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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 690

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 530/18, Urteil v. 22.05.2019, HRRS 2019 Nr. 690


BGH 2 StR 530/18 - Urteil vom 22. Mai 2019 (LG Köln)

Verminderte Schuldfähigkeit (andere seelische Abartigkeit: Voraussetzungen und Gesamtschau im Einzelfall; Begriff der erheblichen Verminderung); Mord (Heimtücke: Ausnutzungsbewusstsein bezüglich der Arg- und Wehrlosigkeit, revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit).

§ 20 StGB; § 21 StGB; § 211 Abs. 2 Var. 5 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen.

2. Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt. Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat.

3. Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontaneität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angeklagten nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Maßgeblich sind die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit.

4. Bei der Beurteilung der subjektiven Voraussetzungen der Heimtücke handelt es sich um eine vom Tatgericht zu bewertende Tatfrage, die nur in eingeschränktem Maß der revisionsgerichtlichen Kontrolle zugänglich ist.

5. Die Rechtsprechung nennt verschiedene Voraussetzungen für eine schwere andere seelische Abartigkeit, unter anderem das Hervorgehen der Tat aus neurotischen Konflikten, eine konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor der Tat, ein abrupter Tatablauf, das Vorliegen konstellativer Faktoren, wie Alkoholisierung, Ermüdung und affektive Erregung. Als gegenläufige Indizien können im Einzelfall eine Tatvorbereitung, planmäßiges Vorgehen, die Fähigkeit zu warten, ein komplexer Handlungsablauf, eine Vorsorge gegen Entdeckung, die Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen oder das Hervorgehen des Delikts aus dissozialen Charakterzügen in Betracht kommen. Die Kriterien müssen im Einzelfall nicht sämtlich vorliegen, sie können auch über längere Zeitspannen hinweg variieren. Zudem können sie sehr unterschiedliches Gewicht haben. Maßgebend ist daher eine Gesamtschau aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls.

6. Das Ausbleiben von Gewalthandlungen des Angeklagten während der vorläufigen Unterbringung nach der Tat schließt das Vorliegen einer erheblichen Persönlichkeitsstörung bei der Tatbegehung nicht aus.

7. Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter in eigener Verantwortung unter wertender Betrachtung der Gesamtumstände zu beantworten hat. Es ist kein „Zirkelschluss“, wenn das Landgericht dem Vorliegen einer „schweren“ anderen seelischen Abartigkeit einen Hinweis auf deren Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB entnommen hat. Wird nämlich eine „schwere“ andere seelische Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB festgestellt, die nicht bei jeder Persönlichkeitsstörung vorliegt und nur in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Täter vergleichbar schwer belasten oder einengen, wie krankhafte seelische Störungen, liegt es nahe, der konkreten Ausprägung der Persönlichkeitsstörung im Einzelfall auch die Wirkung einer „erheblichen“ Verminderung der Schuldfähigkeit beizumessen.

Entscheidungstenor

Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Köln vom 27. April 2018 werden verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten durch ein erstes Urteil wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Senat hat dieses Urteil auf die Revision der Nebenkläger durch Urteil vom 7. Juni 2017 ? 2 StR 474/16 (NStZ 2018, 93 f. mit Anm. Engländer) mit den Feststellungen aufgehoben. Durch Beschluss vom gleichen Tage (NStZ-RR 2017, 368 f.) hat er das genannte Urteil auf die Revision des Angeklagten im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben. Nach Zurückverweisung der Sache hat das Landgericht den Angeklagten nunmehr wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren verurteilt. Dagegen richten sich die Revision des Angeklagten und die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte, zum Nachteil des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft jeweils mit der Sachrüge. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Am 16. August 2015 trainierte der damals 22-jährige Angeklagte, der in den Tag hineinlebte und Arbeitslosengeld II bezog, in einem Fitnesscenter in M. Anschließend trank er dort acht Flaschen Bier zu je 0,5 l und ließ die Zeche anschreiben, weil er kaum noch über Bargeld verfügte. Gegen 19.30 Uhr wollte er an einer Tankstelle einen Kasten Bier kaufen, konnte aber den Preis von 20,50 Euro nicht aufbringen. Sein Versuch, Geld an einem Automaten abzuheben, schlug mangels Deckung fehl. Daher erwarb er mit restlichem Bargeld fünf Flaschen Bier zu je 0,5 l, die er zuhause konsumierte. Im weiteren Verlauf des Abends entschloss er sich dazu, von seinem Wohnort in M. nach W. zu fahren, um dort Betäubungsmittel zu erwerben. Über den Nachrichtendienst WhatsApp versuchte er vergeblich, Bekannte zu kontaktieren, von denen er sich Hilfe bei der Drogenbeschaffung erhoffte.

