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HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 272

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 555/07, Beschluss v. 23.01.2008, HRRS 2008 Nr. 272


BGH 2 StR 555/07 - Beschluss vom 23. Januar 2008 (LG Koblenz)

Beweiswürdigung (Erinnerung einer jugendlichen Zeugin; Aussagekonstanz; Kerngeschehen).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 19. Juli 2007 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zehn Fällen, davon in neun Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen und in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Seine Revision führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils.

1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Das Landgericht hat die Verurteilung im Wesentlichen auf die Aussage der als Zeugin vernommenen, 1988 geborenen Nebenklägerin gestützt, die es als glaubhaft angesehen hat. Im Rahmen der Beweiswürdigung teilt das Urteil mit, das Verfahren sei in sechs weiteren Fällen eingestellt worden, weil die Zeugin "keine klaren und hinreichenden Erinnerungen an die Vorfälle (hatte)" (UA S. 10). Aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, in welcher Hinsicht diese Erinnerungen "nicht hinreichend" gewesen sind. Soweit der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme ausgeführt hat, es sei lediglich eine ausreichende Individualisierung von im Wesentlichen gleichartigen Serientaten nicht mehr möglich gewesen, wird diese Vermutung durch die Urteilsgründe nicht getragen. Denn das Landgericht hat etwa einen Hilfsbeweisantrag, mit dem eine Äußerung der Nebenklägerin zu ihrer (angeblichen) Entjungferung unter Beweis gestellt war, mit der Begründung zurückgewiesen, die Tatsache sei unerheblich, weil der Fall 5 der Anklage, den sie betreffe, eingestellt worden sei (UA S. 15 f.). Wenn die Zeugin aber an ein Vorkommnis, das zu ihrer Defloration (durch Geschlechtsverkehr mit ihrem Stiefvater) führte, "keine klaren und hinreichenden Erinnerungen" mehr hatte, so konnte dies für die Bewertung der Aussage insgesamt von erheblicher Bedeutung sein. Es wäre daher erforderlich gewesen, zum Fehlen klarer Erinnerungen, das zur Einstellung von sechs Anklagepunkten führte, Näheres mitzuteilen.

Rechtsfehlerhaft ist in diesem Zusammenhang auch die Erwägung des Landgerichts, die Aussagen der Nebenklägerin seien "in ihrem Kern konstant geblieben"; Abweichungen beträfen nur "Nuancen" und seien vor allem auch dadurch erklärbar, dass die Vorfälle "viele Jahre zurücklagen" und dass die Zeugin bei ihrer polizeilichen Vernehmung nervös gewesen sei und sich in einer psychischen Belastungssituation befunden habe (UA S. 11). Zum Zeitpunkt ihrer polizeilichen Aussage lagen die letzten Vorfälle erst zwei Jahre zurück. Die Abweichung bestand insbesondere auch darin, dass die Zeugin bei ihrer polizeilichen Vernehmung auf ausdrückliche Nachfrage erklärt hatte, es sei beim Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten jeweils zum Samenerguss in die Scheide gekommen; dies hat sie später nicht aufrechterhalten. Solche das Kerngeschehen unmittelbar berührenden, überdies detailliert und auf ausdrückliche Nachfrage geschilderten Einzelheiten können nicht als belanglose "Nuancen" betrachtet werden.

Fehlerhaft ist überdies auch die Erwägung des Landgerichts, die Symptome der bei der Zeugin festgestellten psychischen Erkrankung sprächen für die Wahrheit ihrer Schilderung, da sie sonst "nicht nur in der Sache selbst hätte lügen, sondern zudem auch noch psychische Schwierigkeiten hätte vortäuschen müssen (UA S. 12). Diese Erwägung ist zirkelschlüssig, denn sie setzt schon voraus, dass die psychischen Störungen der Zeugin als Folge der angeklagten Taten entstanden sind, für deren Begehung sie das Landgericht umgekehrt als Indiz werten will. Es ist aber nicht erkennbar, worauf die Annahme gestützt ist, die aufgrund eines verlesenen "Attests" eines nicht näher bezeichneten Arztes festgestellten Symptome seien als Folge von Sexualstraftaten entstanden. Ob eine Untersuchung der Nebenklägerin durch einen sachverständigen Psychiater stattgefunden hat, teilen die Urteilsgründe nicht mit.

Soweit schließlich das Landgericht ausgeführt hat, die Aussage der Nebenklägerin stehe "im völligen Einklang mit den anderen Beweismitteln" (UA S. 13), wird dies jedenfalls im Hinblick auf die wiedergegebene Aussage ihrer Schwester nicht hinreichend belegt. Diese hatte offenbar im Ermittlungsverfahren einen Vorfall beschrieben, der als Fall 16 angeklagt wurde; später hatte sie geäußert, sie sei sich nicht mehr sicher, "ob sie das Ganze wirklich so gesehen habe" (UA S. 13). Das Landgericht hat das Vorkommnis (Störung eines Missbrauchsgeschehens durch plötzliches Eintreten der Zeugin in das Zimmer ihrer Schwester) dem abgeurteilten Fall 2 zugeordnet. Der vom Landgericht betonte "völlige Einklang" zwischen der Aussage der Nebenklägerin und der ihrer Schwester ergibt sich hieraus gerade nicht.

Das Landgericht hat daher seine Überzeugung wesentlich auch auf Erwägungen zur Beweiswürdigung gestützt, die durchgreifenden rechtlichen Bedenken ausgesetzt sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei zutreffender Gewichtung und Prüfung der Beweisanzeichen zu einem für den Angeklagten günstigeren Ergebnis gelangt wäre. Das Urteil war daher insgesamt aufzuheben.

2. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die vom Landgericht bisher getroffenen Feststellungen die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen gemäß § 182 Abs. 2 Nr. 1 StGB nicht tragen. Außer dem Umstand, dass die Nebenklägerin zum Zeitpunkt der als Fälle 2 bis 10 abgeurteilten sexuellen Handlungen 14 bzw. 15 Jahre alt war, fehlt es an Feststellungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen. Das von § 182 Abs. 2 StGB vorausgesetzte Fehlen der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung ergibt sich aber nicht schon aus dem Umstand allein, dass die betroffene jugendliche Person unter 16 Jahre alt ist. Einschränkungen der Selbstbestimmungsfähigkeit sind in dieser Altersstufe zwar möglich, werden aber, anders als bei Kindern unter 14 Jahren, vom Gesetz nicht als zwingend gegeben vorausgesetzt. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts konnte die Feststellung des Fehlens sexueller Selbstbestimmungsfähigkeit in allen Fällen hier nicht allein darauf gestützt werden, dass die Nebenklägerin bis zu dem ersten Vorfall noch keine sexuellen Erfahrungen hatte. Feststellungen über die psychische Entwicklung der Zeugin zwischen ihrem 14. und 16. Lebensjahr enthält das Urteil nicht; da die Selbstbestimmungsfähigkeit einer jugendlichen Person kein statischer "Zustand" ist, sondern in der Regel raschen und gravierenden Veränderungen unterliegt, kann auf genauere Feststellungen aber nicht verzichtet werden, wenn es für die Tatbestandsvoraussetzungen des § 182 Abs. 2 StGB auf den Zustand gerade zu unterschiedlichen Tatzeitpunkten ankommt.

Es bedarf daher genauerer Feststellungen im Einzelfall (vgl. dazu Fischer StGB 55. Aufl. § 182 Rdn. 12 ff. m.w.N.).

HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 272

Externe Fundstellen: StV 2008, 238

Bearbeiter: Ulf Buermeyer