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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1189

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 336/20, Beschluss v. 15.11.2021, HRRS 2021 Nr. 1189


BVerfG 2 BvR 336/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. November 2021 (KG / LG Berlin)

Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung (Freiheitsgrundrecht; Anforderungen an die Prognoseentscheidung; Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Schaffung einer möglichst breiten Tatsachenbasis; besondere Bedeutung von Vollzugslockerungen; selbstständige Klärung der Versagungsgründe durch das Vollstreckungsgericht; Vernehmung Anstaltspsychologin und Sozialarbeiter zum Verlauf einer Straftataufarbeitung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Fortbestehendes Feststellungsinteresse nach Entlassung aus der Strafhaft; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; § 57 Abs. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die unter anderem auf eine nicht ausreichende Erprobung des Verurteilten in selbständigen Lockerungen gestützte Ablehnung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn die Vollstreckungsgerichte davon ausgehen, dass der - erheblich vorbestrafte und früher selbst im Vollzug mehrfach rückfällig gewordene - Verurteilte zwischenzeitlich einen intensiven therapeutischen Prozess zur Straftataufarbeitung absolviert hat, ohne dessen Verlauf und Ergebnis durch Befragung der involvierten Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters aufzuklären (Hauptsacheentscheidung zum Beschluss vom 10. September 2020 [= HRRS 2021 Nr. 150]; zugleich Folgeentscheidung zum Beschluss vom 4. Juni 2020 - 2 BvR 343/19 - [= HRRS 2020 Nr. 845]).

2. Bei Entscheidungen über die Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ergeben sich aus dem Freiheitsgrundrecht insbesondere Anforderungen an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung. Danach hat das Vollstreckungsgericht die Grundlagen seiner Legalprognose selbstständig zu bewerten. Außerdem muss es sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis bemühen und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig klären, um ein umfassendes Bild über den Verurteilten zu gewinnen.

3. Vollzugslockerungen kommt für die Prognoseentscheidung besondere Bedeutung zu. Insbesondere stellt das Verhalten des Verurteilten anlässlich solcher Belastungserprobungen einen wichtigen Indikator für seine künftige Legalbewährung dar. Außerdem ermöglichen Lockerungen dem Gefangenen eine Orientierungssuche hinsichtlich seiner künftigen Lebensverhältnisse in Freiheit.

4. Will das Vollstreckungsgericht die Ablehnung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung auch auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerung stützen, darf es sich nicht mit einer - von der Vollzugsbehörde verantworteten - begrenzten Tatsachengrundlage abfinden. Ungeachtet des Standes eines möglichen Verfahrens über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat das Gericht von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Versagung von Lockerungen auf einem hinreichenden Grund beruhte.

5. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung steht wegen des mit dem Vollzug einer Freiheitsstrafe verbundenen tiefgreifenden Eingriff in das Freiheitsgrundrecht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden ist.

Entscheidungstenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 - (553 StVK) 212 Js 30/12 (210/19) - und der Beschluss des Kammergerichts vom 22. Januar 2020 - 6 Ws 205/19 - 121 AR 240/19 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die abgelehnte Aussetzung des Vollzugs einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist mehrfach wegen Betrugs, Computerbetrugs und Urkundenfälschung vorbestraft. Er befand sich seit dem 14. Oktober 2009 in Haft. Nachdem er eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten wegen gewerbsmäßigen Betrugs beziehungsweise gewerbsmäßigen Computerbetrugs und Urkundenfälschung in über hundert Fällen aus einem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 10. August 2010 verbüßt hatte, wurde seit dem 22. Juni 2019 der Rest einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten aus einem Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 18. Dezember 2012 wegen Betrugs in zwei Fällen vollstreckt.

Nach Vollverbüßung der Haftstrafe wurde der Beschwerdeführer am 18. September 2020 aus der Haft entlassen.

2. Die Ausgangsgerichte hatten bereits zuvor am 26. November 2018 (Landgericht Berlin) und am 17. Januar 2019 (Kammergericht) nach § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB über eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung entschieden. Die damaligen Entscheidungen wurden mit Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 in dem Verfahren 2 BvR 343/19 - mithin nach Ergehen der hier angegriffenen Beschlüsse - aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen gegen das aus dem Freiheitsgrundrecht folgende Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, da die Fachgerichte weder die Anstaltspsychologin noch den vormals für den Beschwerdeführer zuständigen Sozialarbeiter zu dessen Entwicklung während des Vollzugs angehört hatten, so dass ihre Prognoseentscheidung nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhte.

