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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 56

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 397/18, Beschluss v. 10.10.2018, HRRS 2019 Nr. 56


BGH 4 StR 397/18 - Beschluss vom 10. Oktober 2018 (LG Detmold)

Versuch (Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch; Korrektur des Rücktrittshorizonts bei versuchten Tötungsdelikten); Vorsatz (bedingter Tötungsvorsatz: Anforderungen an Darlegung und Begründung).

§ 15 StGB; § 22 StGB; § 24 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein beendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont).

2. Je nach den Umständen des Falles ist - in engen zeitlichen Grenzen - eine Korrektur dieses Rücktrittshorizonts möglich. Der Versuch eines Tötungsdelikts ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber „nach alsbaldiger Erkenntnis seines Irrtums“ von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt. Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf insbesondere dann ausdrücklicher Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch - vom Täter wahrgenommen - zu körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Tatopfer sei bereits tödlich verletzt. So liegt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs etwa in dem Fall, in dem das Opfer noch in der Lage ist, sich vom Tatort wegzubewegen. Ein solcher Umstand kann geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs Erforderliche getan zu haben.

3. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen zwar nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, rechnet und, weil er gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt, einen solchen Erfolg auch billigend in Kauf nimmt. Deshalb ist in derartigen Fällen der Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Handlungen des Täters auf bedingten Tötungsvorsatz grundsätzlich möglich. Jedoch kann insbesondere bei einer spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Einzelhandlung aus dem Wissen von einem möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Persönlichkeit des Täters und der Tat ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist. Denkbar ist daher, dass einem Täter trotz Kenntnis von der das Leben seines Opfers gefährdenden Behandlung - etwa infolge einer psychischen Beeinträchtigung - gleichwohl nicht bewusst ist, dass sein Tun zum Tod des Opfers führen kann oder dass er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 25. April 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes und wegen versuchten Totschlags, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat in vollem Umfang Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der mit den Nebenklägern, dem A. und seiner Ehefrau, der S., eng befreundete Angeklagte vermutete im Herbst 2017, er werde von A. im Zusammenhang mit dem Transfer seiner (des Angeklagten) Ersparnisse in Höhe von etwa 12.000 € von Libyen nach Deutschland hintergangen. Beim Angeklagten verfestigte sich die Vorstellung, A. plane, ihn um sein Geld zu bringen. Während er den freundschaftlichen Kontakt zu den Nebenklägern äußerlich uneingeschränkt aufrecht erhielt und A. gegenüber von seinem Verdacht nichts verlauten ließ, plante er insgeheim, diesem einen „Denkzettel zu verpassen“. Am Abend des 26. November 2017 schlug der Angeklagte am Ende eines freundschaftlich verlaufenen Treffens mit den Nebenklägern in deren Wohnung dem Geschädigten A. mindestens dreimal unvermittelt mit einem von zu Hause mitgebrachten und bis dahin verborgen gehaltenen Hackmesser wuchtig auf den Kopf, bis dieser, bewusstlos und aus seinen Kopfverletzungen stark blutend, zu Boden ging. Die hinzugekommene Geschädigte S. schrie bei diesem Anblick um Hilfe, woraufhin der Angeklagte über den weiterhin bewusstlos am Boden liegenden Geschädigten A. stieg und der flüchtenden Nebenklägerin S. mit dem Hackmesser in der erhobenen Hand auf den Balkon nachsetzte. Von seiner Wut über den vermeintlichen Verrat seines Freundes A. und der Erschütterung über seine vorangegangene Tat übermannt, schlug der Angeklagte nunmehr in einem Zustand hochgradiger affektiver Erregung der Nebenklägerin ebenfalls mit einer Kante des Hackmessers mindestens zweimal kraftvoll auf den Kopf und verletzte sie ferner mit Messerhieben am rechten Arm. Dem in der Zwischenzeit wieder zu sich gekommenen und auf den Balkon gelaufenen Nebenkläger A. gelang es, die Hand des Angeklagten mit dem Messer festzuhalten und diesen von der Nebenklägerin S. wegzuziehen. A. nahm dem Angeklagten sodann das Messer aus der Hand und führte ihn aus der Wohnung.

2. Das Landgericht hat angenommen, der Angeklagte habe zum Nachteil beider Nebenkläger, jeweils bedingt vorsätzlich, den Tatbestand eines versuchten Tötungsdelikts (in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung) verwirklicht. Bei der Tat zum Nachteil des A. sei zudem das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Es sei von einem beendeten Versuch auszugehen, von dem der Angeklagte auch nicht strafbefreiend zurückgetreten sei. Nachdem A. schwer getroffen und bewusstlos zu Boden gesunken sei, sei dem Angeklagten die Möglichkeit bewusst gewesen, dass der Geschädigte bereits tödliche Verletzungen erlitten hatte. Beim - unbeendeten - Versuch des Totschlags zum Nachteil der Geschädigten S. fehle es an der erforderlichen Freiwilligkeit; A. habe ihn an der weiteren Tatausführung gehindert.

