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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1166

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 660/20, Beschluss v. 21.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1166


BVerfG 2 BvR 660/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. September 2020 (BayObLG 1 / LG Regensburg)

Effektiver Rechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme im Strafvollzug (Geltung des Schuldgrundsatzes; gerichtliche Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung; Beiziehung von Krankenunterlagen zur Überprüfung einer geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG; § 244 Abs. 2 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die gerichtliche Bestätigung einer Disziplinarmaßnahme gegenüber einem Strafgefangenen wegen schuldhafter Verweigerung der Arbeitsaufnahme begegnet unter dem Aspekt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Strafvollstreckungskammer trotz substantiierten Vortrags des Gefangenen zu einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt und weder die Krankenakte des Gefangenen beigezogen noch eine Stellungnahme der von ihm namentlich benannten behandelnden Ärzte eingeholt hat.

2. Bei Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug handelt es sich um strafähnliche Sanktionen, für die der Schuldgrundsatz gilt. Dieser verbietet es, eine Tat ohne Schuld des Täters auf der Grundlage eines bloßen Verdachts strafend oder strafähnlich zu ahnden. Disziplinarmaßnahmen dürfen daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass dem Gefangenen ein schuldhafter Pflichtenverstoß zur Last liegt.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgelehnt.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde war nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie schon nicht innerhalb der Frist des § 93 Abs. 1 BVerfGG erhoben und im Sinne der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ausreichend begründet worden ist. Die Verfassungsbeschwerdeschrift, die angegriffenen Entscheidungen und sonstigen Unterlagen sind erst nach Ablauf der Verfassungsbeschwerdefrist am 9. April 2020 beim Bundesverfassungsgericht eingegangen.

Der Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war gemäß § 93 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG abzulehnen, da der Beschwerdeführer weder ausreichend dargelegt noch glaubhaft gemacht hat, dass er ohne Verschulden daran gehindert war, die Verfassungsbeschwerde innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG einzureichen. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags müssen sowohl der Hinderungsgrund als auch die Umstände, die für die Beurteilung des Verschuldens maßgebend sind, dargelegt werden. Erforderlich ist eine substantiierte und schlüssige Darstellung der für die unverschuldete Fristversäumnis wesentlichen Tatsachen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 2018 - 2 BvR 2126/17 -, Rn. 20 m.w.N.). Der Beschwerdeführer hat nicht ausreichend dargetan, weshalb er in der Zeit nach Zustellung des angegriffenen Beschlusses des Bayerischen Obersten Landesgerichts bis zum 31. März 2020 und in der Zeit ab dem 3. April 2020 an der Einlegung der Verfassungsbeschwerde gehindert war. Selbst unter voller Berücksichtigung der vorgetragenen Verhinderungen ab dem 31. März 2020 ist dem Beschwerdeführer nach Wegfall der Hinderungsgründe noch ausreichend Zeit verblieben, um die Verfassungsbeschwerde einzureichen.

Demnach kam es nicht darauf an, dass der Beschluss des Landgerichts verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, weil das Gericht den von der Justizvollzugsanstalt geschilderten Sachverhalt ohne nähere Begründung zugrunde gelegt und ausgeführt hat, dieser werde durch den Vortrag des Beschwerdeführers nicht erschüttert und die vom Beschwerdeführer angenommene Gesundheitsgefahr ließe sich auf tatsächlicher Basis nicht belegen, weshalb seine Weigerung, die Arbeit wieder aufzunehmen, schuldhaft sei.

Das Rechtsstaatsprinzip, die materiell berührten Grundrechte und das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG sind verletzt, wenn grundrechtseingreifende Maßnahmen im Strafvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden (BVerfGK 9, 390 <395 m.w.N.>).

Besondere Bedeutung kommt einer verlässlichen Feststellung der Tatsachen, die der Rechtsanwendung zugrunde gelegt werden, bei der gerichtlichen Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen zu. Disziplinarmaßnahmen sind strafähnliche Sanktionen, für die der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Schuldgrundsatz gilt. Dieser Grundsatz verbietet es, eine Tat ohne Schuld des Täters strafend oder strafähnlich zu ahnden. Die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme auf der Grundlage eines bloßen Verdachts stellt daher einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar. Disziplinarmaßnahmen dürfen nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei geklärt ist, ob ein schuldhafter Pflichtverstoß überhaupt vorliegt (BVerfGK 9, 390 <395 f. m.w.N.>).

Das nach § 120 Abs. 1 Satz 2 StVollzG in Verbindung mit § 244 Abs. 2 StPO zur Amtsermittlung verpflichtete Landgericht hat vorliegend aber trotz insoweit substantiierten Vortrags des Beschwerdeführers zu seiner Krankengeschichte und zu vorhergehenden Krankschreibungen sowie Behandlungsmaßnahmen keine weiteren Maßnahmen zur Sachverhaltsermittlung, wie etwa die Beiziehung der Krankenakte oder die Einholung von Stellungnahmen der den Beschwerdeführer behandelnden, namentlich benannten Ärzte, veranlasst.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1166

Bearbeiter: Holger Mann