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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 3

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 151/15, Beschluss v. 16.11.2016, HRRS 2017 Nr. 3


BVerfG 2 BvR 151/15 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. November 2016 (OLG Dresden / LG Görlitz)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; einzelfallbezogene Gefährlichkeitsprognose; Konkretisierung von Art und Wahrscheinlichkeit künftig zu erwartender Delikte; steigende Begründungsanforderungen mit zunehmender Unterbringungsdauer; Abweichung von der Einschätzung eines Sachverständigen; Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht als mildere Maßnahmen); Rechtsschutzbedürfnis (Feststellungsinteresse nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d Abs. 2 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn der Betroffene zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist.

2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts - einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus - zählen.

3. Bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, indem die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen werden. Dabei sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung die von dem Untergebrachten ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.

4. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

5. Zu verlangen ist eine einzelfallbezogene Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen. Dabei ist auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten, die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, den Zustand des Untergebrachten sowie seine künftig zu erwartenden Lebensumstände abzustellen.

6. Eine Fortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn sie ohne jegliche Konkretisierung der von dem seit fast elf Jahren Untergebrachten zu erwartenden Delikte lediglich feststellt, es sei von einer niedrigen bis mäßig erhöhten Gefahr neuer Straftaten auszugehen, deren Häufigkeit und Schweregrad eng an das Trinkverhalten des Betroffenen gekoppelt seien.

7. Nimmt das Rechtsmittelgericht entgegen der Einschätzung des erstinstanzlich hinzugezogenen Sachverständigen eine hohe Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten an, so hat es sich mit dem Gutachten auseinanderzusetzen und seine davon abweichende Entscheidung zu begründen. Der Verweis auf zwei Alkoholrückfälle des Untergebrachten, während derer es zu keinen Straftaten kam, genügt insoweit nicht.

8. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann. Ausführungen sind etwa dann erforderlich, wenn der Betroffene bereits längere Zeit zur Erprobung in einem Wohnheim untergebracht war, in dem engmaschige Alkoholkontrollen gewährleistet sind.

Entscheidungstenor

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2014 - 2 Ws 496/14 - und des Landgerichts Görlitz - Außenkammern Bautzen - vom 22. Oktober 2014 - 14 I StVK 21/14 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Das Land Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus.

I.

1. Das Landgericht Dresden sprach den Beschwerdeführer mit Urteil vom 24. Juni 2003 vom Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung, der Sachbeschädigung und des Hausfriedensbruchs wegen Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB frei, weil er zu den jeweiligen Tatzeiten aufgrund einer sogenannten Gamma-Alkoholabhängigkeit an einem hirnorganischen Psychosyndrom gelitten habe und deshalb nicht in der Lage gewesen sei, seinen aggressiven Impulsdurchbrüchen entgegenzusteuern. Außerdem ordnete das Landgericht die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Dabei stellte das Landgericht unter anderem fest, dass der Beschwerdeführer seine Lebensgefährtin mehrmals ohne rechtfertigenden Grund mit der Faust ins Gesicht geschlagen und am Hals gewürgt hatte, wodurch diese Hämatome im Gesicht und Schmerzen erlitt. Weiterhin ging es von einer gesteigerten Gefährlichkeit des Beschwerdeführers aus, die sich auch darin gezeigt habe, dass er beabsichtigte, einen Freund von hinten mit einem Messer zu stechen. Das Opfer sei von einer Person durch Zuruf gewarnt worden, so dass es sich habe zur Seite drehen können und lediglich die Jacke durchstochen worden sei.

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 22. Oktober 2014 ordnete die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Görlitz - Außenkammern Bautzen - nach Anhörung des Beschwerdeführers und des beauftragten Sachverständigen erneut die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Die Unterbringung des Beschwerdeführers habe fortzudauern, weil nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB nicht zu erwarten sei, dass er außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Der Sachverständige komme in seinem Gutachten vom 30. Juni 2014 zu dem Ergebnis, dass bei der durch die Tat zu Tage getretenen Gefährlichkeit von einer niedrigen bis mäßig erhöhten Gefahr neuer Straftaten auszugehen sei, wobei Häufigkeit und Schweregrad der Straftaten eng an das Trinkverhalten des Beschwerdeführers mit der Gefahr des Abgleitens in eine Trinkphase gekoppelt seien. Zwei Alkoholrückfälle des Beschwerdeführers beschreibe der Sachverständige als eher sporadisches Trinken, das durch engmaschige Kontrollen und einen strukturierten Tagesablauf eingeschränkt werden könne.