Gegen 22.20 Uhr erschien auf Bestellung des Angeklagten das spätere Tatopfer Z. mit seinem Taxi. Der Angeklagte steckte sich ein Küchenmesser in den Hosenbund und stieg in das Taxi, obwohl er nur noch über 2,75 Euro Bargeld verfügte und wusste, dass er mit seiner Bankkarte kein Geld abheben konnte. Zu welchem Zweck er das Messer mitführte, vermochte das Landgericht nicht festzustellen.

Kurz nach 23.00 Uhr kam das Taxi am Marktplatz in W. an, wo der Fahrer Z. den Fahrpreis in Höhe von 89,90 Euro verlangte. Der Angeklagte bot ihm an, die Forderung bargeldlos zu begleichen, was Z. jedoch ablehnte. Darauf begab sich der Angeklagte zu der K. am Marktplatz und fragte am Bankautomaten den Stand seines Kontos ab, das sich mit 2,94 Euro im Soll befand. Gleichwohl versuchte er erfolglos, 200 Euro abzuheben. Sodann setzte er sich wieder auf den Beifahrersitz des Taxis, berichtete dem Taxifahrer, in der Sparkasse kein Geld bekommen zu haben und bot diesem an, seinen Personalausweis zu hinterlassen und den Fahrpreis am nächsten Tag zu bezahlen. Dies lehnte Z. ab. In diesem Moment erschien der Taxifahrer O. am Marktplatz. Der Angeklagte winkte diesen heran und erkundigte sich, ob bei seinem Taxiunternehmen bargeldlos bezahlt werden könne, was O. verneinte. Der Angeklagte bat O., einen weiteren ihm bekannten Taxifahrer zu kontaktieren, damit dieser für ihn bürge; der weitere Taxifahrer war aber nicht erreichbar. Schließlich empfahl O. seinem Kollegen Z., mit dem Angeklagten zur Polizei zu fahren, um dessen Personalien feststellen zu lassen; alternativ solle er mit dem Angeklagten zu einer Tankstelle fahren, wo dieser mit der Bankkarte Geld beschaffen solle. Dann entfernte sich O. Z. fuhr los, hielt aber nach wenigen Metern wieder an, um die Situation erneut mit dem Angeklagten zu besprechen.

Der Angeklagte fasste nun spontan den Entschluss, den Taxifahrer mit dem bisher verborgenen Küchenmesser anzugreifen. Ein Motiv dafür vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Der Angeklagte zog das Messer aus dem Hosenbund und versetzte Z. eine Reihe von Stich- und Schnittverletzungen im Gesicht, am Hals und am Oberkörper, um diesen zu töten. Der Geschädigte hatte nicht mit einem Angriff auf sein Leben gerechnet. Er erlitt zwanzig Stich- und Schnittverletzungen, wobei ihm unter anderem die linke Schlüsselbeinschlagader durchtrennt wurde. Es gelang ihm zwar noch, die Fahrertür zu öffnen, aus dem Taxi auszusteigen und um Hilfe zu rufen; dann aber brach er zusammen und verstarb alsbald, während der Angeklagte zu Fuß floh.

2. Das Landgericht hat die Tat als heimtückisch begangenen Mord gewertet. Die Arg- und Wehrlosigkeit des Taxifahrers habe der Angeklagte bewusst zu der mit direktem Tötungsvorsatz begangenen Tat ausgenutzt. Zwar leide er nicht ausschließbar an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung und habe spontan gehandelt. Jedoch habe die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers angesichts der Tatsituation derart auf der Hand gelegen, dass der Angeklagte sie auch in sein Bewusstsein aufgenommen habe. Weder seine Alkoholisierung, noch sein spontaner Tatentschluss oder die Persönlichkeitsstörung gäben Anlass zu einer anderen Bewertung des Ausnutzungsbewusstseins. Die Persönlichkeitsstörung habe jedoch im Zusammenwirken mit der Alkoholisierung bei einer Blutalkoholkonzentration von maximal 2,45 Promille zur Tatzeit nicht ausschließbar eine erhebliche Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens zur Folge gehabt, welche die Anwendung von § 21 StGB rechtfertige.