3. Mit angegriffenem Beschluss vom 30. Oktober 2019 lehnte das Landgericht Berlin den Antrag des Beschwerdeführers vom 25. Juni 2019 auf Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ab.

a) Diese könne unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Dem vielfach einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer könne keine günstige Prognose gestellt werden. Angesichts der Dichte und Intensität der von ihm seit 2004 begangenen Straftaten sei ein kritischer Maßstab an die Wahrscheinlichkeit des Wohlverhaltens anzulegen. Dies gelte umso mehr, als er seine Bewährungschance nicht genutzt, die hiesigen Taten während einer Haftunterbrechung begangen und ihn auch die Strafvollstreckung nicht von der Begehung weiterer Straftaten in der Haft abgehalten habe. Eine günstige Prognose setze in seinem Fall Tatsachen voraus, die es überwiegend wahrscheinlich machten, dass er die kritische Probe in Freiheit bestehe.

b) Obgleich sich der Vollzugsverlauf für ihn nunmehr positiv gestalte, bestehe derzeit keine tragfähige Tatsachenbasis, auf die sich eine entsprechende Prognose stützen ließe. Er befinde sich seit dem 26. August 2019 im offenen Vollzug, wobei sich der Vollzug beanstandungsfrei gestalte. Er führe sein Fernstudium der Wirtschaftswissenschaften fort und habe in erheblichem Umfang Maßnahmen getroffen, um den wirtschaftlichen Schaden seiner Taten zu begleichen. Auch habe er seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt T. intensive therapeutische Gespräche geführt, die zu einer Aufarbeitung seiner Straftaten geführt haben mögen. In seiner Familie bestehe zudem ein aufnahmebereiter sozialer Empfangsraum.

c) Entgegen den aktuellen Einschätzungen der Justizvollzugsanstalten seien jedoch die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB nicht gegeben. Für seine Führung in Freiheit ließen sich aus der äußerst kurzen Erprobungsphase beim bisherigen Vollzugsverlauf noch keine tragfähigen Schlüsse ziehen. Um zu belastbaren Aussagen im Hinblick auf das bestehende Rückfallrisiko zu kommen, bedürfe es einer längeren positiven Erprobung. Der Beschwerdeführer sei kein Erstverbüßer. Die hiesigen Taten seien während einer Haftunterbrechung begangen worden. Während der Haft seien weitere betrügerische Straftaten erfolgt, denen ein ganz erhebliches und planerisches Handlungsunrecht zugrunde gelegen habe.

Ob der Beschwerdeführer nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit habe, mit dem nunmehr erlernten Repertoire künftig Versuchungssituationen zu widerstehen, sei - trotz der zweifellos vorliegenden positiven Gesichtspunkte - nach Überzeugung des Gerichts anschließend an die Entscheidung vom 26. November 2018 noch offen. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung gingen Zweifel zu seinen Lasten.

4. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin am 5. November 2019 sofortige Beschwerde ein. Das Landgericht verkenne sowohl, dass Lockerungen keine grundsätzliche Voraussetzung für die Strafaussetzung seien, als auch, dass die Verzögerung der Erprobung durch Lockerungen außerhalb der Sphäre des Beschwerdeführers gelegen habe. Hinsichtlich des letzteren Aspekts liege ein gerichtlicher Aufklärungsmangel vor. Der Beschwerdeführer sei nach Einschätzung der Vollzugsbehörden austherapiert. Das Gericht sei erneut dadurch seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen, dass es weder die Anstaltspsychologin noch den früheren Sozialarbeiter angehört habe.