Dem Beschwerdeführer sei mit Ausnahme der beiden Rückfälle seit Beginn seines Aufenthaltes in Dresden eine günstige Entwicklung zu bescheinigen. Gleichwohl sei aufgrund der Rückfälle eine erneute (weitere) Erprobung des Beschwerdeführers außerhalb des Maßregelvollzugs erforderlich, so dass gegenwärtig die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

3. Die gegen den landgerichtlichen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Dresden mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 17. Dezember 2014 als unbegründet.

Es drohten bei einer Freilassung des Beschwerdeführers aufgrund seines nach wie vor bestehenden Krankheitsbildes auch weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche rechtswidrige Gewalttaten wie die verfahrensgegenständlichen Anlasstaten, so dass die Anordnung der Fortdauer des Maßregelvollzugs trotz dessen langer Dauer gerechtfertigt sei. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers könne für die Beurteilung seiner Gefährlichkeit auch auf frühere Übergriffe, insbesondere eine Messerattacke, abgestellt werden.

4. Die Vollstreckung der Maßregel gegen den Beschwerdeführer wurde zwischenzeitlich durch Beschluss des Landgerichts Görlitz - Außenkammern Bautzen - vom 25. Juni 2015 zur Bewährung ausgesetzt.

II.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Die Gerichte verhielten sich nicht dazu, wie hoch das Maß der Gefährdung durch den Beschwerdeführer sei. Dies sei jedoch insbesondere deshalb erforderlich gewesen, weil alle drei Anlasstaten (Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch) mit dem Höchstmaß einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als fünf Jahren bedroht seien und der Sachverständige nur eine niedrig bis mäßig erhöhte Gefahr neuer Straftaten festgestellt habe. Darüber hinaus sei nicht ersichtlich, weshalb von der Einschätzung des erfahrenen Sachverständigen abgewichen werde.

Den Beschlüssen fehle es zudem an einer Abwägung dahingehend, ob eine weitere Unterbringung nach fast elf Jahren ohne jegliche Straftaten noch verhältnismäßig sei. Die Dauer der Unterbringung übersteige das Höchstmaß der Freiheitstrafe für die Anlasstaten um ein Vielfaches. Daher hätten sich die Gerichte damit auseinandersetzen müssen, warum die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch weiterhin aufzuwiegen vermöge.

Den Beschlüssen lasse sich zudem nicht entnehmen, ob dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit auch durch geeignete Auflagen der Führungsaufsicht oder eines Bewährungshelfers hätte Rechnung getragen werden können.

III.

1. a) Das Sächsische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.

b) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für erfolgversprechend.

Die Feststellung des Oberlandesgerichts, dass bei einer Freilassung des Beschwerdeführers weiterhin mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche rechtswidrige Gewalttaten wie die verfahrensgegenständlichen Anlasstaten drohten, werde weder durch die Gründe des angefochtenen Beschlusses des Oberlandesgerichts noch durch den Inhalt des in Bezug genommenen Beschlusses des Landgerichts getragen. Im Beschluss des Landgerichts finde sich einzig der Hinweis auf die beiden Alkoholrückfälle im Jahr 2014 und die Ausführungen des Sachverständigen, der aber lediglich von einer „leichten bis mäßigen“ Gefahr neuer Übergriffe ausgehe. Auch im Beschluss des Oberlandesgerichts fehle es an einer hinreichend konsistenten Darlegung der vom Beschwerdeführer drohenden Gefahr. Worauf sich die Annahme einer hohen Wahrscheinlichkeit für „aggressive Impulsdurchbrüche“ gründe, sei dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts nicht entnehmbar. Einer solchen positiven Feststellung hätte es mit Blick auf das Gewicht des betroffenen Freiheitsrechts des Beschwerdeführers jedoch bedurft. Da es bereits an einer tragfähigen Darlegung von Umfang und Ausmaß der vom Beschwerdeführer drohenden Gefahr mangele, fehle es auch für die im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu treffenden Abwägungsentscheidung an einer tragfähigen Grundlage.

2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die staatsanwaltschaftlichen Akten vorgelegen.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die anzulegenden Maßstäbe bei der Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 70, 297 ff.). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht deshalb unzulässig, weil der Beschwerdeführer zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen wurde. Denn die angegriffenen Entscheidungen waren Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in das Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <389>). Der Beschwerdeführer hat daher ein fortbestehendes, schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 91, 125 <133>; 104, 220 <234 f.>).

II.

Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>).

b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 58, 208 <230>).

c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das hier bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für die Entscheidung über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass die Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden (BVerfGE 70, 297 <311>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in die Prüfung der Aussetzungsreife der Maßregel nach § 67d Abs. 2 StGB einzubeziehen (integrative Betrachtung). Die darauf aufbauende Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (vgl. BVerfGE 70, 297 <312 f.>).

d) Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Bei langdauernden Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) wirkt sich das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch auf die an die Begründung einer Entscheidung zu stellenden Anforderungen aus. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit wachsender Intensität des Freiheitseingriffs wächst auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, NStZ-RR 2013, S. 72 <73>).

Zu verlangen ist die Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 -, juris, Rn. 42). Dabei ist auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist aber auch auf die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind. Dazu gehören der Zustand des Untergebrachten und die künftig zu erwartenden Lebensumstände (vgl. BVerfGE 70, 297 <314 f.>; BVerfGK 16, 501 <506>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Februar 2014 - 2 BvR 1795/12, 2 BvR 1852/13 -, juris, Rn. 40; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, juris, Rn. 15).

Genügen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus diesen Maßstäben nicht, so führt dies dazu, dass die Freiheit der Person des Untergebrachten nicht rechtmäßig eingeschränkt werden kann; sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist verletzt, weil es an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt (vgl. BVerfGE 70, 297 <316 f.>).

2. Diesen Anforderungen genügen die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Görlitz vom 22. Oktober 2014 und des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2014 nicht, weil sie die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe verfehlen. Es fehlt bereits an der ausreichenden Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr künftiger rechtswidriger Taten (a). Daneben wird in den angegriffenen Beschlüssen nicht ausreichend dargelegt, dass die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das angesichts der Dauer der Unterbringung zunehmende Gewicht seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen vermag (b). Schließlich fehlt auch eine Befassung mit der Frage, ob dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit nicht auch durch den Beschwerdeführer weniger belastende Maßnahmen Rechnung hätte getragen werden können (c).

a) Die Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten kann den angegriffenen Beschlüssen nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang entnommen werden.

aa) Das Landgericht stellt insoweit lediglich fest, dass nicht zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Der Sachverständige sei in seinem Gutachten vom 30. Juni 2014 zu dem Ergebnis gelangt, dass „bei der durch die Tat zu Tage getretenen Gefährlichkeit von einer niedrigen bis mäßig erhöhten Gefahr neuer Straftaten auszugehen“ sei, wobei „Häufigkeit und Schweregrad der Straftaten eng an das Trinkverhalten des Beschwerdeführers mit der Gefahr des Abgleitens in eine Trinkphase gekoppelt“ seien. Darüber hinaus verweist das Landgericht auf zwei Alkoholrückfälle des Beschwerdeführers, aufgrund deren die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

Eine Konkretisierung der Art der vom Beschwerdeführer künftig zu erwartenden Straftaten ergibt sich hieraus nicht. Das Landgericht nimmt noch nicht einmal auf die Delikte, die der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB zugrunde lagen, Bezug. Erst recht ist den Ausführungen eine Bestimmung des Grades der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten des Beschwerdeführers nicht zu entnehmen.

bb) Das Oberlandesgericht geht zwar von einer „hohen Wahrscheinlichkeit erheblicher rechtswidriger Gewalttaten wie den verfahrensgegenständlichen Anlasstaten“ aus. Dabei stellt es die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gelten, dar. Eine Übertragung dieser Maßstäbe unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles findet jedoch nicht statt, so dass es auch der Entscheidung des Oberlandesgerichts an der verfassungsrechtlich erforderlichen Begründungstiefe mangelt.

(1) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob mit dem Hinweis auf „Gewalttaten wie die verfahrensgegenständlichen Anlasstaten“ eine hinreichende Konkretisierung der Art der künftig drohenden Straftaten stattgefunden hat, da der Beschwerdeführer unterschiedliche Delikte begangen hatte und nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass die Gefahr künftiger Begehung jedes dieser Delikte ausreicht, die Fortdauer der Unterbringung als verhältnismäßig ansehen zu können.

(2) Außerdem ist die Annahme einer „hohen Wahrscheinlichkeit“ künftiger Straftaten nicht nachvollziehbar. Der Sachverständige hatte in seinem Gutachten vom 30. Juni 2014 lediglich eine „leichte bis mäßige“ Gefahr neuer Übergriffe in Abhängigkeit vom Trinkverhalten des Beschwerdeführers festgestellt. Das Oberlandesgericht hätte sich daher bei seiner Prognose einer hohen Wahrscheinlichkeit künftiger Gewalttaten zumindest mit diesem Gutachten auseinandersetzen und seine abweichende Einschätzung begründen müssen. Der bloße Hinweis auf zwei Fälle des Alkoholkonsums des Beschwerdeführers während seiner Unterbringung, in deren Verlauf es zu keinerlei strafrechtlich relevantem Verhalten kam, genügt insoweit nicht.

b) Da die Bestimmung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher rechtswidriger Taten den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt, fehlt es in dem angegriffenen Beschluss an einer ausreichenden Grundlage für die gebotene Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers und den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit. Dabei wäre zu berücksichtigen gewesen, dass sich der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Fortdauerentscheidung bereits seit fast elf Jahren - und damit angesichts der eher geringfügigen Anlassdelikte langdauernd - im Maßregelvollzug befunden hat, so dass es einer vertiefteren Abwägung zwischen dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit und dem zunehmenden Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers bedurft hätte. Die angegriffenen Beschlüsse lassen aber weder erkennen, welche Rechtsgüter bei der Beendigung der Unterbringung des Beschwerdeführers in welchem Umfang bedroht sind, noch kann ihnen entnommen werden, welches Gewicht dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers angesichts der Dauer der Unterbringung zuzumessen ist.

c) Schließlich verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse auch nicht zu der Frage, ob im Falle einer Aussetzung des Maßregelvollzugs zur Bewährung den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit durch Maßnahmen der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht und der damit verbindbaren weiteren Maßnahmen der Aufsicht und Hilfe (§§ 68a, 68b StGB) hinreichend hätte Rechnung getragen werden können. Dies wäre jedoch insbesondere im Hinblick darauf erforderlich gewesen, dass der Beschwerdeführer sich bereits für längere Zeit in Wohnheimen zur Erprobung befunden hatte, er dabei lediglich durch zwei Alkoholrückfälle auffällig geworden war und der Sachverständige ausgeführt hatte, dass das damit verbundene Risiko durch engmaschige Kontrollen eingeschränkt werden könne.

III.

Demgemäß ist festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2014 - 2 Ws 496/14 - und des Landgerichts Görlitz - Außenkammern Bautzen - vom 22. Oktober 2014 - 14 I StVK 21/14 - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen. Einer Aufhebung der Beschlüsse bedarf es hingegen nicht, da sie durch die Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel gegen den Beschwerdeführer zur Bewährung durch Beschluss des Landgerichts Görlitz - Außenkammern Bautzen - vom 25. Juni 2015 mittlerweile prozessual überholt sind.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 3

Bearbeiter: Holger Mann