II.

Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Schuld- und Strafausspruch weisen keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Dies gilt auch für die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe die Arg- und Wehrlosigkeit des Angeklagten bewusst zu dessen Tötung ausgenutzt und daher das Tatopfer im Sinne von § 211 Abs. 2 StGB heimtückisch getötet.

1. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, dass der Täter diese in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen. Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 ? 5 StR 580/17, NStZ 2019, 26, 27). Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat (vgl. BGH, Urteil vom 31. Juli 2014 - 4 StR 147/14, StraFo 2014, 433 f.; Urteil vom 29. Januar 2015 - 4 StR 433/14, NStZ 2015, 392, 393). Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontaneität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angeklagten nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Maßgeblich sind die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit (vgl. Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 117/14, NStZ 2014, 639).

2. Bei der Beurteilung der subjektiven Voraussetzungen der Heimtücke handelt es sich um eine vom Tatgericht zu bewertende Tatfrage, die nur in eingeschränktem Maß der revisionsgerichtlichen Kontrolle zugänglich ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. Dezember 2012 ? 5 StR 438/12, NStZ 2013, 232, 233; Urteil vom 29. Januar 2015 ? 4 StR 433/14, NStZ 2015, 392, 393). Die Nachprüfung ergibt keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass auch die Beeinträchtigungen des Angeklagten durch eine Persönlichkeitsstörung und seine Alkoholisierung jedenfalls die kognitiven Fähigkeiten nicht erheblich beeinflusst hatten.

Dagegen ist rechtlich nichts zu erinnern. Die Strafkammer hat angesichts des Verhaltens des Angeklagten vor der Tat bei seinen verschiedenen Versuchen, das Zahlungsproblem auszuräumen, rechtsfehlerfrei angenommen, die Alkoholisierung des Angeklagten habe sich nicht auf seine Unrechtseinsicht ausgewirkt. Einen schwerwiegenden Affekt hat sie vor allem mangels charakteristischen Affektauf- und -abbaus verneint. Schließlich hat die Strafkammer festgestellt, die zur Tatzeit gegebene kombinierte Persönlichkeitsstörung des Angeklagten habe sich nicht auf sein Bewusstsein, sondern nur auf das Hemmungsvermögen ausgewirkt.

III.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist ebenfalls unbegründet. Die Anwendung des § 21 StGB durch das Landgericht ist rechtlich nicht zu beanstanden.

1. Die Einordnung des psychischen Befundes beim Angeklagten zur Tatzeit als eine nicht ausschließbare schwere andere seelische Abartigkeit ist rechtsfehlerfrei.

a) Bei der „Persönlichkeitsstörung“ handelt es sich um einen Oberbegriff zu verschiedenen Varianten, die unterschiedliches Gewicht haben. Diese reichen von einer Vielzahl normalpsychologisch wirkender Ausprägungen des Empfindens und Verhaltens bis zu einer abnormen Persönlichkeit, deren Störungsgrad Krankheitswert zukommt. Gelangt der Sachverständige zur Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, ist dies noch nicht mit der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ in § 20 StGB gleichzusetzen. Vielmehr sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 52).

Das Landgericht ist der Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen gefolgt, bei dem Angeklagten habe sich das Bild einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung mit dominant paranoiden, schizoiden und dissozialen Wesenszügen sowie narzisstischen Merkmalen ergeben. Die Sachverständige hat weiter erläutert, der Angeklagte neige zu Jähzorn, wenn er auf Ablehnung, Versagung, Beleidigung oder Provokation stoße. Es bestehe eine ausgeprägte Störung der Affektregulation mit der Folge von kognitiven Verzerrungen, aus denen sich Impulshandlungen ergäben. Aus psychiatrischer Sicht sei von einem Grenzfall auszugehen, bei dem das Vorliegen des Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit jedenfalls nicht auszuschließen sei. Die Störung weise eine Beziehung zur Tat auf, weil diese vor dem Hintergrund eines neurotischen Konflikts infolge der Zurückweisung des Angeklagten durch die Personen begangen wurde, mit denen er Kontakt aufnehmen wollte, ferner, weil die Tat abrupt und ohne Sicherungstendenzen sowie in einer affektiven Erregung begangen worden sei. Die Alkoholisierung bei einem Blutalkoholgehalt von bis zu 2,45 Promille zur Tatzeit komme als konstellativer Faktor hinzu.

b) Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht auf dieser Grundlage das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB jedenfalls nicht sicher ausschließen konnte.

