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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 3/01, Beschluss v. 20.02.2001, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 5 StR 3/01 - Beschluß v. 20. Februar 2001 (LG Hamburg)

Narzißtische Persönlichkeitsstörung; Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit; Schuldfähigkeit beeinträchtigender Affektdurchbruch bei Begehung der Tat; Schwere andere seelische Abartigkeit

§ 20 StGB; § 21 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wird eine "schwere" andere seelische Abartigkeit festgestellt, die als Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit nach dem Gesetz jeweils nur dann in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Täter vergleichbar schwer stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (BGHSt 37, 397, 401), so liegt es nahe, dieser Form der Persönlichkeitsstörung - sofern sie zu keinem Ausschluß der Schuldfähigkeit führt - die Wirkung einer von § 21 StGB geforderten "erheblichen" Verminderung der Schuldfähigkeit zuzurechnen (BGHR StGB § 21 - seelische Abartigkeit 10, 20, 23; BGH NStZ 1996, 380). Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein motivischer Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Tatgeschehen besteht (Bearbeiter).

2. Daß der Angeklagte überlegt und zielgerichtet gehandelt hat, schließt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht aus. Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach seinen Willensentschluß zu bilden (Bearbeiter).

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 13. Oktober 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie ist zum Schuldspruch unbegründet gemäß § 349 Abs. 2 StPO. Jedoch hält der Rechtsfolgenausspruch rechtlicher Prüfung nicht stand, soweit das Landgericht die uneingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten bejaht hat.

1. Die Strafkammer hat sich hierbei auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen gestützt, der zwar das Vorliegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit in Form einer manifesten narzißtischen Persönlichkeitsstörung bejaht, eine hierauf beruhende erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten jedoch ausgeschlossen hat, da ein die Schuldfähigkeit beeinträchtigender Affektdurchbruch bei Begehung der Tat im Ergebnis zu verneinen sei. Wenngleich auch mehrere Anzeichen auf einen möglichen Affektdurchbruch hindeuteten, so sprächen doch die lange Planung, der komplexe Handlungsablauf und das umsichtige Nachtatverhalten des Angeklagten für den Erhalt seiner Steuerungsfähigkeit.

2. Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Wird eine "schwere" andere seelische Abartigkeit festgestellt, die als Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit nach dem Gesetz jeweils nur dann in Betracht kommt, wenn Symptome von beträchtlichem Gewicht vorliegen, deren Folgen den Täter vergleichbar schwer stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (BGHSt 37, 397, 401), so liegt es nahe, dieser Form der Persönlichkeitsstörung - sofern sie zu keinem Ausschluß der Schuldfähigkeit führt - die Wirkung einer von § 21 StGB geforderten "erheblichen" Verminderung der Schuldfähigkeit zuzurechnen (BGHR StGB § 21 - seelische Abartigkeit 10, 20, 23; BGH NStZ 1996, 380). Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein motivischer Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Tatgeschehen besteht (vgl. Rasch StV 1991, 126, 130).

