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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 355

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 117/20, Beschluss v. 24.02.2023, HRRS 2023 Nr. 355


BVerfG 2 BvR 117/20, 2 BvR 962/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. Februar 2023 (OLG Koblenz / LG Koblenz)

Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung (Menschenwürde; realisierbare Chance auf Wiedererlangung der Freiheit; Freiheitsgrundrecht; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; prognostische Gesamtwürdigung; Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit; Eingehen eines vertretbaren Restrisikos; Gewicht der bedrohten Rechtsgüter; Wahrscheinlichkeit erneuter Straffälligkeit; richterliche Pflicht zur Sachaufklärung; Auswirkung verbleibender Zweifel zulasten des Verurteilten; Bedeutung von Vollzugslockerungen; Berücksichtigung möglicher Bewährungsweisungen; Begründungsanforderungen an die Versagung einer Aussetzung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG; § 57a Abs. 1 StGB; § 45 Abs. 3 LJVollzG NRW

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Ablehnung der Aussetzung der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn die Vollstreckungsgerichte nicht hinreichend berücksichtigen, dass das den Anlasstaten - zwei sexuell motivierten Morden - zugrundeliegende und während der Haft unbearbeitet gebliebene Persönlichkeitsdefizit in Form einer übersteigerten sexuellen Dranghaftigkeit bei dem seit über 50 Jahren inhaftierten und zwischenzeitlich über 75 Jahre alten Verurteilten naheliegenderweise nicht in einem Maße fortbesteht, das die Gefahr der Begehung vergleichbarer, gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten begründet. Dies gilt umso mehr, wenn außer Betracht geblieben ist, dass der Verurteilte mehrjährig im offenen Vollzug untergebracht und zu Langzeitausgängen zugelassen ist, ohne dass es zu neuen Straftaten gekommen ist.

2. Zu den Voraussetzungen einer menschenwürdigen Strafvollstreckung gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance verbleibt, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können. Die Regelung des § 57a StGB konkretisiert insoweit den Schutz der Menschenwürde, deren Kern betroffen wäre, wenn ein Verurteilter ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung auf Freiheit aufgeben müsste und von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilt wäre.

3. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung bedarf es von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht ins Verhältnis setzt und auch die in § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB aufgeführten Umstände berücksichtigt.

4. Bei der Abwägung kommt dem Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig bereits langen Haftzeit großes Gewicht zu. Die erforderliche Prüfung, ob die Vollstreckungsaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, schließt es daher mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Ob das Restrisiko vertretbar ist, hängt von den bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgütern und vom Grad der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit ab. Dabei steht auch bei schweren Gewalt- oder Sexualdelikten die - nie sicher auszuschließende - bloße theoretische Möglichkeit eines Rückfalls der Aussetzung nicht von vornherein entgegen. Vielmehr muss sich die Ablehnungsentscheidung auf konkrete Tatsachen stützen, die das Risiko unvertretbar erscheinen lassen.

5. Allerdings muss das Rückfallrisiko umso geringer sein, je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind. Bei Straftaten, die wie der Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit naturgemäß eine besonders hohe Bedeutung zu. Daher ist für eine Aussetzung kein Raum, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen wird. Kann nach zureichender richterlicher Sachaufklärung eine günstige Gefährlichkeitsprognose nicht gestellt werden, so ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn sich die verbleibenden Zweifel zulasten des Verurteilten auswirken.

6. Bei der Prognoseentscheidung kommt dem Verhalten des Verurteilten im Rahmen von Vollzugslockerungen besondere Bedeutung zu. Außerdem ist die mögliche Wirkung von Weisungen sowie der Betreuung durch einen Bewährungshelfer zu berücksichtigen.

7. Aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen verfahrensrechtliche Anforderungen, die mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung steigen. Vor allem wenn die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebietet, hat das Gericht sich um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen. Allerdings darf es in die richterliche Bewertung Eingang finden, wenn trotz Ausschöpfens der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel die Zuverlässigkeit der Prognose mit großen Unsicherheiten behaftet ist.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Der Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 17. Mai 2019 - 7a StVK 55/18 und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 9. Dezember 2019 - 2 Ws 474/19 - sowie der Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 - 7a StVK 58/20 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021 - 2 Ws 162/21 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Beschlüsse des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 - 7a StVK 58/20 - und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021 - 2 Ws 162/21 werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Koblenz zur erneuten Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung des Rests der lebenslangen Freiheitsstrafe zurückverwiesen.

Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.

Gründe

A.

Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden betreffen die abgelehnte Strafaussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung gemäß § 57a Abs. 1 StGB.

I.

1. a) Der am (…) 1944 geborene Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Mainz vom 19. Juli 1972 wegen Mordes in zwei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der vor den Mordtaten jahrelang als Voyeur aktive Beschwerdeführer war in der Nacht zum (…) 1970 in Mainz in ein Wohnhaus eingestiegen, um mit der Tochter des Hauses geschlechtlich zu verkehren. Als die Mutter des Mädchens in ihrem Schlafzimmer erwachte, tötete er sie mit einem mitgeführten Messer. Anschließend drang er in das Schlafzimmer der Tochter ein. Als diese sein Begehren zurückwies und um Hilfe schrie, brachte der sexuell stark erregte Beschwerdeführer sie ebenfalls mit dem mitgeführten Messer um. Der gerichtlich bestellte psychiatrische Sachverständige attestierte dem Beschwerdeführer eine Kombination aus Voyeurismus und Exhibitionismus mit einer stark ausgebildeten aggressiven Komponente. Nachdem der Beschwerdeführer zunächst die Tat vor der Polizei und dem Ermittlungsrichter eingeräumt hatte, widerrief er in der Folgezeit sein Geständnis.

b) Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 21. Juni 1970 in Untersuchungshaft und sodann in Strafhaft. Mit Beschluss vom 10. November 1997 stellte das Landgericht Koblenz fest, dass die besondere Schwere der Schuld des Beschwerdeführers die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete. Eine Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung lehnte es gleichwohl ab, da eine günstige Prognose nicht gestellt werden könne.

c) In den ersten Jahren des Vollzugs verhielt sich der Beschwerdeführer beanstandungsfrei. Im Jahr 1989 wurde er wegen des Besitzes eines Fernglases erstmals disziplinarisch negativ erwähnt. Ab September 1991 befand er sich im offenen Vollzug. 1992 wurden ihm mehrere Hafturlaube gewährt. Im selben Jahr führte ein erneuter Regelverstoß - es wurden zehn bis zwölf Pornohefte, zum Teil mit sogenannter Hardcore-Pornographie, unter seiner Matratze gefunden - zu dessen Beendigung. Im Jahr 1995 war er zunächst wieder Freigänger, bevor er im selben Jahr eine eigene Wohnung bezog.

