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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1071

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1713/21, Beschluss v. 11.10.2021, HRRS 2021 Nr. 1071


BVerfG 2 BvR 1713/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Oktober 2021 (OLG Düsseldorf)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung nach Schweden aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (unionsgrundrechtliches Recht auf körperliche Unversehrtheit; gerichtliche Aufklärungspflicht; mögliche Exazerbation einer paranoiden Schizophrenie des Verfolgten aufgrund der Überstellung; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 3 Abs. 1 GRCh; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsatz des Bearbeiters

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Schweden für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 3 Abs. 1 GRCh und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht seiner Aufklärungsverpflichtung zu der Frage, welche Folgen die Überstellung und insbesondere der damit verbundene Ortswechsel für die psychische Gesundheit des an einer paranoiden Schizophrenie leidenden Verfolgten haben könnte, nicht hinreichend nachgekommen ist.

Entscheidungstenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die schwedischen Behörden wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Die - derzeit nicht vollzogene - Auslieferungshaft bleibt von der einstweiligen Anordnung unberührt.

Gründe

Zur Verfahrenssicherung wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die schwedischen Behörden gemäß § 32 Abs. 1 und Abs. 2 BVerfGG bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

1. Das Bundesverfassungsgericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

a) Die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die Überstellung des Beschwerdeführers, eines afghanischen Staatsangehörigen, in den Maßregelvollzug nach Schweden richtet, ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. In Anbetracht der bisherigen Krankengeschichte des Beschwerdeführers erscheint es vielmehr möglich, dass ihn die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 3 Abs. 1 GRCh verletzt, weil das Gericht seiner Aufklärungsverpflichtung zu der Frage, welche Folgen die Überstellung und insbesondere der damit verbundene Ortswechsel für die psychische Gesundheit des Beschwerdeführers haben könnte, nicht hinreichend nachgekommen ist.

b) Die nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer überstellt werden würde, sich später aber herausstellte, dass die Überstellung rechtswidrig war, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Überstellung einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine erfolgreiche Geltendmachung seiner Einwände gegen die Überstellung voraussichtlich nicht mehr möglich. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass es im Falle einer Überstellung zu einer Exazerbation der bestehenden paranoiden Schizophrenie mit einer damit einhergehenden erheblichen Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands kommen könnte, ohne dass ein späteres Obsiegen im Verfassungsbeschwerdeverfahren diese Rechtsbeeinträchtigung kompensieren könnte. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Überstellung als rechtmäßig erweisen, zu einem späteren Zeitpunkt an die schwedischen Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in Deutschland würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1071

Bearbeiter: Holger Mann