a) Als er den Entschluß faßte, die Zeugin W zu überfallen, befand sich der 43-jährige, ehemals gut situierte Angeklagte in einer desolaten Situation. Nach den Feststellungen war er völlig mittellos, erheblich unterernährt, drohte obdachlos zu werden - die zwangsweise Räumung seiner Wohnung stand unmittelbar bevor - und verfügte über keine erkennbaren familiären oder sonstigen Bindungen. In Verkennung der Realität war er infolge seiner als schwere andere seelische Abartigkeit eingestuften narzißtischen Persönlichkeitsstörung davon überzeugt, daß er Opfer von Behördenwillkür geworden sei und daß für seinen sozialen Abstieg Behördenvertreter, insbesondere die für ihn zuständige Sachbearbeiterin des Sozialamtes, die Zeugin W, verantwortlich seien. Diese hatte nach vielen fruchtlosen Ermahnungen, den für den Bezug von Sozialhilfe erforderlichen Mitwirkungspflichten (Nachweis über persönliche Arbeitsbemühungen, Meldung bei der Arbeitsvermittlung, Einhalten von Terminen) nachzukommen, schließlich die Einstellung der Sozialhilfe an den Angeklagten angeordnet und die behördlichen Mietzahlungen storniert. Wegen ihrer in seinen Augen insgesamt feindseligen und unangemessenen Haltung wollte der Angeklagte sich an der Zeugin rächen. Sein Ziel war es, ihr eine Lehre zu erteilen, daß sie so nicht mit ihm umspringen könne. Überdies beabsichtigte er ein Zeichen zu setzen, und durch eine Tat, die nicht als "dummer Jugendstreich" gewertet werden könne, auf seine Misere aufmerksam zu machen (UA S. 27). Am Tage der Zwangsräumung suchte er das Dienstzimmer der Zeugin auf, und verlangte von ihr unter Vorhalt eines geladenen Revolvers die Herausgabe ihrer Geldbörse und der Kassengelder des Sozialamtes. Als die Zeugin dieser Forderung nicht nachkam und sich wortlos anschickte, das Zimmer zu verlassen, stieg in dem Angeklagten ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit auf, möglicherweise fühlte er sich auch beschämt, weil sein Vorhaben mißlungen war. Das Verhalten der Zeugin bewertete er als weiteren Beweis für ihren von ihm so oft beklagten Mangel an sozialer Kompetenz (UA S. 30, 31). Aufgrund eines neuen Tatentschlusses gab er nunmehr aus einer Entfernung von ein bis zwei Metern drei Schüsse auf die Zeugin ab, um seiner Enttäuschung über ihr Verhalten Ausdruck zu verleihen und sie zu bestrafen (UA S. 31). Die Zeugin erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Nach der Tat entledigte sich der Angeklagte der Waffe und stellte sich wenige Stunden später der Polizei.

b) Auch unter Berücksichtigung der im Urteil ausführlich dargelegten Vorgeschichte, die zahlreiche Verhaltensauffälligkeiten des Angeklagten aufzeigt, und mit Blick darauf, daß die festgestellte psychische Störung des Angeklagten erkennbar auch in dem Tatgeschehen zum Ausdruck gekommen ist, hätte das Landgericht die von ihm vertretene Auffassung, daß trotz der Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit keine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit gegeben war, näher erläutern müssen. Die vom Landgericht angeführte Begründung, daß ein Affektdurchbruch im Ergebnis nicht vorgelegen habe, geht fehl. Hier war nämlich in erster Linie zu prüfen, ob der Angeklagte allein infolge seiner abnormen Persönlichkeit in der fraglichen Zeit einem zur Tat führenden starken Motivationsdruck ausgesetzt war, wie er sonst in vergleichbaren Situationen bei anderen Straftätern nicht vorhanden ist, und ob dadurch seine Fähigkeit, sich normgerecht zu verhalten, deutlich vermindert war (vgl. BGHR StGB § 21 - seelische Abartigkeit 14). Daß der Angeklagte überlegt und zielgerichtet gehandelt hat, schließt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht aus (vgl. BGHR StGB aaO 10, 14, 23). Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach seinen Willensentschluß zu bilden (vgl. BGHR StGB aaO 14).

3. Der Senat schließt aus, daß in der neuen Hauptverhandlung die Prüfung der Schuldfähigkeit zu dem Ergebnis führen wird, daß Schuldunfähigkeit anzunehmen oder nicht auszuschließen sei. Er hebt deshalb nur den Strafausspruch auf. Sollte die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer die Voraussetzungen des § 21 StGB bejahen, so wird auch die Frage zu prüfen sein, ob eine Unterbringung des Angeklagten nach § 63 StGB anzuordnen ist; das Verschlechterungsverbot würde dem nicht entgegenstehen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO).

Bearbeiter: Karsten Gaede