d) Am 21. Juni 2002 wurde der Beschwerdeführer in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt, nachdem bei einer Durchsuchung seiner Wohnung unerlaubte Gegenstände (30 kommerzielle Pornovideokassetten, deutlich über 300 Pornohefte, eine Kiste mit pornographischen Darstellungen, Damenunterwäsche, 8 Rollen Klebeband, 51 Kabelbinder, 28 Paar Stoffhandschuhe, ein Fernglas, etwa 100 ausgeschnittene Köpfe von Frauen aus Zeitschriften und selbst angefertigte Pornographien sowie 150 selbst aufgenommene Videokassetten mit zum Teil [soft-]pornographischen Filmen) gefunden worden waren.

e) Am 26. Juli 2011 wurde der Beschwerdeführer für ein knappes Jahr zurück in den offenen Vollzug verlegt. Nach erneutem Auffinden mehrerer DVDs mit pornographischen Inhalten, größerer Geldbeträge, 18 verschiedener Versionen von Schnüren und einer Digitalkamera im Staufach seines Motorrollers wurde er im Mai 2012 in den geschlossenen Vollzug rückverlegt. Seit dem 28. März 2017 befindet sich der Beschwerdeführer erneut im offenen Vollzug. Zwei gewährte Langzeitausgänge absolvierte er beanstandungsfrei.

2. a) Der Sachverständige (…) kam in seinem Gutachten am 22. Februar 2019 zu dem Ergebnis, dass beim Beschwerdeführer psychosexuelle Auffälligkeiten in Form intensiver sexuell devianter Interessen, Phantasien und Impulse sowie eines gesteigerten sexuellen Verlangens festzustellen seien. Nach seiner Einschätzung liege das wesentliche Risiko beim Beschwerdeführer nahezu ausschließlich im Bereich der Sexualdelinquenz.

b) Eine inhaltlich sinnvolle Exploration der Tatvorwürfe habe nicht stattfinden können, weil der Beschwerdeführer die Anlasstaten leugne und nicht in der Lage und/oder Willens gewesen sei, über innere Vorgänge Auskunft zu geben. Bei der Einschätzung des Rückfallrisikos sei der Sachverständige auf empirische Erkenntnisse angewiesen gewesen, die im konkreten Fall jedoch wenig Aussagekraft besessen hätten. Die individuell angepasste Risikoeinschätzung gestalte sich schwierig, weil der Beschwerdeführer keine diagnostisch und prognostisch verwertbaren Informationen zur Verfügung gestellt habe.

c) Im Ergebnis nahm der Sachverständige an, dass der Beschwerdeführer nicht zu einer Hoch-Risiko-Gruppe zu zählen sei. Ein mit dem Begriff des „Restrisikos“ zu beschreibendes Gefährdungspotential sei niemals auszuschließen; dieses sei aber vergleichsweise niedrig. Eine weitere Abnahme des Rückfallrisikos durch intramurale Maßnahmen sei kaum vorstellbar. Der Widerrufsdruck bei einer Entlassung zur Bewährung könne präventiv wirken, da der Beschwerdeführer kein impulsiv handelnder Straftäter sei. Das Restrisiko weiterer Sexualstraftaten könne durch geeignete Weisungen weiter reduziert werden. In Betracht zu ziehen seien eine langfristige und regelmäßige sozialarbeiterische Betreuung, die auch eine kontrollierende Funktion zu erfüllen habe, die Untersagung jeglichen voyeuristischen Verhaltens und des Besitzes von Gegenständen, die für voyeuristische Zwecke eingesetzt werden könnten sowie eine regelmäßige dahingehende Untersuchung seiner Wohnräume.

3. In dem Verfahren 2 BvR 117/20 greift der Beschwerdeführer den Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 17. Mai 2019 und den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 9. Dezember 2019 an.

a) Mit Beschluss vom 17. Mai 2019 lehnte das Landgericht Koblenz den Antrag auf Aussetzung des Strafrests zur Bewährung nach der Einholung des vorgenannten Sachverständigengutachtens von (…) vom 22. Februar 2019 und der Anhörung des Beschwerdeführers am 3. Mai 2019 ab. Es bestehe eine geringe Gefahr, dass der Beschwerdeführer künftig den Anlasstaten vergleichbare Verbrechen begehen werde. Verbleibende Zweifel hinsichtlich einer günstigen Prognose gingen zu seinen Lasten.

Der Beschwerdeführer sei bei seinen Anlasstaten als besonders dranghafter und rücksichtsloser Sexualstraftäter aufgetreten. Diese Dranghaftigkeit sei auch während der Inhaftierung immer wieder zum Vorschein gekommen. Alle Regelverstöße während der Inhaftierung hätten im Zusammenhang mit seiner Sexualität gestanden. Die Kammer sei sich bewusst, dass sich ein gewisses Gefährdungspotential nie vollständig ausschließen lasse. Beim Beschwerdeführer sehe sie aber erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass ein nicht unerhebliches Risiko der Begehung von den Anlassdelikten vergleichbaren Taten fortbestehe, welches sich nicht durch geeignete Weisungen auffangen lasse.

Danach komme eine bedingte Entlassung nicht in Betracht. Der Beschwerdeführer sei aufgrund seiner rigiden Verweigerungshaltung in Bezug auf die sexuelle Devianz nicht hinreichend einschätzbar. Es liege allein an seiner Person, dass eine - zumindest geringe - Gefahr künftiger vergleichbarer Verbrechen angenommen werden müsse. Die Vollzugsanstalt werde dem Beschwerdeführer weitere Lockerungen gewähren müssen, um zu prüfen, ob er sich bei Gewährung weiterer Freiräume zuverlässig zeige. In der Vergangenheit sei der Beschwerdeführer regelmäßig erst nach längerer Zeit durch Regelverstöße aufgefallen. Daher sei gemäß § 57a Abs. 4 StGB eine Sperrfrist von zwei Jahren festzusetzen, ehe ein erneuter Entlassungsantrag gestellt werden könne.

b) Mit Beschluss vom 9. Dezember 2019 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde vom 3. Juni 2019 unter Verkürzung der Sperrfrist für eine erneute Antragstellung als unbegründet.

