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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1224

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 255/11, Beschluss v. 27.09.2011, HRRS 2011 Nr. 1224


BGH 3 StR 255/11 - Beschluss vom 27. September 2011 (LG Wuppertal)

Prozessuale Tat; Anklagegrundsatz; Identität der Tat (individualisierende Tatumstände); nicht erschöpfte Anklage (Zuständigkeit zur Entscheidung nach Aufhebung und Zurückverweisung).

§ 264 StPO; § 200 StPO; § 199 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Gericht muss seine Untersuchung auch auf Teile einer angeklagten Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Gericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden.

2. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt.

3. Bei der Untersuchung und Entscheidung muss aber die Identität der Tat gewahrt bleiben. Dies ist nicht der Fall, wenn das Gericht Umstände feststellt, die von den die angeklagten Taten individualisierenden Tatmodalitäten in erheblicher Weise abweichen.

4. Können die dem Angeklagten in der Anklage vorgeworfenen Taten etwa wegen langen Zeitablaufs nur hinsichtlich der Tatorte und der Begehungsweisen, aber nicht hinsichtlich der Tatzeit näher bestimmt werden, so erlangt die Art und Weise der Tatverwirklichung maßgebliche Bedeutung für die Individualisierung der zum Gegenstand der Anklage und später des Eröffnungsbeschlusses gemachten Taten.

5. Schöpft ein ergangenes Urteil die Anklage nicht aus, so erfasst eine gegen dieses Urteil erhobene Revision die nicht abgeurteilten Taten nicht; dementsprechend ist es auch dem Revisionsgericht verwehrt, hierüber eine Entscheidung zu treffen. Gleichwohl ist auch zur Entscheidung über die bisher nicht erschöpften Teile der Anklage nach Aufhebung und Zurückverweisung des Urteils wegen der anderen Taten der neue und nicht der bisherige Tatrichter berufen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 18. Februar 2011 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in den Fällen II. 2. a) aa) Tat 1, II. 2. a) bb) Tat 3 und II. 2. b) bb) Tat 6 der Urteilsgründe jeweils wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last,

b) das vorbezeichnete Urteil

aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in vier Fällen schuldig ist,

bb) im Gesamtstrafenausspruch und zur Adhäsionsentscheidung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Antrag auf Zulassung der Nebenklage für das Revisionsverfahren ist gegenstandslos.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und ihn im Übrigen vom weiteren Vorwurf der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in 67 Fällen freigesprochen. Es hat festgestellt, von der verhängten Freiheitsstrafe gälten zwei Monate als verbüßt. Außerdem hat es den Angeklagten im Adhäsionsverfahren zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an die Nebenklägerin verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Soweit das Landgericht den Angeklagten in den Fällen II. 2. a) aa) Tat 1, II. 2. a) bb) Tat 3 und II. 2. b) bb) Tat 6 der Urteilsgründe jeweils wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern verurteilt hat, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung einer Anklageerhebung und demzufolge auch an der eines Eröffnungsbeschlusses, so dass das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO einzustellen ist.

a) Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen, 74 Fälle der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zum Nachteil der im November 1980 geborenen Nebenklägerin betreffenden Anklageschrift vom 12. Dezember 2009 war dem Angeklagten unter anderem zur Last gelegt worden, in zwei Fällen zwischen Ende März 1990 und Ende Oktober 1992 die Nebenklägerin zu Zeiten, zu denen ihre Mutter verreist war, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für ihr Leben aufgefordert zu haben, anlässlich ihrer Übernachtung im Bett der Eltern mit der Hand am Penis des Angeklagten zu manipulieren. Weiter war dem Angeklagten vorgeworfen worden, zwischen November 1992 und dem 23. November 1994 die Nebenklägerin mit Gewalt in das Badezimmer gezogen, die Tür verschlossen und sie, während sie vor ihm auf der Toilette gesessen habe, durch Ziehen an ihren Haaren dazu gezwungen zu haben, seinen Penis in den Mund zu nehmen.