5. Mit Beschluss vom 22. Januar 2020 verwarf das Kammergericht die sofortige Beschwerde. Das Gericht schloss sich der Begründung des Landgerichts Berlin an und führte hinsichtlich des Beschwerdevorbringens ergänzend aus: Der Beschwerdeführer habe die Vermutung, dass der Strafvollzug den Erstverbüßer beeindrucke und von weiteren Straftaten abhalten könne, durch die Delinquenzgeschichte und die Begehung weiterer Straftaten während des Vollzugs widerlegt. Zwar gebe es eine Reihe positiver Ansätze, insbesondere habe sich der Beschwerdeführer in einer psychotherapeutischen Behandlung mit sich und seinen Taten intensiv auseinandergesetzt und die Behandlung nach Einschätzung der Anstaltspsychologin erfolgreich abgeschlossen. Sein Vollzugsverhalten sei seit geraumer Zeit frei von Beanstandungen. Schließlich werde er seit dem 24. Juli 2019 in bisher beanstandungsfrei verlaufenden Lockerungen erprobt. Die positive Entwicklung habe jedoch weitgehend unter dem Schutz des Vollzugs stattgefunden. Tragfähige Schlüsse für das Verhalten in Freiheit ließen sich daraus noch nicht ziehen. Der Beschwerdeführer sei bislang noch nicht ausreichend in Vollzugslockerungen erprobt. Gerade vor dem Hintergrund der noch während der Haft begangenen Straftaten sei es unerlässlich, dass er sich über einen längeren Zeitraum in alltagsangenäherten Belastungssituationen im Rahmen von Vollzugslockerungen bewähre. Das Gericht verkenne nicht, dass Vollzugslockerungen möglicherweise erst verspätet gewährt worden seien. Dies begründe allerdings nicht schon für sich genommen eine Reststrafenaussetzung, wenn es im Übrigen an der gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB erforderlichen günstigen Prognose fehle.

6. Gegen die Entscheidung des Kammergerichts erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 31. Januar 2020 Anhörungsrüge. Darin machte er geltend, das Kammergericht habe nicht zur Kenntnis genommen, dass die psychotherapeutische Behandlung des Beschwerdeführers diesen charakterlich stabilisiert habe. In diesem Zusammenhang habe sich das Gericht nicht mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, dass er nach den Angaben der Anstaltspsychologin durch die Unterbringung in Haus II der Justizvollzugsanstalt T. ständig in Situationen gebracht werde, die ihn in früheren Zeiten zur Begehung von Straftaten veranlasst hätten. Das Gericht hätte die Frage der charakterlichen Festigung des Beschwerdeführers durch Anhörung der Anstaltspsychologin aufklären müssen.

7. Das Kammergericht wies mit Beschluss vom 18. März 2020 die Anhörungsrüge zurück. Das Gericht habe keine Tatsachen zum Nachteil des Beschwerdeführers verwertet, zu denen sich dieser nicht habe äußern können. Insbesondere habe das Gericht in Bezug auf das Fehlen einer ausreichenden Lockerungserprobung nicht das rechtliche Gehör verletzt. Der Beschwerdeführer verkenne den für die Prognoseentscheidung geltenden Maßstab. Beim Beschwerdeführer seien aufgrund seiner, von Seiten der Justizvollzugsanstalt attestierten „ausgeprägten betrügerischen Persönlichkeit“ erhöhte Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit zu stellen. Eine dementsprechende hinreichende Behebung der Persönlichkeitsmängel sei nicht feststellbar.

II.

Mit seiner zusammen mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 1 Abs. 1 und 3, Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2, Art. 103, jeweils in Verbindung mit Art. 104 GG, sowie aus Art. 5, 6 und 8 EMRK, Art. 2 des Zusatzprotokolls 12 zur EMRK und aus Art. 1, 6, 7, 11, 14, 35, 41 und 47 GRCh.