aa) Zugunsten des Beschwerdeführers spreche zwar, dass er sich seit März 2017 im offenen Vollzug bewährt habe. Zudem halte er regelmäßig Kontakt zu Personen außerhalb des Strafvollzugs, auch wenn diese ihm keinen tragfähigen sozialen Empfangsraum bieten könnten. Als günstig sei anzusehen, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Möglichkeiten mithelfe, eine zu seiner Aufnahme bereite betreute Wohneinrichtung zu finden. Er pflege den anstaltseigenen Garten und übernehme dadurch Verantwortung auch für andere.

bb) Diesen positiven Aspekten stehe die fehlende Aufarbeitung der Anlasstaten entgegen. Der Beschwerdeführer lasse keine diagnostisch verwertbaren Einblicke in sein Innenleben zu. Das Leugnen der Anlasstat könne zwar für sich genommen keine negative Sozialprognose stützen. Einen relevanten Umstand stelle die Tatleugnung vorliegend aber deshalb dar, weil die mangelhafte Tataufarbeitung ihre Ursache in einem fortbestehenden krankheits- oder emotional bedingten Persönlichkeitsdefizit habe. Hierauf begründe sich die Besorgnis, ohne eine Überwindung dieser Störung könne es zu einer erneuten Straffälligkeit nach Haftentlassung kommen. Dass die Persönlichkeitsdefizite, die den früheren voyeuristischen Straftaten ebenso wie den Anlassmorden zugrunde gelegen hätten, unbearbeitet seien, müsse sich prognostisch ungünstig auswirken.

cc) Ein sozialer Empfangsraum, der ausreichende Kontrollmöglichkeiten biete, sei bislang nicht vorhanden. Insoweit komme nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen nur die Unterbringung in einer betreuten Wohnform in Betracht. Der Beschwerdeführer sei aber nicht bereit, eine solche Unterbringungsform außerhalb des ihm aus den Vollzugslockerungen bekannten sozialen Umfelds in (…) in Erwägung zu ziehen. Daher seien bislang alle Versuche gescheitert, ihm eine entsprechende Unterbringung zu vermitteln.

dd) Da mit einer Bearbeitung der tatauslösenden Persönlichkeitsdefizite nicht mehr zu rechnen sei, erfordere die Sicherheit der Allgemeinheit, deren höchste Rechtsgüter bedroht seien, dass vor einer Entlassung nicht nur ein den Beschwerdeführer aufnehmender tragfähiger sozialer Empfangsraum geschaffen werde, sondern, dass er sich auch in Vollzugslockerungen weitestgehend bewährt habe. Bisher seien noch nicht alle im Vollzugsrecht vorhandenen Möglichkeiten ausgeschöpft, um das Gefahrenrisiko auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Langzeitausgänge nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 LJVollzG seien noch nicht absolviert worden. Ein erstes Verlassen der Anstalt für zwei Tage sei erst im Januar 2020 vorgesehen. Anschließend solle die Dauer der Langzeitausgänge schrittweise auf bis zu acht Tage ausgedehnt werden. Die hierfür normierten Voraussetzungen (§ 45 Abs. 3 LJVollzG) sehe das Oberlandesgericht als gegeben an. Es bleibe daher abzuwarten, ob sich der Beschwerdeführer auch in diesen Vollzugslockerungen bewähre. Erst danach könne, wenn ein geeigneter Empfangsraum bereitstehe, eine Entlassung verantwortet werden.

4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde vom 4. Juni 2021 - 2 BvR 962/21 - wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021.

a) Mit Beschluss vom 22. Januar 2021 lehnte das Landgericht Koblenz nach Einholung einer Stellungnahme der Vollzugsanstalt und der Anhörung des Beschwerdeführers die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ab.

aa) Seit der letzten Entscheidung über die Strafaussetzung seien keine Veränderungen von erheblichem Gewicht eingetreten. Eine Tataufarbeitung sei weiterhin aus innerpsychischen und kognitiven Gründen nicht erfolgt. Die verbleibenden Zweifel an einer günstigen Prognose gingen zulasten des Beschwerdeführers.

bb) Diesen fortbestehenden Zweifeln könnten auch die zwei mittlerweile beanstandungsfrei durchgeführten Langzeitausgänge nicht entgegengehalten werden. Der Beschwerdeführer habe erkannt, dass eine Entlassung überhaupt nur realisierbar sei, wenn er sich beanstandungsfrei führe. Darum sei davon auszugehen, dass er auch zukünftige Langzeitausgänge beanstandungsfrei absolvieren werde.

cc) Ein sozialer Empfangsraum bestehe weiterhin nicht. Mittlerweile lehne der Beschwerdeführer die Entlassung in eine betreute Wohnform kategorisch ab und beharre auf einer eigenen Wohnung. Nach den Ausführungen des Sachverständigen (…) in seinem Gutachten vom 22. Februar 2019 bedürfe der Beschwerdeführer aufgrund seiner dranghaften sexuellen Auffälligkeiten in Form stabiler sexuell devianter Interessen sowie eines gesteigerten sexuellen Verlangens aber der besonderen Betreuung, Überwachung und Stabilisierung. Dies sei grundsätzlich nur in einer betreuten Wohneinrichtung leistbar.

dd) Aufgrund der fehlenden Tataufarbeitung, der fortbestehenden tatauslösenden Persönlichkeitsdefizite sowie der Anzahl begangener Delikte, der Schwere der Anlasstaten und der darin zutage getretenen extremen sexuellen Dranghaftigkeit in Verbindung mit seiner Weigerung, eine betreute Wohneinrichtung zu beziehen, komme eine Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht in Betracht. Die vorgenannten Umstände seien konkrete, erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass ein nicht nur unerhebliches Restrisiko fortbestehe. Dieses Risiko könne auch nicht durch geeignete Weisungen aufgefangen werden.

ee) Zwar gewinne der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immer stärker an Bedeutung je länger die Inhaftierung andauere, wobei dies im besonderem Maße gelte, wenn - wie hier - die bisherige Dauer der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren weit übersteige und die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht mehr gebiete. Gleichwohl dürfe dies nicht dazu führen, dass eine Strafaussetzung im schlimmsten Falle zu einem Rückfallmord führe. Der Beschwerdeführer sei unverändert aus Gründen, die alleine in seiner Person lägen, prognostisch nicht hinreichend verlässlich einschätzbar.

ff) Eine Verletzung der Menschenwürde des Beschwerdeführers liege nicht vor. Es könne nicht die Rede davon sein, dass der Beschwerdeführer ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung auf Freiheit aufgeben müsse. Vielmehr lägen die Gründe, die eine bedingte Entlassung ausschlössen, in seiner Person.

b) Das Oberlandesgericht Koblenz verwarf die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde vom 4. Februar 2021 mit Beschluss vom 29. April 2021 und nahm dabei auf seinen vorhergehenden Beschluss vom 9. Dezember 2019 Bezug.