Die Strafkammer ist ferner davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (erst) im Zeitpunkt seines Angriffs auf die Geschädigte S. wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung in Gestalt eines Affekts erheblich vermindert gewesen sei.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten hält in mehrfacher Hinsicht rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Die Annahme des Landgerichts, die Tat zum Nachteil des Nebenklägers A. sei als beendeter Versuch eines Tötungsdelikts zu werten, von dem der Angeklagte in Ermangelung von Rettungsbemühungen nicht zurückgetreten sei, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild des Angeklagten sind in einem entscheidenden Punkt lückenhaft.

a) Ein beendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227). Je nach den Umständen des Falles ist - in engen zeitlichen Grenzen - eine Korrektur dieses Rücktrittshorizonts möglich. Der Versuch eines Tötungsdelikts ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber „nach alsbaldiger Erkenntnis seines Irrtums“ von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt. Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf insbesondere dann ausdrücklicher Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch - vom Täter wahrgenommen - zu körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Tatopfer sei bereits tödlich verletzt (BGH, Beschluss vom 7. November 2001 - 2 StR 428/01, NStZ-RR 2002, 73, 74; Urteile vom 6. März 2013 - 5 StR 526/12, NStZ 2013, 463; und vom 17. Juli 2014 - 4 StR 159/14, NStZ 2014, 569, 570). So liegt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs etwa in dem Fall, in dem das Opfer noch in der Lage ist, sich vom Tatort wegzubewegen (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2000 - 4 StR 525/00; Urteile vom 11. November 2004 - 4 StR 349/04, NStZ 2005, 331 f.; und vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14 aaO mwN). Ein solcher Umstand kann geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs Erforderliche getan zu haben (BGH, Urteil vom 17. Juli 2014 aaO).

b) Diese zur Korrektur des Rücktrittshorizonts entwickelten Grundsätze hat das Landgericht nicht hinreichend bedacht. Die Strafkammer hat deshalb keine ausreichenden Feststellungen zu den Vorstellungen des Angeklagten getroffen, als dieser bemerkte, dass der von ihm niedergeschlagene Nebenkläger aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, sich aufrappelte, auf den Balkon lief, um seiner Frau zu helfen, und es schließlich schaffte, den Angeklagten von dieser wegzuzerren. Da sich das angefochtene Urteil zu den Vorstellungen des Angeklagten über seine Handlungsmöglichkeiten beim erneuten Auftauchen des Nebenklägers nicht verhält, bleibt offen, ob der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt weiterhin davon ausging, den Nebenkläger tödlich verletzt zu haben. Das insoweit festgestellte Geschehen konnte geeignet sein, die Vorstellung des Angeklagten, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs Erforderliche getan zu haben, zu erschüttern. Mit Blick darauf, dass es dem Nebenkläger nach den Feststellungen letztlich gelang, sich gegen den Angeklagten zur Wehr zu setzen und ihm das Messer zu entwinden, wäre ferner zu erörtern gewesen, ob dem Angeklagten nach seiner Vorstellung überhaupt noch Handlungsmöglichkeiten zur Vollendung eines Tötungsdelikts zum Nachteil des Nebenklägers A. zur Verfügung standen. Anderenfalls hätte auch ein fehlgeschlagener Versuch in Erwägung gezogen werden müssen.

2. Auch die Verurteilung des Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsdelikts zum Nachteil der Nebenklägerin S. kann nicht bestehen bleiben. Die Urteilsgründe genügen den Anforderungen nicht, die an die Darlegung und Begründung des bedingten Tötungsvorsatzes zu stellen sind.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen zwar nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit, das Opfer könne dabei zu Tode kommen, rechnet und, weil er gleichwohl sein gefährliches Handeln fortsetzt, einen solchen Erfolg auch billigend in Kauf nimmt. Deshalb ist in derartigen Fällen der Schluss von der objektiven Gefährlichkeit der Handlungen des Täters auf bedingten Tötungsvorsatz grundsätzlich möglich. Jedoch kann insbesondere bei einer spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Einzelhandlung aus dem Wissen von einem möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Persönlichkeit des Täters und der Tat ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das - selbstständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist. Denkbar ist daher, dass einem Täter trotz Kenntnis von der das Leben seines Opfers gefährdenden Behandlung - etwa infolge einer psychischen Beeinträchtigung - gleichwohl nicht bewusst ist, dass sein Tun zum Tod des Opfers führen kann oder dass er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 21. Oktober 1986 - 4 StR 563/86, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 6; Urteile vom 18. Oktober 2006 - 2 StR 340/06, NStZ 2007, 150; vom 17. Dezember 2009 - 4 StR 424/09, NStZ 2010, 571, jeweils mwN).

b) Gemessen daran hat das Landgericht den Messerangriff gegen Arme und Kopf der Nebenklägerin S. zwar rechtsfehlerfrei als objektiv gefährlich gewertet. Es hätte unter den hier gegebenen Umständen aber nicht ohne weiteres auf das voluntative Element des bedingten Tötungsvorsatzes schließen dürfen. Nach den Feststellungen war der Angeklagte im Zeitpunkt des Angriffs auf die Nebenklägerin in einen hochgradig affektiven Zustand abgeglitten und deshalb in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert. Auch wenn danach seine Einsicht in das Unrecht seines Tuns allgemein vorhanden war, bedurfte es besonderer Erörterung, ob er in seinem Zustand den möglichen Tod der Nebenklägerin als Folge seines Handelns gebilligt hat.

3. Die dargelegten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Urteils insgesamt und erfassen deshalb auch die für sich genommen rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen jeweils tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1).

III.

Der Senat bemerkt ergänzend, dass die Erwägung des Landgerichts, zu Lasten des Angeklagten falle ins Gewicht, dass die Nebenklägerin S. ihm „keinen Anlass für die Tat gegeben habe“, hier jedenfalls mit Blick auf die von der Strafkammer angenommene erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten infolge eines Affekts rechtlichen Bedenken begegnet (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 31. August 2017 - 4 StR 317/17, NStZ 2018, 102, 103 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 56

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 6 ; StV 2020, 80

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner