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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1029

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1242/20, Beschluss v. 30.07.2020, HRRS 2020 Nr. 1029


BVerfG 2 BvR 1242/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. Juli 2020 (OLG Frankfurt am Main)

Fortdauer der Auslieferungshaft (Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; verfahrensrechtliche Bedeutung des Freiheitsgrundrechts; erhöhte Begründungsanforderungen an Haftentscheidungen; Eigenkontrolle durch das Fachgericht; zeitnahe Durchführbarkeit der Auslieferungen trotz Quarantänebestimmungen aufgrund der Corona-Pandemie); Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung; konkreter Verfahrensbezug der Vollmacht).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; § 15 Abs. 1 IRG; § 22 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Fortdauer der Auslieferungshaft genügt nicht den Begründungsanforderungen, wenn sie sich nicht mit den Erwägungen in dem angegriffenen Beschluss auseinandersetzt, wonach die Auswirkungen der weltweiten Corona-Pandemie nicht in den Verantwortungsbereich der beteiligten Staaten fallen und wonach etwaige Quarantänebestimmungen einer zeitnahen Auslieferung voraussichtlich nicht entgegen stehen.

2. Die Auslieferungshaft unterliegt von Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Ab einer gewissen, für die verfahrensmäßige und technische Abwicklung unabdingbaren Mindestdauer bedarf es besonderer, das Auslieferungsverfahren selbst betreffender Gründe, um die Fortdauer der Auslieferungshaft zu rechtfertigen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt deren Dauer Grenzen.

3. Der Grundrechtsschutz ist auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Haft aktuelle Ausführungen zum (weiteren) Vorliegen ihrer rechtlichen Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten. Dies dient neben der Überprüfbarkeit für den Betroffenen auch der Eigenkontrolle durch das Fachgericht.

4. Die Vollmacht zur Vertretung im Verfassungsbeschwerdeverfahren muss sich ausdrücklich auf das konkrete Verfahren oder den angegriffenen Beschluss beziehen.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer eine Verletzung in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten durch den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt nicht hinreichend substantiiert dargelegt hat.

Voraussetzung ist insoweit, dass sich der Beschwerdeführer mit der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzt und ihre Verfassungswidrigkeit im Einzelnen darlegt. Hierzu zählt auch die Darlegung, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 99, 84 <87>). In Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Rechtsfrage bereits entschieden hat, ist diese Darlegung auf Grundlage der entsprechenden Rechtsprechung und der darin gebildeten Maßstäbe vorzunehmen (vgl. BVerfGE 77, 170 <214 ff.>; 79, 292 <301>; 99, 84 <87>; BVerfGK 15, 570 <574>; stRspr).

Die Auslieferungshaft ist im Zusammenhang mit dem Gewicht des Tatvorwurfs zu sehen, unterliegt jedoch dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Ab einer gewissen, für die verfahrensmäßige und technische Abwicklung der notwendigen Entscheidungen unabdingbaren Mindestdauer des Verfahrens müssen besondere, das Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe vorliegen, um die weitere Vollstreckung der Auslieferungshaft zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 61, 28 <34>). Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt der Dauer der Auslieferungshaft Grenzen (vgl. BVerfGE 61, 28 <35>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juli 1999 - 2 BvR 898/99 -, Rn. 55 f.).

Der Grundrechtsschutz ist auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131 <143>). Die mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich mit den Voraussetzungen für die Haftanordnung eingehend auseinanderzusetzen und ihre Entscheidungen entsprechend zu begründen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung beziehungsweise Aufrechterhaltung der Haft aktuelle Ausführungen zu dem (weiteren) Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294 <301>; 15, 474 <481>; 19, 428 <433>). Diese Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 16, 474 <481 f.>).

Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, dass und inwiefern der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt diesen Maßstäben nicht genügt. Mit der vertiefend, ergänzend und nachvollziehbar erläuterten Begründung des Oberlandesgerichts Frankfurt, insbesondere hinsichtlich der Annahme von Fluchtgefahr und der als noch verhältnismäßig angesehenen Dauer der Auslieferungshaft, setzt sich der Beschwerdeführer nicht beziehungsweise nicht in ausreichendem Maße auseinander. Auch bleibt unerläutert, weshalb der Beschwerdeführer die Auswirkungen der weltweiten Corona-Pandemie und den deshalb ausgesetzten Flugverkehr in der Verantwortungssphäre der beteiligten Staaten liegen sieht. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts Frankfurt dahingehend, dass davon auszugehen sei, dass nunmehr zeitnah ein neuer Termin für die Durchführung der Auslieferung vereinbart werde, begegnen zurzeit noch keinen offensichtlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Oberlandesgericht Frankfurt darauf hingewiesen hat, dass etwaige Quarantänebestimmungen einer zeitnahen Auslieferung nicht grundsätzlich entgegenstehen dürften.

Auf den Umstand, dass die vorgelegte Vollmacht - trotz entsprechenden Hinweises - nicht den Anforderungen des § 22 Abs. 2 BVerfGG entspricht, weil sie sich nicht ausdrücklich auf das vorliegende Verfahren oder den angegriffenen Beschluss bezieht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Oktober 2014 - 2 BvR 2446/14 -, juris, Rn. 1 m.w.N.), kam es demnach nicht an.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1029

Bearbeiter: Holger Mann