Die dort für möglich gehaltenen Änderungen maßgeblicher Umstände hätten sich nicht eingestellt. Zwar habe der Beschwerdeführer zwei Langzeitausgänge erfolgreich absolviert. Ein geeigneter sozialer Empfangsraum existiere jedoch weiterhin nicht. Im Gegenteil beharre der Beschwerdeführer nun darauf, allein in eine Wohnung zu ziehen. Da die Persönlichkeitsdefizite des Beschwerdeführers nicht mehr beseitigt werden könnten, müsse der hieraus resultierenden Gefährlichkeit aber durch einen geeigneten Empfangsraum entgegengewirkt werden.

Für die vom Beschwerdeführer begehrte analoge Anwendung der Regelung für Sicherungsverwahrte auf die zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten sei kein Raum. Das Bundesverfassungsgericht habe die Regelungen zur Strafaussetzung bei der lebenslangen Freiheitsstrafe für mit der Verfassung vereinbar befunden. Dies gelte auch, soweit die Strafe über den Zeitpunkt der Vollstreckung wegen besonderer Schuldschwere hinausreiche. Ebenso sei es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn in diesem Fall verbleibende Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose zulasten des Verurteilten gingen.

II.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 2 GG.

1. a) Er trägt im Verfahren 2 BvR 117/20 vor, dass die Gewichtung des Sicherheitsinteresses gegenüber dem Freiheitsgrundrecht gegen das Übermaßverbot verstoße. Das von Verfassungs wegen einzugehende und vorliegend vom Sachverständigen als niedrig bewertete Restrisiko werde von den Gerichten nicht richtig eingeschätzt. Mit zunehmender Vollzugsdauer und steigendem Lebensalter verlören Tatsituation und Tatumstände gegenüber Vollzugsverhalten und augenblicklicher Lebenssituation an Bedeutung. Im Fall des sich im fortgeschrittenen Alter befindenden Beschwerdeführers liege eine extrem lange Haftdauer vor, während der er sich gut geführt habe. Ein bloß theoretisch bestehendes, geringes Restrisiko überwiege daher den Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers nicht. Eine belastbare Begründung, warum das vorliegende Restrisiko als unvertretbar einzuschätzen sei, fehle in den instanzgerichtlichen Entscheidungen. Das Landgericht wolle offenbar jegliches Restrisiko ausschließen und lege keine konkreten Tatsachen dar, aus denen auf künftige schwere Verbrechen geschlossen werden könne.

b) Die Menschenwürde verlange die realisierbare Chance, aus der lebenslangen Haft entlassen werden zu können. Trotzdem sei kein Konzept entwickelt worden, das eine Entlassung auf Grundlage eines freiwilligen Verbleibs in den Räumlichkeiten des offenen Vollzugs ermöglicht hätte. Damit sei nicht alles Notwendige getan worden, um dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers gerecht zu werden. Alternativen hierzu gebe es nicht, da in räumlicher Nähe der Vollzugsanstalt keine geeignete betreute Wohneinrichtung existiere. Insoweit sei die verfassungsrechtliche Rechtsprechung, wonach der betagte Mensch nur schwer in eine neue Umgebung versetzt werden könne, weil er in stärkerem Maß auf seine gewohnte Umgebung angewiesen sei, nicht berücksichtigt worden.

c) Auch das fortgeschrittene Alter des Beschwerdeführers sei nicht ausreichend in Rechnung gestellt worden. Die Entlassung könne nicht erst dann in Betracht gezogen werden, wenn körperliche oder geistige Gebrechlichkeit eingetreten seien. Weder das hohe Lebensalter als solches noch das Lebensalter in Bezug zur Vollzugsdauer seien von den Gerichten in den Blick genommen worden. Auch die Frage, inwiefern sich das Alter auf das sexuelle Verlangen des Beschwerdeführers auswirke, sei unberücksichtigt geblieben.

d) Schließlich verstießen die Beschlüsse auch gegen das Willkürverbot, weil das Leugnen der Tat als negativer Prognosefaktor gewertet worden sei. Darin liege ein Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz. Das Leugnen der Tat sei nur dann ein negatives Indiz, wenn die mangelnde Tataufarbeitung ihre Ursache in einem fortbestehenden Persönlichkeits- oder emotionalen Defizit habe und dadurch die Besorgnis neuer Taten begründet werde. Konkrete Hinweise für ein derartiges, beim Beschwerdeführer fortbestehendes Risiko habe der Sachverständige aber nicht finden können.

2. a) In der zusammen mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobenen Verfassungsbeschwerde im Verfahren 2 BvR 962/21 trägt der Beschwerdeführer darüber hinaus vor, dass die ihm angelasteten Regelverstöße während des Vollzugs nicht als abnorme sexuelle Verhaltensweisen zu qualifizieren seien. Sie seien vielmehr Ausdruck eines normalen sexuellen Bedürfnisses.

b) Soweit die Gerichte in den angegriffenen Beschlüssen auf das Fehlen eines sozialen Empfangsraums abstellten, liege ein unlösbares Dilemma vor. Zum einen existiere eine betreute Einrichtung, die den Vorstellungen des Sachverständigen entspreche, im Raum (…) nicht. Zum anderen sollten das soziale Umfeld und die Sozialkontakte des Beschwerdeführers erhalten werden. Vor diesem Hintergrund bevorzuge der Beschwerdeführer, in eine eigene Wohnung entlassen zu werden, die ihm die Aufrechterhaltung seiner Kontakte ermögliche. Dass ein sozialer Empfangsraum nach knapp 51 Jahren Strafvollzug und einem Alter von knapp 77 Jahren nicht ohne Weiteres anderorts aufgebaut werden könne, liege auf der Hand.

c) Soweit das Landgericht Koblenz in der angefochtenen Entscheidung mutmaße, dass sich der Beschwerdeführer im offenen Vollzug auch künftig beanstandungsfrei verhalten werde, weil er erkannt habe, dass er nur dann die Möglichkeit habe, aus der Haft entlassen zu werden, werde dem Beschwerdeführer eine Motivation unterstellt, die keinerlei belastbare Grundlage habe. Im Ergebnis würde dieses Verständnis dazu führen, dass jegliche weitere Erprobung im offenen Vollzug überflüssig werde, weil auch die beanstandungsfreie Erprobung keinen positiven Einfluss auf die Prognose haben könne.

