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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 2

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2316/21, Beschluss v. 24.11.2022, HRRS 2023 Nr. 2


BVerfG 2 BvR 2316/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. November 2022 (LG Berlin)

Anordnung der Fesselung bei Ausführung eines Strafgefangenen (fehlendes Rechtsschutzbedürfnis nach Erledigung mangels Darlegung eines besonders belastenden Grundrechtseingriffs; Begründungslast für das Fortbestehen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde bei Änderung der Sach- und Rechtslage).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 86 StVollzG Bln

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen betreffend die Anordnung der Justizvollzugsanstalt, ihn während einer geplanten Ausführung in eine kirchliche Begegnungsstätte zu fesseln und von uniformierten Bediensteten begleiten zu lassen, ist mangels fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, wenn die Ausführung zwischenzeitlich stattgefunden hat und der Gefangene, der während des gesamten Aufenthalts am Zielort ungefesselt war, nicht darlegt, inwieweit er gleichwohl einem besonders belastenden Grundrechtseingriff ausgesetzt war (Hauptsacheentscheidung nach Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung durch Beschluss vom 11. Januar 2022 [= HRRS 2022 Nr. 142]).

2. Bei Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur dann fort, wenn entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt.

3. Den Beschwerdeführer trifft bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage eine Begründungslast für das Fortbestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Der inhaftierte Beschwerdeführer wandte sich fachgerichtlich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen seine Fesselung im Rahmen einer Ausführung sowie dagegen, dass die ihn begleitenden Beamten Uniform tragen.

I.

1. Der Beschwerdeführer verbüßt eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Tegel, Berlin, mit im Anschluss notierter Sicherungsverwahrung. Laut Fortschreibung des Vollzugs- und Eingliederungsplans vom 20. September 2021 ist der Beschwerdeführer aufgrund bestehender Missbrauchsgefahr für Vollzugslockerungen und Langzeitausgänge nicht geeignet. Zu einer möglichen Fluchtgefahr verhält sich der Vollzugs- und Eingliederungsplan nicht.

2. Am 13. Dezember 2021 beantragte der Beschwerdeführer im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beim Landgericht Berlin, der Justizvollzugsanstalt zu untersagen, ihn bei einer für den 13. Januar 2022 in eine kirchliche Begegnungsstätte geplanten Ausführung zu fesseln sowie dass die ihn begleitenden Beamten Dienstuniform tragen. Nach dem Vollzugsplan vom 20. September 2021 bestehe keine Fluchtgefahr. Die bisherigen Ausführungen seien beanstandungsfrei verlaufen.

3. Mit angegriffenem Beschluss vom 23. Dezember 2021, dem Beschwerdeführer am 29. Dezember 2021 zugestellt, verwarf das Landgericht Berlin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, weil eine vorläufige Zustandsregelung weder zur Abwendung eines dem Beschwerdeführer drohenden unverhältnismäßigen Nachteils noch aus anderen vorgreiflichen Gründen geboten erscheine.

II.

1. Mit am 31. Dezember 2021 fristgemäß erhobener Verfassungsbeschwerde, die der Beschwerdeführer mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, rügt er eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.

2. Mit Beschluss vom 11. Januar 2022 hat die 1. Kammer des Zweiten Senats den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, da sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht ergeben habe, dass eine einstweilige Anordnung zur Abwehr schwerer Nachteile geeignet und dringend geboten gewesen sei.

3. Die Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung Berlin hat von einer Stellungnahme abgesehen.

4. Die Akte des fachgerichtlichen Verfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Sie ist unzulässig.

1. a) Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes oder jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit vorliegt (vgl. BVerfGE 81, 138 <140>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>). Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fortbestehen (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 33, 247 <253>; 50, 244 <247>; 56, 99 <106>; 72, 1 <5>; 81, 138 <140>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>; stRspr).

Ein Beschwerdeführer ist angehalten, seine Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls auch nachträglich zu ergänzen (vgl. BVerfGE 106, 210 <214 f.>; 158, 170 <194 Rn. 57>). Ihn trifft eine aus § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG fließende Begründungslast für das (Fort-)Bestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Oktober 2021 - 1 BvR 1416/17 -, Rn. 7).

b) Dieser Begründungslast ist der Beschwerdeführer nicht nachgekommen. Aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde geht nicht hervor, dass noch ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Die Ausführung hat zwischenzeitlich stattgefunden; es ist somit Erledigung eingetreten.

2. a) Auch ein ausnahmsweise fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich aus dem Vortrag des Beschwerdeführers nicht. Der Umstand, dass die Fachgerichte und das Bundesverfassungsgericht häufig außerstande sind, schwierige Rechtsfragen in kurzer Zeit zu entscheiden, darf grundsätzlich nicht dazu führen, dass eine Verfassungsbeschwerde allein wegen des vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Zeitablaufs als unzulässig verworfen wird (vgl. BVerfGE 74, 163 <172 f.>; 76, 1 <38 f.>; 81, 138 <141>). Bei Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens besteht das Rechtsschutzbedürfnis deshalb fort, wenn entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 f.>; 69, 161 <168>; 81, 138 <140>; 139, 245 <263 f. Rn. 53>; 146, 294 <308 f. Rn. 24>; stRspr).

b) Eine andauernde oder besonders belastende Beeinträchtigung durch die durchgeführte Ausführung hat der Beschwerdeführer weder dargetan noch ist eine solche sonst ersichtlich. Nach unwidersprochenen Angaben der Justizvollzugsanstalt im fachgerichtlichen Verfahren ist der Beschwerdeführer bei Durchführung der Ausführung am 13. Januar 2022 in der kirchlichen Begegnungsstätte während des gesamten Aufenthalts entfesselt worden. Zum tatsächlichen Ablauf der Ausführung und zur Intensität etwaiger tatsächlich erfolgter Grundrechtseingriffe trägt der Beschwerdeführer nicht vor.

3. Im Übrigen wird eine Verletzung von Grundrechten, insbesondere von Art. 19 Abs. 4 GG, durch den angegriffenen Beschluss nicht substantiiert dargelegt. Die Auslegung des Antragsbegehrens und Prüfung anhand der Voraussetzungen der § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG, § 123 Abs. 1 VwGO ist vertretbar und begegnet nach eingehender erneuter Prüfung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 2

Bearbeiter: Holger Mann