Hinsichtlich der Begründung könne auf die im Verfahren 2 BvR 343/19 vorgetragenen Verletzungen verwiesen werden, da die gleichen Rechtsfehler vorlägen. Die Fachgerichte seien der Pflicht zur bestmöglichen Sachaufklärung nicht gerecht geworden. Das Landgericht habe trotz intensiver Hinweise weder die Anstaltspsychologin noch den früheren Sozialarbeiter angehört, obwohl hierzu Anlass bestanden hätte. Die Anstaltspsychologin hätte erschöpfend über den Abschluss der Behandlung berichten können, aufgrund derer er Handlungsmechanismen gegen die Begehung weiterer Straftaten entwickelt habe. Der bis zum 31. Oktober 2018 für ihn zuständige Sozialarbeiter hätte die Angaben der Psychologin bestätigen können. Auch eine Sozialarbeiterin von der Justizvollzugsanstalt T., die sich zu der Tatsache, dass die verspäteten Lockerungen nicht vom Beschwerdeführer zu verantworten seien, hätte äußern können, und der Teilanstaltsleiter der Justizvollzugsanstalt D. seien nicht angehört worden. Darüber hinaus wäre es notwendig gewesen, die Mitarbeiterin der Berliner Aidshilfe ergänzend anzuhören. Sie hätte sich zu den Auswirkungen des Vollzugs auf seine Gesundheit sowie zum Zusammenhang zwischen den in der Haft begangenen Taten und der Erkrankung erklären können. Schließlich wäre auch ein Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit anzuhören gewesen. Eine solche Anhörung hätte ergeben, dass das vom Beschwerdeführer begonnene Studium und sein Berufsziel nicht nur mit der Justizvollzugsanstalt T., sondern auch mit der Bundesagentur für Arbeit abgesprochen gewesen seien. Soweit das Landgericht zentral auf die kurze Zeit der Lockerung abstelle, sei bereits fehlerhaft, dass dies als zwingende Voraussetzung angesehen werde. Zudem würden die Gerichte verkennen, dass der Umstand der verspätet gewährten Lockerungen nicht zu seinen Lasten berücksichtigt werden dürfe.

III.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 10. September 2020 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mangels substantiierter Darlegung eines schweren Nachteils abgelehnt.

IV.

1. Die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung hat von ihrer Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.

2. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat sich mit Schriftsatz vom 29. September 2020 zur vorliegenden Verfassungsbeschwerde geäußert. Im Hinblick auf den Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 und die dortigen Ausführungen zu den Anforderungen des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung habe die Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg, da die Gerichte erneut von einer Anhörung der Anstaltspsychologin und des vormals zuständigen Sozialarbeiters abgesehen hätten.

3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Ermittlungsakte und das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg (115 Js 11552/08) und der Staatsanwaltschaft Arnsberg (212 Js 30/12) vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung rügt, und gibt ihr insoweit statt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 70, 297 <307, 310 f.>; 72, 105 <113 ff.>; 117, 71 <101 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 - 2 BvR 343/19 -). Die Annahme ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist in diesem Umfang zulässig und offensichtlich begründet.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer Begründung abgesehen.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich der gerügten Verletzung des Rechts auf Freiheit der Person den sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Anforderungen an eine hinreichend substantiierte Behauptung der Verletzung des Beschwerdeführers in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Haft nicht entgegen, da es sich bei deren Vollzug um einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff handelt (vgl. BVerfGE 104, 220 <234>; stRspr).

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.

1. Die Aussetzungsentscheidungen des Landgerichts Berlin und des Kammergerichts nach § 57 Abs. 1 StGB sind mit dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar.

a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass die Norm die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuieren (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).

aa) Das Bundesverfassungsgericht prüft gerichtliche Entscheidungen nur in einem eingeschränkten Umfang. Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich um die Auslegung und Anwendung von Gesetzesrecht, die Sache der Strafgerichte ist. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht daher nur daraufhin nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG verbürgten Freiheitsrechts verkannt hat (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 72, 105 <113 ff.>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2003 - 2 BvR 1661/03 -, Rn. 5 und vom 22. Oktober 2009 - 2 BvR 2549/08 -, Rn. 29).

bb) Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen richten sich im Rahmen der Prüfung des § 57 Abs. 1 StGB insbesondere an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>). Es verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Legalprognose selbstständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er sich um eine breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft (vgl. BVerfGE 70, 297 <310 f.>; ferner BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember 2003 - 2 BvR 1661/03 -, Rn. 6, vom 22. Oktober 2009 - 2 BvR 2549/08 -, Rn. 30 und vom 18. Oktober 2011 - 2 BvR 259/11 -, Rn. 6).