III.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 11. November 2021 - 2 BvR 962/21 - den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

IV.

1. Das rheinland-pfälzische Justizministerium, der Präsident des Oberlandesgerichts Koblenz und der Generalstaatsanwalt Koblenz haben von einer Stellungnahme abgesehen.

2. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt (…) weist darauf hin, dass eine Entlassung in eine Einrichtung mit geeignetem Risikomanagement unabdingbar sei, damit bei Indikatoren für eine negative Entwicklung unmittelbar Maßnahmen ergriffen werden könnten. Eine dafür geeignete Einrichtung gebe es im Raum (…) nicht. Ein freiwilliger Verbleib im offenen Vollzug sei nur vorübergehend möglich und komme darum nicht als Alternative in Betracht.

3. Der Generalbundesanwalt hält die Verfassungsbeschwerden mangels hinreichender Substantiierung für unzulässig und im Übrigen für unbegründet.

a) Bei Straftaten, wie den Anlasstaten, käme dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit eine besonders hohe Bedeutung zu. Eine bedingte Entlassung käme wegen des hohen Rangs des Rechtsguts Leben auch bei lebenslanger Freiheitsstrafe nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht. Der Sachverständige gehe nicht lediglich von einem verbleibenden rein theoretischen Restrisiko aus, sondern von einem vergleichsweise niedrigen, aber nicht unerheblichen, auf konkreten tatsächlichen Anhaltspunkten beruhenden Risiko. Das ergebe sich schon aus dem Umstand, dass er im Entlassungsfall eine Unterbringung in einer Einrichtung für zwingend erforderlich halte, die eine stetige Kontrolle ermögliche.

b) Der Sachverständige sei zu dem Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführer bezüglich seines sexuellen Verlangens starke Verleugnungstendenzen aufweise. Für die Zeit seiner Inhaftierung sei von einem stabilen voyeuristischen und exhibitionistischen Interesse auszugehen. Ein altersbedingter Rückgang dieses von der Norm abweichenden sexuellen Interesses könne nicht festgestellt werden, weswegen die Gerichte auch keinen Anlass gehabt hätten, in ihren Entscheidungsgründen näher auf die Auswirkungen des hohen Alters des Beschwerdeführers auf sein sexuelles Verlangen einzugehen.

c) Eine analoge Anwendung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses nach § 67d Abs. 3 StGB auf die Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe komme schon mangels planwidriger Regelungslücke und Vergleichbarkeit der Sachverhalte nicht in Betracht.

4. Der Beschwerdeführer weist demgegenüber darauf hin, dass er seit 52 Jahren inhaftiert sei, seitdem keine Straftaten mehr begangen habe und keine Anhaltspunkte für künftige Taten bestünden. Eine Deliktaufarbeitung oder ein Zugang zu seinem Innenleben mit Deliktsbezügen sei schlicht nicht möglich, da er die Taten seit einem halben Jahrhundert leugne. Es obliege dem Staat, eine adäquate Entlassungssituation herbeizuführen, die der Situation und dem Lebensalter des Beschwerdeführers gerecht würde.

5. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihnen statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die zur Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93b Satz 1 BVerfGG).

I.

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Aussetzungsentscheidungen sind mit den aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgenden verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Begründung der Fortdauer der Freiheitsentziehung aufgrund einer lebenslangen Freiheitsstrafe nicht vereinbar.

1. a) Zu den Voraussetzungen einer menschenwürdigen Strafvollstreckung gehört, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance verbleibt, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>; 64, 261 <272>; 72, 105 <113>). Mit der Menschenwürdewäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass zumindest die Chance für ihn bestünde, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können (vgl. BVerfGE 45, 187 <228 f.>). Die Regelung des § 57a StGB konkretisiert in der Strafvollstreckung den Schutz der Menschenwürde. Es träfe deren Kern, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung auf Freiheit aufgeben müsste und damit von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilt würde (vgl. BVerfGE 45, 187 <245>; 64, 261 <272>; 72, 105 <113>).

b) Die Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung einer lebenslangen Freiheitsstrafe betrifft den Entzug der persönlichen Freiheit des Strafgefangenen und berührt damit die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 29, 312 <316>; 86, 288 <326>). Das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG hat einen hohen Rang. Einschränkungen sind nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen denkbar (vgl. BVerfGE 86, 288 <326>).

c) Ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung einer rechtskräftig ausgesprochenen lebenslangen Freiheitsstrafe nach § 57a StGB zur Bewährung auszusetzen ist, ist eine Frage der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Die dem Strafvollstreckungsrichter abverlangte Entscheidung gebietet eine prognostische Bewertung und eine vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung, die ureigene richterliche Aufgabe sind. Die insoweit dem Strafvollstreckungsrichter übertragene Abwägung verletzt nicht schon dann die Grundrechte des Verurteilten, wenn die in Bezug auf die hier notwendigerweise allgemein gehaltenen normativen Vorgaben des einfachen Rechts vorgenommene fachrichterliche Würdigung fragwürdig sein mag. Das Bundesverfassungsgericht prüft diese Entscheidung nicht in jeder Hinsicht nach und hat insbesondere nicht seine eigene Wertung des Einzelfalls nach Art eines Rechtsmittelgerichts an die Stelle derjenigen des zuständigen Richters zu setzen. In derartigen Fällen lässt sich vielmehr eine Grundrechtsverletzung nur feststellen, wenn der zuständige Vollstreckungsrichter entweder nicht erkannt hat, dass in seine Abwägung Grundrechte einwirken, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung dieser Grundrechte beruht. Ob dies der Fall ist, lässt sich nur auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls beurteilen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 72, 105 <114 f.>; 74, 102 <127>; BVerfGK 15, 390 <396 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2021 - 2 BvR 336/20 -, Rn. 26; stRspr).

d) Aus der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts folgt, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in besonderem Maße die Anordnung und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen beherrscht (vgl. BVerfGE 117, 71 <95 f.> m.w.N.; stRspr). Danach verlangt das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Je länger der Freiheitsentzug andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit. Der nachhaltige Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es mit Blick auf die Art der von dem Betroffenen drohenden Gefahren, deren Bedeutung und Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Betroffenen in die Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 70, 297 <315>; 109, 133 <159>; 117, 71 <97 f.>; BVerfGK 15, 390 <397>; stRspr).