b) Nach den Feststellungen des Landgerichts berührte der Angeklagte die Nebenklägerin an einem Abend in der ersten Jahreshälfte 1991 und an einem weiteren Abend zwischen Mitte 1991 und Oktober 1992 anlässlich ihrer Übernachtung im Ehebett im Intimbereich und führte einen Finger in ihre Scheide ein, während er sich dabei selbst befriedigte (Fälle II. 2. a) aa) Tat 1 und II. 2. a) bb) Tat 3 der Urteilsgründe). Weiter zog er sie zwischen Mitte 1993 und dem 23. November 1994 in einem Fall in das Badezimmer, schloss die Tür ab und veranlasste sie, ihn bis zur Ejakulation oral zu befriedigen, wobei er stand, während sie vor ihm knien musste (Fall II. 2. b) bb) Tat 6 der Urteilsgründe). Eine Nachtragsanklage, die diese Begehungsweisen zum Gegenstand hatte, ist nicht erhoben worden.

c) Die auf diese Feststellungen gestützte Verurteilung des Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in drei Fällen hat keinen Bestand; das Verfahren ist insoweit einzustellen. Das vom Landgericht festgestellte Geschehen weicht so deutlich von den in der Anklageschrift geschilderten geschichtlichen Vorgängen ab, dass es sich nicht mehr als eine von der Anklage bezeichnete Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO darstellt.

Zwar muss das Gericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Gericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt (BGH, Beschluss vom 7. November 1995 - 4 StR 608/95, NStZ-RR 1996, 203 mwN). Bei der Untersuchung und Entscheidung muss aber die Identität der Tat gewahrt bleiben (BGH, Beschluss vom 10. November 2008 - 3 StR 433/08, NStZ-RR 2009, 146, 147). Dies ist nicht der Fall, wenn das Gericht Umstände feststellt, die von den die angeklagten Taten individualisierenden Tatmodalitäten in erheblicher Weise abweichen.

So liegt es hier. In den Fällen II. 2. a) aa) Tat 1, II. 2. a) bb) Tat 3 und II. 2. b) bb) Tat 6 der Urteilsgründe weichen die Feststellungen des Landgerichts hinsichtlich der Modalitäten der Tatbegehung so erheblich vom Anklagevorwurf ab, dass mit ihnen andere als die angeklagten Taten beschrieben sind.

Nach dem der Anklageerhebung zugrunde liegenden Ermittlungsergebnis war die Nebenklägerin über Jahre hinweg Opfer einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen des Angeklagten, die in der Anklage nur hinsichtlich der Tatorte und der Begehungsweisen, aber nicht hinsichtlich der Tatzeit näher bestimmt werden konnten. Damit erlangte die Art und Weise der Tatverwirklichung maßgebliche Bedeutung für die Individualisierung der zum Gegenstand der Anklage und später des Eröffnungsbeschlusses gemachten Taten (BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 - 5 StR 682/93, BGHSt 40, 44, 46). Das galt einmal für die Beschreibung zweier Taten im Ehebett mit einer Manipulation der Nebenklägerin am Penis des Angeklagten. Eine für die Individualisierung einer bestimmten Tat maßgebliche Charakterisierung der Begehungsform lag aber auch in dem Umstand, die Nebenklägerin habe während des Oralverkehrs im Badezimmer nicht - wie sonst üblich, wenn der Angeklagte nicht stattdessen auf ihr saß - vor dem Angeklagten gekniet, sondern auf der Toilette gesessen. Nur mittels der so gekennzeichneten Position der Nebenklägerin ließ sich die angeklagte Tat von anderen Übergriffen im Badezimmer unterscheiden.

Die Feststellung in den Fällen II. 2. a) aa) Tat 1 und II. 2. a) bb) Tat 3 der Urteilsgründe, der Angeklagte habe, statt die Nebenklägerin zu einer Manipulation an seinem Penis zu veranlassen, im Ehebett einen Finger in ihre Scheide gesteckt und sich dabei selbst befriedigt, beschreibt als wesentlich kennzeichnendes Merkmal nicht eine Handlung der Nebenklägerin am Angeklagten, sondern des Angeklagten an der Nebenklägerin und damit gegenüber der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss eine andere prozessuale Tat. Gleiches gilt im Fall II. 2. b) bb) Tat 6 der Urteilsgründe, den das Landgericht in die Reihe der sonst gleichförmig anders verlaufenen und durch eine bestimmte andere Körperhaltung der Nebenklägerin - ihr Knien vor dem Angeklagten beim Oralverkehr - gekennzeichneten Fälle einordnete.

d) Die Einstellung des Verfahrens in den Fällen II. 2. a) aa) Tat 1, II. 2. a) bb) Tat 3 und II. 2. b) bb) Tat 6 der Urteilsgründe führt zur Änderung des Schuldspruchs und wegen des Wegfalls der insoweit verhängten Einzelstrafen zur Aufhebung der Gesamtstrafe nebst den zugrunde liegenden Feststellungen.

2. Weiter unterliegt der Adhäsionsausspruch schon deshalb und ohne materielle Prüfung des geltend gemachten Anspruchs der Aufhebung, weil ein den Anforderungen des § 404 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechender Antrag nicht gestellt ist. Er enthält keine hinreichenden Angaben zu den tatsächlichen Umständen, aus denen der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird. Dies ist auf die allgemeine Sachrüge im Revisionsverfahren zu beachten (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2007 - 3 StR 426/07, StV 2008, 127 mwN). Da ein prozessordnungsgemäßer Antrag innerhalb der Frist des § 404 Abs. 1 Satz 1 StPO nach Aufhebung und Zurückverweisung noch nachgeholt werden kann, sieht der Senat von einer eigenen Entscheidung nach § 406 Abs. 1 Satz 3 StPO ab (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2007 - 3 StR 426/07, StV 2008, 127).

3. Der neue Tatrichter wird bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen haben, dass das Urteil die Anklage nicht erschöpft, weil über zwei Fälle der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zwischen März 1990 und Oktober 1992 im Zusammenhang mit Übernachtungen der Nebenklägerin im Ehebett (Manipulationen der Nebenklägerin am Penis des Angeklagten) und über einen weiteren, durch das Sitzen der Nebenklägerin auf der Toilette gekennzeichneten Fall ab dem 1. November 1992 im Badezimmer eine Entscheidung weder im Sinne einer Verurteilung noch im Sinne eines Freispruchs getroffen ist. Weil es an einer Sachentscheidung fehlt, erfasst das Rechtsmittel des Angeklagten, das sich nur gegen das ergangene Urteil richten kann, diese Taten nicht. Dem Senat ist es verwehrt, insoweit eine Entscheidung zu treffen (BGH, Beschluss vom 25. Juni 1993 - 3 StR 304/93, BGHR StPO § 260 Urteilsspruch 1); diese wird vielmehr der neue Tatrichter nachzuholen haben.

4. Der Antrag der Nebenklägerin, die Nebenklage für das Revisionsverfahren zuzulassen, ist gegenstandslos. Die Nebenklägerin hat ihren Beitritt zum Verfahren mit Schriftsatz vom 15. Januar 2010 eindeutig erklärt, die Anschlusserklärung ist mit ihrem Eingang bei Gericht am 18. Januar 2010 wirksam geworden. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 11. Februar 2010 die Berechtigung zum Anschluss als Nebenklägerin im Sinne der § 395 Abs. 1 Nr. 1, § 396 Abs. 2 Satz 1 StPO festgestellt. Diese Feststellung wirkt bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens fort und erstreckt sich somit auch auf die Revisionsinstanz (BGH, Beschluss vom 27. Januar 2009 - 3 StR 592/08, NStZ-RR 2009, 253).

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 1224

Externe Fundstellen: NStZ 2012, 168

Bearbeiter: Ulf Buermeyer