Dabei haben die Anforderungen an die Sachaufklärung sowohl dem Sicherheitsaspekt als auch dem hohen Wert der Freiheit des Verurteilten Rechnung zu tragen. Sie steigen mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs, mit der auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte und die mit der Sachaufklärungspflicht korrespondierende Begründungspflicht der Gerichte zunimmt (vgl. BVerfGE 117, 71 <102-104, 109>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, Rn. 27). Das Vollstreckungsgericht hat sich daher auch von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis für seine Prognoseentscheidung zu bemühen und alle prognoserelevanten Umstände besonders sorgfältig zu klären (vgl. BVerfGE 109, 133 <165>; 117, 71 <107>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, Rn. 27 m.w.N.).

cc) Für die im Aussetzungsverfahren zu treffende Prognoseentscheidung haben Vollzugslockerungen im Regelfall besondere Bedeutung, da sich so für den Richter die Basis der prognostischen Beurteilung erweitert und stabilisiert. Gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung dar (vgl. BVerfGE 109, 133 <165 f.>; 117, 71 <119>). Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu bewähren; sein hierbei an den Tag gelegtes Verhalten ist „Verhalten im Vollzug“, das der Richter bei der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen hat (vgl. § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB). Darüber hinaus machen es Vollzugslockerungen dem Gefangenen - insbesondere bei langem Freiheitsentzug - möglich, wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden. Je nach dem Erfolg dieser Orientierungssuche stellen sich seine Lebensverhältnisse und die von einer Aussetzung der Strafvollstreckung zu erwartenden Wirkungen günstiger oder ungünstiger dar. Folglich werden die Chancen, dass das Gericht, das über die Aussetzung zu entscheiden hat, zu einer zutreffenden Prognoseentscheidung gelangt, durch vorherige Gewährung von Vollzugslockerungen verbessert und umgekehrt durch deren Versagung verschlechtert (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 - Rn. 44 und vom 17. Juni 1999 - 2 BvR 867/99 -, Rn. 24; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, Rn. 30).

Daraus folgen besondere Prüfungspflichten der Gerichte im Aussetzungsverfahren. Will das Gericht die Ablehnung der Aussetzung auch auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerungen stützen, darf es sich nicht mit dem Umstand einer - von der Vollzugsbehörde verantworteten - begrenzten Tatsachengrundlage abfinden. Ungeachtet des Standes eines möglichen Verfahrens über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 Abs. 1 StVollzG hat das Gericht von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Begrenzung der Prognosebasis zu rechtfertigen ist, weil die Versagung von Lockerungen auf einem hinreichenden Grund beruhte. Kommt das Gericht dieser Prüfungspflicht nicht oder nicht hinreichend nach, entspricht die auf fehlende Erprobung gestützte Ablehnung der bedingten Entlassung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 22, 311 <318 f.>; 86, 288 <328>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08 -, Rn. 32, 35, 52 m.w.N.).

b) Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 und des Kammergerichts vom 22. Januar 2020 den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Durch den Verzicht auf die Anhörung der Anstaltspsychologin und des früheren Sozialarbeiters der Justizvollzugsanstalt T. haben die Gerichte gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung verstoßen (aa). Demgegenüber kann zur Begründung der Ablehnung der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung auch nicht auf die erst kurze Erprobung durch Lockerungsmaßnahmen verwiesen werden (bb).

aa) Aus Sicht der Gerichte steht der Strafaussetzung zur Bewährung die negative Legalprognose des Beschwerdeführers entgegen (1). Diese ist jedoch nicht auf eine möglichst breite Tatsachengrundlage gestützt (2).

(1) (a) Beide Gerichte verweisen in den angegriffenen Beschlüssen insbesondere darauf, dass der Beschwerdeführer seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt T. im August 2017 therapeutische Gespräche geführt habe. Dabei stellt das Landgericht fest, dass es sich um intensive Gespräche gehandelt habe, die beim Beschwerdeführer zu einer Aufarbeitung seiner Straftaten geführt haben mögen. Er habe sich unter anderem in einer psychotherapeutischen Behandlung mit sich und seinen Taten intensiv auseinandergesetzt und die Behandlung nach Einschätzung der Anstaltspsychologin erfolgreich abgeschlossen. Darüber hinaus weisen beide Gerichte auf ein seit geraumer Zeit beanstandungsfreies Vollzugsverhalten sowie seit dem 24. Juli 2019 laufende, bisher beanstandungsfreie Lockerungen hin. Über die Annahme des Kammergerichts hinaus nimmt das Landgericht sogar noch einen positiven sozialen Empfangsraum im familiären Bereich an.

