anderen Fall mit ihr den Vaginalverkehr vor einer Spiegelfront durchführte, den diese im Spiegel beobachten sollte. Nach den Feststellungen zu Fall C. IV. 3. der Urteilsgründe übte der Angeklagte mit der Nebenklägerin den Vaginal- und Analverkehr in seiner eigenen Wohnung in W. aus, die er während einer kurzzeitigen Trennung von der Mutter der Geschädigten, der Zeugin A., für wenige Wochen bezogen hatte.

b) Mit dieser Abweichung ist die Identität der angeklagten von der festgestellten Tat (§ 264 Abs. 1 StPO) nicht gewahrt.

aa) Die „Nämlichkeit“ der Tat als geschichtlicher Vorgang ist gegeben, wenn ungeachtet möglicher erst durch die Hauptverhandlung aufgeklärter Einzelheiten bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Auch bei Serienstraftaten wie hier den Missbrauchstaten zu Lasten eines Kindes bzw. einer Jugendlichen, die zudem erst nach längerer Zeit aufgedeckt werden, können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Februar 2018 - 2 StR 390/17, Rn. 18; vom 18. Oktober 2016 - 3 StR 186/16, Rn. 8; vom 27. September 2011 - 3 StR 255/11, Rn. 6 und vom 10. November 2008 - 3 StR 433/08, Rn. 4; Urteile vom 21. Dezember 1983 - 2 StR 578/83, BGHSt 32, 215, 218 und vom 20. November 2014 - 4 StR 153/14, Rn. 5).

bb) An diesen Grundsätzen gemessen und nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. Februar 2018 - 2 StR 390/17, Rn. 15 und vom 16. August 2018 - 4 StR 200/18, Rn. 6) ist der Fall C. IV. 3. der Urteilsgründe nicht Gegenstand der Anklage, da er von wesentlichen Grundzügen des angeklagten Tatgeschehens abweicht. Zum einen werden nach dem Anklagesatz die Tatorte auf die beiden Fahrzeuge und die gemeinsamen Wohnungen eingegrenzt (vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2008 - 3 StR 433/08, Rn. 5). Zum anderen sind in der Anklage - auch unter Heranziehung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen (BGH, Urteile vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00, BGHSt 46, 130, 134 und vom 28. Oktober 2009 - 1 StR 205/09, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 25; Beschluss vom 16. August 2018 - 4 StR 200/18, Rn. 8) - die Vielzahl der Taten dadurch charakterisiert, dass die Lebensgefährtin an sechs Tagen in der Woche arbeitete und bereits deswegen auf die Mithilfe des Angeklagten bei der Aufsicht und Erziehung der minderjährigen Tochter im gemeinsamen Haushalt angewiesen war; dies nutzte der Angeklagte zur Begehung der Missbrauchstaten aus. Damit weichen nicht nur der Tatort, sondern auch die prägenden Begleitumstände, in welche die Tatserie „eingebettet“ war, im Fall C. IV. 3. der Urteilsgründe entscheidend vom angeklagten Sachverhalt ab: Während der vorübergehenden Trennung des Angeklagten von der Mutter stellt sich das Ausnutzen des Besuchs der Nebenklägerin, die den Angeklagten auf Wunsch der eifersüchtigen Zeugin A. kontrollieren sollte, auch hinsichtlich der Tatumstände wesentlich anders als angeklagt dar.

2. Im Übrigen hat die auf die erhobene Sachrüge veranlasste umfassende sachlichrechtliche Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

3. Der durch die Einstellung des Verfahrens im genannten Fall bedingte Wegfall der hierfür verhängten Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten lässt den Gesamtstrafausspruch unberührt. Es ist angesichts der Vielzahl der verbleibenden Fälle und der hierfür rechtsfehlerfrei verhängten Einzelfreiheitsstrafen einschließlich der Einsatzfreiheitsstrafe auszuschließen, dass das Landgericht ohne die entfallene Einzelstrafe auf eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 726

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 308; StV 2019, 817

Bearbeiter: Christoph Henckel