Danach bedarf es bei der Entscheidung über die Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe von Verfassungs wegen einer Gesamtwürdigung, die die von dem Betroffenen ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit dem Freiheitsentzug verbundenen Grundrechtseingriffs ins Verhältnis setzt. Dabei sind die in § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB aufgeführten Umstände zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 117, 71 <98>).

aa) Auf der einen Seite hat der grundsätzliche Freiheitsanspruch des Verurteilten wegen der regelmäßig zurückgelegten langen Haftzeit großes Gewicht (vgl. BVerfGE 70, 297 <315>). Daher schließt die Klausel von der Verantwortbarkeit der Vollstreckungsaussetzung „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit“ es mit ein, dass ein vertretbares Restrisiko eingegangen wird. Die Vertretbarkeit des Restrisikos ist dabei nicht allein von den im Falle eines Rückfalls bedrohten Rechtsgütern abhängig, sondern auch vom Grad der Wahrscheinlichkeit erneuter Straffälligkeit. Daher steht auch bei schweren Gewalt- oder Sexualdelikten die bloße theoretische Möglichkeit eines Rückfalls, die angesichts der Begrenztheit jeder Prognosemöglichkeit nie sicher auszuschließen ist, der Aussetzung nicht von vornherein entgegen. Vielmehr ist die Ablehnungsentscheidung durch konkrete Tatsachen zu belegen, die das Risiko als unvertretbar erscheinen lassen (vgl. BVerfGE 117, 71 <98 f.> m.w.N.).

bb) Auf der anderen Seite verlangt die im Rahmen der Aussetzungsentscheidung zu treffende Prognose die Verantwortbarkeit der Aussetzung mit Rücksicht auf unter Umständen zu erwartende Rückfalltaten. Je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein. Bei Straftaten, die wie der Mord (§ 211 StGB) mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, kommt dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit naturgemäß eine besonders hohe Bedeutung für die Frage zu, ob es verantwortet werden kann, zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Daher kommt in diesen Fällen eine bedingte Entlassung nur unter strengen Voraussetzungen in Betracht. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte ein neues schweres Verbrechen begehen werde, ist für eine Aussetzung kein Raum (vgl. BVerfGE 117, 71 <99 f.> m.w.N.).

cc) Ein gewisses Risiko von Straftaten nur mittleren oder geringeren Gewichts steht der Restaussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht dauerhaft entgegen. Denn im Unterschied zu der zeitigen Freiheitsstrafe, bei der am Strafende trotz negativer Prognose eine Entlassung erfolgt, würde die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe mit zunehmender Dauer ihrer Vollstreckung gegen das Übermaßverbot verstoßen, wenn von dem Verurteilten nur mittelschwere Straftaten drohen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass mit zunehmendem Alter des Verurteilten oder zunehmender Vollzugsdauer die Tatsituation und Umstände der Tat gegenüber dem Vollzugsverhalten und der augenblicklichen Lebenssituation des Verurteilten an prognostischer Bedeutung verlieren können (vgl. BVerfGE 117, 71 <100> m.w.N.).

dd) Wenn eine fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten positiv festgestellt werden kann, ist der weitere Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe erforderlich, um die Allgemeinheit zu schützen. Die besonders hohe Wertschätzung des Lebens rechtfertigt darüber hinaus aber auch dann die weitere Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe, wenn nach Erfüllung des verfassungsrechtlichen Gebots einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung keine günstige Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann. Es ist verfassungsrechtlich auch im Hinblick auf den Umstand, dass die verhängte lebenslange Freiheitsstrafe als die schuldangemessene Strafe ausgesprochen worden ist, nicht zu beanstanden, wenn die in diesen Fällen verbleibenden Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose zulasten des Verurteilten gehen (vgl. BVerfGE 117, 71 <100 f.>).

ee) Nach langjährigem Freiheitsentzug kann die gerichtliche Prognose außerordentlich schwierig sein. Dem Strafvollstreckungsrichter ist die Aufgabe übertragen, hier in besonders verantwortungsvoller Weise einerseits dem berechtigten Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit Rechnung zu tragen, andererseits darauf zu achten, dass die dem Einzelnen von Verfassungs wegen zukommende Chance, seine Freiheit wiederzugewinnen, realisierbar bleibt. Dabei hat er auch die mögliche Wirkung von Weisungen sowie der Betreuung durch einen Bewährungshelfer zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 1991 - 2 BvR 1327/89 -, juris, Rn. 22 m.w.N.).

ff) Vollzugslockerungen haben für die zu treffende Prognoseentscheidung besondere Bedeutung. Für den Richter erweitert und stabilisiert sich die Basis der prognostischen Beurteilung, wenn dem Verurteilten zuvor Vollzugslockerungen gewährt worden sind. Bei langdauernden Freiheitsentziehungen zeigt sich typischerweise in besonderem Maße die Notwendigkeit, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Lockerungen die Resozialisierungsfähigkeit des Betroffenen zu testen und ihn schrittweise auf die Entlassung vorzubereiten (vgl. BVerfGK 15, 390 <398 ff.> m.w.N.).

gg) Darüber hinaus folgen aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfahrensrechtliche Anforderungen, die mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung steigen (vgl. BVerfGE 109, 133 <162>). Vor allem wenn die bisherige Dauer der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Mindestverbüßungszeit übersteigt und die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung nicht mehr gebietet, hat das Gericht bei einer Aussetzungsentscheidung sich von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis zu bemühen und die für seine Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte näher darzulegen (vgl. BVerfGE 117, 71 <106 f.> m.w.N.). Mit zunehmender Dauer einer Freiheitsentziehung verengt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters und wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine Würdigung eingehender abfasst und sich nicht mit allgemeinen, knappen Wendungen begnügt. Vielmehr muss er seine Bewertung substantiiert offenlegen. Nur anhand einer solchen Begründung ist es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; 117, 71 <109>). Dabei ist es nicht zu beanstanden, wenn es in die richterliche Bewertung Eingang findet, dass trotz des Ausschöpfens der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel die Zuverlässigkeit der Prognose mit großen Unsicherheiten behaftet ist (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; 117, 71 <108>). Dies entbindet den Richter jedoch nicht von einer die Umstände des jeweiligen Einzelfalls berücksichtigenden und der Dauer der Freiheitsentziehung angemessenen Begründung seiner Prognose- und Abwägungsentscheidung.

2. Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie verfehlen die sich vorliegend aus der sehr langen Dauer der Freiheitsentziehung ergebenden Anforderungen an die Begründungstiefe der Entscheidung über die Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe.

a) Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem Juni 1970 in Haft. Bereits im November 1997 hatte das Landgericht Koblenz festgestellt, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht mehr gebiete. Angesichts der Haftdauer von rund 49 Jahren bereits im Zeitpunkt des ersten angegriffenen Beschlusses des Landgerichts Koblenz vom 17. Mai 2019 bedurfte die Aussetzungsentscheidung vorliegend eingehender, sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigender Begründung.

b) Die Fachgerichte haben in den angefochtenen Entscheidungen darauf verwiesen, dass Ursache der Anlasstaten nach den sachverständigen Feststellungen eine sexuelle Devianz und besondere Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers sei. Dieses Persönlichkeitsdefizit sei infolge der Tatleugnung bisher unbearbeitet. Da der Beschwerdeführer keine verwertbaren Einblicke in sein Innenleben zulasse, gingen verbleibende Zweifel hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten zu seinen Lasten. Hinzu komme das Fehlen eines sozialen Empfangsraums in der Form einer aufnahmebereiten betreuten Wohneinrichtung im Umfeld von (…). Verfassungsrechtlich ist gegen diese Erwägungen nichts zu erinnern.

c) Gleichwohl genügen die angegriffenen Beschlüsse den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, weil sie weitere prognose- und abwägungsrelevante Gesichtspunkte nicht oder nur unzureichend berücksichtigen.

aa) Die Fachgerichte verhalten sich bereits nicht zu dem Lebensalter des Beschwerdeführers und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten. Dabei ist davon auszugehen, dass angesichts der außerordentlichen Länge der Vollzugsdauer die Gefahr künftiger (Sexual-) Straftaten von nur geringem oder mittlerem Gewicht einer Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung nicht mehr entgegenstehen dürfte. Zutreffend stellen die Fachgerichte daher bei ihrer Gefahrenprognose auf das Risiko von den Anlassdelikten vergleichbaren Straftaten ab.

Insoweit ist aber in Rechnung zu stellen, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Begehung der Anlassdelikte im (…) 1970 erst 25 Jahre alt war. Selbst wenn das dabei zutage getretene Persönlichkeitsdefizit in Form einer sexuellen Devianz und gesteigerten sexuellen Verlangens unbearbeitet geblieben ist, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass nach Vollendung des 75. Lebensjahres die sexuelle Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers in einem Maße fortbesteht, dass die Wahrscheinlichkeit der Begehung vergleichbarer, gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten als gegeben angesehen werden kann.

Trotzdem fehlt es im Rahmen der Gefahrenprognose der Fachgerichte an einer Auseinandersetzung mit dem Lebensalter des Beschwerdeführers und dessen Auswirkungen auf die von ihm ausgehenden Risiken künftiger Straftaten. Die Gerichte verweisen lediglich darauf, dass angesichts der Bedrohung des Rechtsguts Leben allein die extreme Länge der Vollzugsdauer eine Bewährungsaussetzung nicht zu rechtfertigen vermöge. Dies ist aber eine der Gefahrenprognose nachgelagerte Frage und entbindet nicht von der Prüfung, ob trotz des mittlerweile erreichten Lebensalters vom Beschwerdeführer überhaupt noch ein relevantes - wenn auch nur in geringem Umfang erhöhtes - Risiko der Begehung von gegen das Leben gerichteten Sexualstraftaten ausgeht, dem auch nicht durch geeignete Auflagen und Weisungen entgegenwirkt werden kann (vgl. dazu sogleich B. I. 2. c) dd). Soweit die Fachgerichte sich an dahingehenden Feststellungen dadurch gehindert gesehen haben sollten, dass auch das Gutachten des Sachverständigen (…) sich zur Bedeutung des Lebensalters des Beschwerdeführers für die Wahrscheinlichkeit künftiger gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten nicht dezidiert verhält, hätte es nach dem Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung gegebenenfalls ergänzender Einholung sachverständigen Rates bedurft.

bb) Nichts anderes ergibt sich, soweit die Fachgerichte darauf verweisen, die besondere Dranghaftigkeit des Beschwerdeführers sei während seiner Inhaftierung immer wieder zum Vorschein gekommen, da sämtliche Regelverstöße im Zusammenhang mit seiner Sexualität gestanden hätten. Zuzugestehen ist den Fachgerichten insoweit, dass der Beschwerdeführer im Jahr 1989 wegen des Besitzes eines Fernglases auffiel und in den folgenden Jahren mehrfach in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt wurde, weil bei ihm pornografisches Material, Damenunterwäsche, Kabelbinder, Klebeband, ein Fernglas und eine Digitalkamera aufgefunden wurden. Zwar mag dies für den Fortbestand der Persönlichkeitsdefizite in Form einer sexuellen Devianz und besonderen Dranghaftigkeit sprechen. Dass damit aber ungeachtet der extrem langen Vollzugsdauer und des fortgeschrittenen Lebensalters des Beschwerdeführers das Risiko weiterer gegen das Leben gerichteter sexueller Straftaten verbunden wäre, erschließt sich vorliegend nicht ohne Weiteres.

Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Besitz der aufgefundenen Gegenstände für sich genommen keinen Aufschluss über die Gefahr künftiger besonders schwerer Sexualstraftaten zu geben vermag. Auch liegen keine Hinweise vor, dass der Beschwerdeführer während der mehrjährigen Phasen des offenen Vollzugs, in denen er teilweise über eine eigene Wohnung verfügte, den Anlasstaten vergleichbare oder auch nur sonstige Straftaten begangen hat. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer den seit 2017 erneut angeordneten offenen Vollzug - soweit ersichtlich - bisher beanstandungsfrei absolviert hat. Vor diesem Hintergrund fehlt es letztlich an einer ausreichenden Begründung für die Annahme, das Vollzugsverhalten belege eine vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr einer erneuten gegen das Leben gerichteten Sexualstraftat, die in relevantem Umfang das dahingehende nicht ausschließbare Restrisiko überschreitet.

cc) Nicht nachvollziehbar sind darüber hinaus die Ausführungen des Landgerichts Koblenz im Beschluss vom 22. Januar 2021 zur Bewertung des Umstands, dass der Beschwerdeführer zwei Langzeitausgänge ordnungsgemäß durchgeführt hat. Das Landgericht beschränkt sich auf die Feststellung, der Beschwerdeführer habe erkannt, dass eine Entlassung perspektivisch nur realisierbar sei, wenn er sich beanstandungsfrei führe. Es sei daher davon auszugehen, dass er auch künftige Langzeitausgänge beanstandungsfrei absolvieren werde. Das Landgericht misst damit der erfolgreichen Durchführung von angeordneten Lockerungsmaßnahmen keinerlei Aussagewert zu. Dies ist mit dem Grundsatz, dass Vollzugslockerungen für eine zutreffende Prognoseentscheidung besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGK 15, 390 <398 ff.> m.w.N.), nicht vereinbar. Die Verfahrensweise des Landgerichts dürfte zur Folge haben, dass für den Beschwerdeführer jedenfalls die erfolgreiche Durchführung von Lockerungsmaßnahmen nicht zu einer Verbesserung der Chance auf Wiedererlangung seiner Freiheit führen würde. Den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine menschenwürdige, die realistische Chance der Entlassung aus der Haft aufrechterhaltende Strafvollstreckung entspricht dies nicht.

dd) Schließlich setzen sich die Fachgerichte in den angegriffenen Beschlüssen unzureichend mit der Frage einer möglichen Reduzierung des verbliebenen Risikos der Begehung erneuter Sexualstraftaten des Beschwerdeführers durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen im Rahmen einer Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung auseinander.

(1) Sie beschränken sich insoweit auf die Feststellung, dass ein geeigneter sozialer Empfangsraum fehle, weil der Beschwerdeführer nicht bereit sei, eine Unterbringung in einer betreuten Wohnform außerhalb des im bekannten sozialen Umfelds im Raum (…) zu akzeptieren, und es in diesem Raum an einem entsprechenden Angebot fehle. Daher könne das Risiko weiterer Straftaten nicht durch geeignete Weisungen aufgefangen werden.

(2) Die Gerichte lassen dabei außer Betracht, dass der Sachverständige (…) ausgeführt hat, dass der Beschwerdeführer kein impulsiv handelnder Straftäter sei. Das Restrisiko weiterer Straftaten könne daher durch geeignete Weisungen reduziert werden. Als solche seien eine regelmäßige sozialarbeiterische Betreuung mit kontrollierenden Funktionen, die Untersagung des Besitzes von Gegenständen, die für voyeuristische Zwecke eingesetzt werden können, und eine dahingehende regelmäßige Untersuchung der Wohnung in Betracht zu ziehen.

Diesen Ausführungen kann nicht entnommen werden, dass aus Sicht des Sachverständigen die Überführung in eine betreute Wohnform die einzige Möglichkeit darstellt, um im Rahmen eines Entlassungssettings die Gefahr künftiger schwerer Sexualstraftaten des Beschwerdeführers auf das unvermeidbare Mindestmaß zu reduzieren. Dem entspricht, dass der Sachverständige bei seiner Anhörung vor dem Landgericht Koblenz am 3. Mai 2019 auf Nachfrage zum Fehlen einer entsprechenden Einrichtung im Raum (…) ausgeführt hat, dass ein „kontrollierender Aspekt“ beim Beschwerdeführer zwingend erforderlich und deshalb eine Entlassung in ein gewöhnliches Seniorenheim nicht ratsam sei. Bei der weiteren Anhörung vor dem Oberlandesgericht Koblenz am 9. Dezember 2019 lehnte der Sachverständige eine Entlassung in ein eigenständiges Wohnen nicht kategorisch ab. Zu diesem Zeitpunkt verfolgten der Beschwerdeführer und die Justizvollzugsanstalt allerdings den Plan eines freiwilligen Verbleibs beziehungsweise einer Aufnahme in den Wohneinrichtungen der Justizvollzugsanstalt. Eine solche Variante hielt der Sachverständige für begrüßenswert. Dass der Sachverständige für den Fall, dass eine Unterbringung auf dem Anstaltsgelände nicht infrage kommt, zu der Auffassung gelangt wäre, das verbleibende Restrisiko einer Entlassung unter strengen Bewährungsweisungen in eine eigene Wohnung könne nicht verantwortet werden, kann dem nicht entnommen werden.

(3) Ergänzend in Rechnung zu stellen ist, dass der Beschwerdeführerwährend der Phase des offenen Vollzugs, in der er für einen längeren Zeitraum über eine eigene Wohnung verfügte, nicht durch einschlägige Straftaten auffällig geworden ist.

(4) Vor diesem Hintergrund wäre es ungeachtet des Umstands, dass eine aufnahmebereite betreute Wohneinrichtung im Raum (…) nicht zur Verfügung steht und der Beschwerdeführer - angesichts seines Alters nachvollziehbarerweise - weiter entfernte Angebote ablehnt, Sache der Gerichte gewesen, sich mit der Möglichkeit einer Bewährungsaussetzung unter ausreichend risikominimierenden Auflagen gesondert zu befassen. Es erscheint - nicht zuletzt auch angesichts der erfolgreich absolvierten Langzeitausgänge - nicht von vornherein ausgeschlossen, dass angesichts der dem Beschwerdeführer durch den Sachverständigen attestierten fehlenden Impulsivität die Möglichkeit besteht, durch Bewährungsauflagen eine begleitende und kontrollierende Struktur zu schaffen, die die Gefahr erneuter, gegen das Leben gerichteter Sexualstraftaten auf das unvermeidbare Mindestmaß beschränkt. Auch dazu verhalten die Gerichte sich in den angegriffenen Entscheidungen nicht in dem angesichts der Vollzugsdauer gebotenen Umfang.

3. Nach dem Vorstehenden kann dahinstehen, ob verbleibende Zweifel hinsichtlich des Risikos künftiger Straftaten im Rahmen der Entscheidung nach § 57a StGB jedenfalls dann nicht zum Nachteil des Verurteilten gewertet werden dürfen, wenn die besondere Schwere der Schuld eine Fortsetzung der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht mehr gebietet. Ungeachtet der im Bereich der Sicherungsverwahrung geltenden Regelung des § 67d Abs. 3 StGB hat das Bundesverfassungsgericht es bislang nicht beanstandet, wenn Zweifel an einer günstigen Prognose im Rahmen der Strafaussetzungsentscheidung nach § 57a StGB zulasten des Gefangenen gewertet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 1991 - 2 BvR 1327/ 89 -, juris, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Mai 2011 - 2 BvR 942/11 -, Rn. 26).

II.

1. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist daher festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Koblenz vom 17. Mai 2019 - 7a StVK 55/18 - und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 9. Dezember 2019 - 2 Ws 474/19 - sowie die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 - 7a StVK 58/20 - und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021 - 2 Ws 162/21 - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Die Beschlüsse des Landgerichts Koblenz vom 22. Januar 2021 - 7a StVK 58/ 20 - und des Oberlandesgerichts Koblenz vom 29. April 2021 - 2 Ws 162/21 - sind aufzuheben und die Sache an das Landgericht Koblenz zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a 79 Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 355

Bearbeiter: Holger Mann