(b) Gleichwohl gehen beide Gerichte davon aus, dass dem Beschwerdeführer keine positive Legalprognose gestellt werden könne und daher eine Strafaussetzung zur Bewährung ausscheide.

(aa) Das Landgericht verweist darauf, dass angesichts der Dichte und Intensität der seit 2004 vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten bei ihm ein kritischer Maßstab an die Wahrscheinlichkeit des Wohlverhaltens anzulegen sei, zumal ihn auch die Strafvollstreckung nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten habe. Aus der äußerst kurzen Erprobungsphase ließen sich beim bisherigen Vollzugsverlauf noch keine tragfähigen Schlüsse ziehen. Es sei offen, ob er nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit habe, mit dem nunmehr erlernten Repertoire künftig Versuchungssituationen zu widerstehen.

(bb) Das Kammergericht geht davon aus, dass trotz einer „Reihe positiver Ansätze“ die bislang erreichten Fortschritte noch nicht die Erwartung rechtfertigten, dass eine erneute Straffälligkeit wenig wahrscheinlich sei. Dies führt es insbesondere darauf zurück, dass die geschilderte Entwicklung weitgehend unter dem Schutz des Strafvollzugs stattgefunden habe und sich daraus allein noch keine tragfähigen Schlüsse für das Verhalten des Beschwerdeführers in Freiheit ziehen ließen. Sodann weist es darauf hin, dass es entgegen der Einschätzung der Justizvollzugsanstalten noch keinen hinreichenden sozialen Empfangsraum sehe, es die Zukunftsvorstellungen des Beschwerdeführers weniger zukunftstragend als dieser bewerte, die bisherigen Entschädigungsleistungen keine ausreichende Wiedergutmachung darstellten und insbesondere bislang keine ausreichende Erprobung in der Vollzugslockerung stattgefunden habe.

(2) (a) Damit haben die Gerichte jedoch dem verfassungsrechtlichen Gebot, ihre Prognoseentscheidung auf eine möglichst breite Tatsachengrundlage zu stellen und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig zu klären (vgl. BVerfGE 117, 71 <107>; 109, 133 <165>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 - 2 BvR 343/19 -, Rn. 33), nicht hinreichend Rechnung getragen. Vielmehr hätte es hierzu aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls einer Vernehmung der Anstaltspsychologin und des früheren Sozialarbeiters der Justizvollzugsanstalt T. bedurft. Insoweit kann auf die Erwägungen in dem Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 im Verfahren 2 BvR 343/19 hinsichtlich der vormaligen Beschlüsse über die Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB verwiesen werden, die auch hier zutreffend sind (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 - 2 BvR 343/19 -, Rn. 33 ff.). Es erscheint erneut zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte durch die Stellungnahmen der Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters weitere Erkenntnisse hätten gewinnen können, ob sich aufgrund des durchgeführten und als intensiv bewerteten Aufarbeitungsprozesses prognoserelevante Veränderungen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers ergeben haben. Die Vernehmung der Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters hätten weiteren Aufschluss über den Verlauf und das Ergebnis dieses Prozesses und die sich daraus ergebenden Rückwirkungen auf das Risiko der Begehung künftiger Straftaten durch den Beschwerdeführer geben können. Für einen positiven Einfluss der Behandlung spricht dabei auch die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt T., in der die Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit seinen pathogenen Persönlichkeitsanteilen und den Delikten positiv dargestellt und ihm im Ergebnis auch aufgrund des Verlaufs der Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt T. und der Straftatauseinandersetzung eine günstige Prognose gestellt wird.

Der Verweis insbesondere auf die während der Strafvollstreckung begangenen Taten genügt daher zur Begründung der negativen Legalprognose nicht, zumal der Beschwerdeführer sämtliche Straftaten während der Vollstreckung noch vor der Verlegung in die Justizvollzugsanstalt T. im August 2017 ausgeführt hat. Angesichts der nachfolgenden, unstreitig positiven Entwicklung hätte es den Gerichten oblegen, nachzufragen, ob ein Rückfall des Beschwerdeführers in frühere Verhaltensmuster weiterhin zu erwarten ist oder ob dem eine nachhaltig positive Veränderung seiner Persönlichkeit entgegensteht.