Im Anschluss an die psychiatrische Literatur nennt die Rechtsprechung verschiedene Voraussetzungen für eine schwere andere seelische Abartigkeit, unter anderem das Hervorgehen der Tat aus neurotischen Konflikten, eine konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor der Tat, ein abrupter Tatablauf, das Vorliegen konstellativer Faktoren, wie Alkoholisierung, Ermüdung und affektive Erregung. Als gegenläufige Indizien können im Einzelfall eine Tatvorbereitung, planmäßiges Vorgehen, die Fähigkeit zu warten, ein komplexer Handlungsablauf, eine Vorsorge gegen Entdeckung, die Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen oder das Hervorgehen des Delikts aus dissozialen Charakterzügen in Betracht kommen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53). Die Kriterien müssen im Einzelfall nicht sämtlich vorliegen, sie können auch über längere Zeitspannen hinweg variieren. Zudem können sie sehr unterschiedliches Gewicht haben. Maßgebend ist daher eine Gesamtschau aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls.

Nach den Urteilsgründen hat das sachverständig beratene Landgericht eine solche Gesamtwürdigung anhand anerkannter Maßstäbe vorgenommen. So ist seine Annahme, festgestellte frühere Aggressionshandlungen des Angeklagten und die abzuurteilende Tat ließen prinzipiell ein durchgehendes Verhaltensmuster erkennen, rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat dabei nicht übersehen, dass die früheren Aggressionsdurchbrüche andere Ursachen hatten.

Wenn die Beschwerdeführerin beanstandet, das Landgericht habe nicht gewürdigt, dass der Angeklagte die Tat vorher konstelliert habe, weil das Mitführen des Messers keinem anderen Zweck gedient haben könne, als dem Einsatz gegen Menschen, setzt sie letztlich ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Tatgerichts. Dieses konnte den Grund für das Mitführen des Messers durch den Angeklagten nicht feststellen und hat rechtsfehlerfrei erläutert, warum ihm eine solche sichere Feststellung nicht möglich war.

Auch dass der Angeklagte vor der Tat Krafttraining betrieben, danach in emotional unauffälliger Weise mit Bekannten Kontakt aufgenommen hatte, der Geschädigte ihm anschließend freundlich begegnete und der Zeuge O. keine emotionalen Auffälligkeiten bemerkt hatte, steht der Annahme des Landgerichts, der stark alkoholisierte Angeklagte habe die Tat nach dem erneuten Anhalten des Taxis in einer dann plötzlich aufwallenden affektiven Erregung abrupt begangen, von Rechts wegen nicht entgegen. Der nach dem erneuten Anhalten des Taxis spontan getroffene Tatentschluss korrespondiert mit der festgestellten Neigung des Angeklagten zu irrational erscheinender, auf plötzlichem Jähzorn beruhender Aggressivität.

Das Ausbleiben von Gewalthandlungen des Angeklagten während der vorläufigen Unterbringung nach der Tat schließt, wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 7. Juni 2017 - 2 StR 474/16 (NStZ-RR 2017, 368, 369) ausgeführt hat, das Vorliegen einer erheblichen Persönlichkeitsstörung bei der Tatbegehung nicht aus.

2. Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage, die der Tatrichter in eigener Verantwortung unter wertender Betrachtung der Gesamtumstände zu beantworten hat (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 53). Es ist kein „Zirkelschluss“, wenn das Landgericht dem Vorliegen einer „schweren“ anderen seelischen Abartigkeit einen Hinweis auf deren Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB entnommen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2001 - 5 StR 3/01, StraFo 2001, 249 f.). Wird nämlich eine „schwere“ andere seelische Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB festgestellt, die nicht bei jeder Persönlichkeitsstörung vorliegt und nur in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Täter vergleichbar schwer belasten oder einengen, wie krankhafte seelische Störungen, liegt es nahe, der konkreten Ausprägung der Persönlichkeitsstörung im Einzelfall auch die Wirkung einer „erheblichen“ Verminderung der Schuldfähigkeit beizumessen (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1996 ? 5 StR 524/95, NStZ 1996, 318; Beschluss vom 22. August 2001 ? 1 StR 316/01, StV 2002, 17 f.).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 690

Externe Fundstellen: NStZ 2019, 520

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner