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HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 123

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 83/17, Urteil v. 16.11.2017, HRRS 2018 Nr. 123


BGH 3 StR 83/17 - Urteil vom 16. November 2017 (LG Lüneburg)

Sachlich-rechtlicher Mangel durch Verstoß gegen die allseitige Kognitionspflicht; sexueller Missbrauch von Jugendlichen (Ausnutzen der fehlenden Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung; Prüfung im Einzelfall; Verhältnis des Jugendlichen zum Erwachsenen).

§ 264 StPO; § 182 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ob ein Jugendlicher nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug ist, die Bedeutung und Tragweite einer konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln danach auszurichten, und somit die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung i.S.v. § 182 Abs. 3 StGB besitzt, hängt nicht allein von einer - etwa durch Retardierung im intellektuellen Bereich oder ausgeprägte soziale Fehlentwicklungen bedingten - Unfähigkeit zu sexueller Autonomie ab, sondern auch von seinem Verhältnis zu dem Erwachsenen. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischen beiden ein „Machtgefälle“ besteht, das es dem über 21-jährigen ermöglicht, den Willen des Jugendlichen - etwa durch dominantes oder manipulatives Auftreten - in unlauterer Weise zu beeinflussen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Nebenklägers M. wird das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 27. September 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte in den Fällen 1. bis 4. der Anklage freigesprochen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, sexuellen Missbrauchs von Kindern in elf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person, sowie wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit versuchter sexueller Nötigung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Nebenkläger M. (im Folgenden: der Nebenkläger) wendet sich gegen den Freispruch des Angeklagten in den Fällen 1. bis 4. der Anklage. Insoweit waren dem Angeklagten Missbrauchstaten zum Nachteil des Nebenklägers vorgeworfen worden. Dieser rügt mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen übte der Angeklagte in vier Fällen mit dem damals vierzehnjährigen Nebenkläger Analverkehr aus, wobei der Angeklagte mit seinem Glied zweimal in den Anus des Nebenklägers und dieser zweimal in den des Angeklagten eindrang. Das Landgericht sah in dem Umstand, dass der Angeklagte den Nebenkläger im wöchentlichen Rudertraining betreute, kein Obhutsverhältnis im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Ebenso wenig vermochte es festzustellen, dass der an einer „Störung aus dem Autismusspektrum“ leidende, leicht intelligenzgeminderte Nebenkläger widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Abs. 1 StGB aF war. Dies begegnet für sich keinen rechtlichen Bedenken.

2. Das Landgericht hat jedoch den festgestellten Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende allseitige Kognitionspflicht (§ 264 StPO) verstoßen. Dies stellt stets einen sachlich-rechtlichen Mangel dar (vgl. BGH, Urteil vom 16. Dezember 1982 - 4 StR 644/82, NStZ 1983, 174, 175).

a) Die umfassende gerichtliche Kognitionspflicht gebietet, dass der - durch die zugelassene Anklage abgegrenzte - Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09, NStZ 2010, 222, 223 mwN). Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 264 Rn. 10).

b) Dies hat das Landgericht unterlassen. Die Strafkammer hat das festgestellte Verhalten des Angeklagten nur daraufhin geprüft, ob er sich wegen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person nach § 179 Abs. 1 StGB aF oder wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht hat. Sie hat es aber versäumt zu prüfen, ob der Angeklagte damit den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB aF erfüllt hat, obwohl nach den Feststellungen das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift in Betracht kommt. Im Einzelnen:

aa) Nach der zur Tatzeit geltenden Fassung des § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB wird bestraft, wer - als Person über einundzwanzig Jahren - eine Person unter sechzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder von ihr an sich vornehmen lässt und dabei die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt. Ob dies der Fall ist, bedarf der konkreten Feststellung im Einzelfall (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 StR 555/07, BGHR StGB § 182 Abs. 2 Selbstbestimmungsfähigkeit 1). Ob der Jugendliche nach seiner geistigen und seelischen Entwicklung reif genug ist, die Bedeutung und Tragweite der konkreten sexuellen Handlung für seine Person angemessen zu erfassen und sein Handeln danach auszurichten (vgl. BT-Drucks. 12/4584 S. 8; ferner S/S/Eisele, StGB, 29. Aufl., § 182 Rn. 13), hängt dabei nicht allein von der - etwa durch Retardierung im intellektuellen Bereich oder ausgeprägte soziale Fehlentwicklungen bedingten (LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 182 Rn. 62) - Unfähigkeit des Jugendlichen zu sexueller Autonomie ab, sondern auch von seinem Verhältnis zu dem Erwachsenen. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwischen beiden ein „Machtgefälle“ besteht, das es dem über 21-jährigen ermöglicht, den Willen des Jugendlichen - etwa durch dominantes oder manipulatives Auftreten - in unlauterer Weise zu beeinflussen (vgl. BT-Drucks. 12/4584, S. 8; LK/Hörnle, aaO Rn. 63 ff.; S/S/Eisele, aaO; Fischer, StGB, 65. Aufl. § 182 Rn. 13; krit. MüKo StGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 182 Rn. 58). Mit der Neufassung des § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB durch das 49. Strafrechtsänderungsgesetz - Gesetz zur Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10, 12), das zum Tatzeitpunkt noch nicht in Kraft war, hat der Gesetzgeber dieses zur früheren Fassung entwickelte Erfordernis, bei der Feststellung fehlender sexueller Autonomie auch die Beziehung des Erwachsenen zu dem Jugendlichen zu bewerten, klarstellend ausdrücklich in den gesetzlichen Tatbestand aufgenommen (vgl. BT-Drucks. 18/2601, S. 29).

bb) Danach hätte das Landgericht vorliegend eine Strafbarkeit nach § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB in Betracht ziehen müssen. Den Urteilsfeststellungen lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Nebenkläger in seiner Beziehung zu dem Angeklagten zu einem selbstbestimmten sexuellen Verhalten nicht in der Lage war. Nach den Ausführungen des von der Strafkammer gehörten Sachverständigen, denen die Strafkammer offensichtlich gefolgt ist, leidet der zum Tatzeitpunkt 14-jährige Nebenkläger an einer Erkrankung aus dem Autismusspektrum und einer leichten Intelligenzminderung. Er ist deshalb nicht in der Lage, komplexe Beziehungsgeflechte zu durchschauen und manipulative Beeinflussung zu erkennen. Demgegenüber legte der Angeklagte, bei dem eine auf pubertäre Jungen gerichtete Pädophilie vorliegt, nach den Feststellungen gegenüber den von ihm im Ruderclub und anderen Vereinen betreuten Kindern und Jugendlichen manipulative Verhaltensweisen an den Tag. So baute er gezielt ein Näheverhältnis zu den jungen Vereinsmitgliedern auf, innerhalb dessen er einen körperbetonten und erotisch aufgeladenen Umgang entwickelte. Auf Zurückweisungen durch die Kinder und Jugendlichen reagierte er mit heftigen Vorwürfen und setzte sie mit der Behauptung, tödlich erkrankt zu sein und auch sonst schwere Schicksalsschläge erlitten zu haben, unter Druck. Auch zu dem elf Jahre jüngeren Nebenkläger stand der Angeklagte bereits ab dessen zwölften Lebensjahr in engem Kontakt und verhalf ihm durch die Erteilung von privatem Schwimmunterricht zur Aufnahme in den Ruderverein, wo der Nebenkläger auf den Angeklagten fokussiert war und sich von ihm im Rahmen des Trainings anleiten ließ. Auf der Grundlage dieser Feststellungen hätte die Strafkammer prüfen und entscheiden müssen, ob der Nebenkläger aufgrund von Persönlichkeitsdefiziten zu hinreichender sexueller Selbstbestimmung noch nicht in der Lage war und sich deshalb den sexuellen Wünschen des - auch in anderen Fällen - manipulativ agierenden Angeklagten nicht verschließen konnte. Allein der Umstand, dass sich der Angeklagte dem Nebenkläger nicht mehr in sexueller Hinsicht näherte, nachdem dieser geäußert hatte, keinen sexuellen Kontakt zum Angeklagten mehr zu wünschen, belegt - insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass das Landgericht ausweislich der Urteilsgründe § 182 Abs. 3 Nr. 1 StGB nicht in den Blick genommen hat - nicht hinreichend die Fähigkeit des Nebenklägers zu sexueller Selbstbestimmung zu den Tatzeitpunkten. Vielmehr hätte die Tatsache, dass die sexuellen Kontakte auf Initiative des Nebenklägers endeten, in eine Gesamtbewertung aller Indiztatsachen eingestellt werden müssen, die für bzw. gegen das Fehlen der Fähigkeit des Nebenklägers zur sexuellen Selbstbestimmung sprechen können. Das Urteil ist somit hinsichtlich der Teilfreisprüche in den Fällen 1. bis 4. der Anklage aufzuheben.

HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 123

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 75

Bearbeiter: Christian Becker