(b) Hieran vermag auch die Feststellung des Kammergerichts, dass es sich den positiven Wertungen der Justizvollzugsanstalt teilweise nicht anschließe, nichts zu ändern. Denn die dementsprechenden Angaben insbesondere zur abweichenden Bewertung des sozialen Empfangsraums und zur anderweitigen Bewertung der Berufsplanung vermögen allein angesichts der unstreitig positiven Entwicklung des Beschwerdeführers eine negative Legalprognose nicht zu tragen. Das Gleiche gilt auch für die Frage der ausreichenden Schadenswiedergutmachung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die mit der abgeschlossenen psychotherapeutischen Behandlung von erheblichem Umfang - ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt T. umfasste die Bearbeitung der Persönlichkeitsanteile 80 Stunden - erreichten Fortschritte für sich genommen eine positive Legalprognose zu stützen geeignet sind.

bb) Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Lockerungserprobung des Beschwerdeführers und insbesondere der offene Vollzug im Zeitpunkt der angegriffenen Beschlüsse erst seit kurzem durchgeführt wurden. Zwar sehen beide Gerichte diese als unverzichtbare Voraussetzung einer Bewährungsaussetzung an. Auch insoweit haben sie aber dem Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls nicht hinreichend Rechnung getragen. Die Gerichte lassen außer Betracht, dass nach dem Vortrag des Beschwerdeführers die Anstaltspsychologin hätte darlegen können, dass dieser während des Vollzugs in der Justizvollzugsanstalt T. täglich Situationen ausgesetzt gewesen sei, die zu einem früheren Zeitpunkt zu kriminellem Verhalten geführt hätten, und er aufgrund der erfolgreichen Behandlung nunmehr in der Lage sei, diesen Anreizen zu kriminellem Handeln zu widerstehen. Davon ausgehend hätte auf eine Vernehmung oder Stellungnahme der Anstaltspsychologin nicht verzichtet werden dürfen. Es erscheint angesichts des unstreitig positiven Verlaufs der Therapiegespräche nach der Verlegung des Beschwerdeführers nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Darstellung des Beschwerdeführers zutrifft. Wäre dies der Fall, käme eine positive Aussetzungsentscheidung auch ohne seine Erprobung in Lockerungsmaßnahmen möglicherweise in Betracht, zumal deren Unterbleiben von ihm nicht zu verantworten ist. Im Ergebnis fehlt es damit an der Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Klärung aller prognoserelevanten Umstände in der Person des Beschwerdeführers.

cc) Die Vernehmungen der entsprechenden Auskunftspersonen waren vorliegend auch nicht deshalb entbehrlich, weil unabhängig vom Ergebnis dieser Vernehmungen eine positive Prognose zugunsten des Beschwerdeführers sicher ausgeschlossen werden konnte.

Die Gerichte erkennen zwar, dass der Beschwerdeführer sich einer intensiven therapeutischen Behandlung unterzogen und diese nach Einschätzung der Therapeutin auch erfolgreich abgeschlossen habe. Dieser Umstand wird jedoch im Rahmen der Legalprognose nicht konkretisiert oder gewichtet, sondern bleibt letztlich außer Betracht. Stattdessen wird auf die Bedeutung eines schützenden Vollzugsumfelds und die zu kurze Erprobung in Lockerungen verwiesen. Dies vermag den Verzicht auf die gebotenen Vernehmungen nicht zu rechtfertigen.

dd) Die negative Legalprognose zulasten des Beschwerdeführers beruht folglich erneut auf dem Verstoß gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.

2. Da der Beschwerdeführer durch die Beschlüsse vom 30. Oktober 2019 und 22. Januar 2020 in seinem Freiheitsgrundrecht verletzt ist, kann dahinstehen, ob diese darüber hinaus gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen.

III.

1. Es ist daher gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 und des Kammergerichts vom 22. Januar 2020 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Von der in § 95 Abs. 2 BVerfGG vorgesehenen Aufhebung dieser Entscheidungen kann ausnahmsweise abgesehen werden, da diese inzwischen durch die Entlassung erledigt sind beziehungsweise eine den Beschwerdeführer über die Rechtsverletzung an sich hinausgehende belastende Wirkung nicht mehr entfalten (vgl. BVerfGE 36, 264 <275>; 89, 381 <394>).

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1189

Bearbeiter: Holger Mann