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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 373

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 711/12, Beschluss v. 30.03.2012, HRRS 2012 Nr. 373


BVerfG 1 BvR 711/12 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 30. März 2012 (LG Hamburg)

Einstweilige Anordnung; Folgenabwägung; Rundfunkfreiheit; Fernsehaufnahmen; Bildberichterstattung; Informationsinteresse der Öffentlichkeit; Persönlichkeitsrecht; Unschuldsvermutung.

Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; § 171a GVG; § 176 GVG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Folgenabwägung im Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG über eine Entscheidung nach § 176 GVG, mit der die Fernsehberichterstattung über eine Hauptverhandlung eingeschränkt wird, sind das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten gegeneinander abzuwägen.

2. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit orientiert sich an der Person des Angeklagten und den besonderen Umständen der ihm zur Last gelegten Straftat, daneben jedoch auch an den zur Mitwirkung an dem Verfahren berufenen Personen.

3. Dem Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten kommt im Strafverfahren besondere Bedeutung zu. Beim Angeklagten gilt dies verstärkt, wenn besonders persönlichkeitsrelevante Fragen - wie etwa eine psychische Erkrankung - zu erörtern sind, sowie allgemein unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung, der jedoch bei einem Geständnis an Gewicht verliert.

4. Hat eine Straftat besondere mediale Aufmerksamkeit erfahren, weil das Opfer mit Waffengewalt entführt und in einer zu einer Art Gefängnis umgebauten Wohnung eingekerkert werden sollte, so schränkt ein umfassendes Verbot von Fernsehaufnahmen auch außerhalb des Sitzungssaals das Informationsinteresse der Öffentlichkeit übermäßig ein, auch wenn der Angeklagte zwar geständig, jedoch mutmaßlich schuldunfähig ist.

Entscheidungstenor

Die Beschlüsse des Landgerichts Hamburg vom 9. März 2012 - 606 KLs 25/11 - 3190 Js 27/11 - und vom 24. Februar 2012 - 606 KLs 25/11 - 3190 Js 27/11 - werden einstweilen in ihrer Wirksamkeit ausgesetzt.

Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei Beschlüsse der Großen Strafkammer 6 des Landgerichts Hamburg vom 24. Februar 2012 und vom 9. März 2012, durch die der Antrag der Beschwerdeführerin auf Zulassung von Fernsehaufnahmen anlässlich eines Strafverfahrens an den Verhandlungstagen außerhalb der Sitzungen, im Sitzungssaal und im Eingangsbereich, um die Prozessbeteiligten abzulichten, abgelehnt wurde. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihres Grundrechts auf Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und der Rechtsschutzgewähr gemäß Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG beziehungsweise des allgemeinen Justizgewähranspruchs gemäß Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.

1. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren ist ein 30-jähriger Mann angeklagt, der am 19. August 2011 mit einer Waffe und einer selbst gebauten Handgranate eine israelische Studentin, die er über einen Arbeitskollegen kennengelernt hatte, aus ihrem Studentenwohnheim entführte und sie in seine zu einer Art Gefängnis umgebaute Wohnung verbrachte. Die Wohnung war mit Stacheldraht vor den Fenstern und gesicherten Türen versehen. In einer Ecke stand eine schallisolierte Telefonzelle. Dem Opfer gelang es, aus einem Fenster der Wohnung zu fliehen. Dem Angeklagten werden versuchte Geiselnahme, Freiheitsberaubung und Verstöße gegen das Waffen- und Kriegswaffenkontrollgesetz vorgeworfen. Seine Schuldfähigkeit ist zweifelhaft, und in dem Strafverfahren wird über eine etwaige Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB zu befinden sein. Laut Presseberichten hat er die Tat am zweiten Verhandlungstag gestanden.

Die Beschwerdeführerin ist freie TV-Journalistin und betreibt als Inhaberin die Firma T. ..., die auch audiovisuelle Gerichtsberichterstattung anbietet. Sie berichtet über das streitgegenständliche Strafverfahren und beabsichtigt, an den letzten beiden Verhandlungstagen Fernsehaufnahmen aller Verfahrensbeteiligter, insbesondere des Angeklagten und seiner Verteidigerin, anzufertigen und stellte bei Gericht einen entsprechenden Antrag.

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 24. Februar 2012 lehnte der Vorsitzende der Großen Strafkammer 6 den Antrag ab. Er begründete dies damit, dass das Persönlichkeitsrecht des Angeklagten das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiege. Zu berücksichtigen seien die Unschuldsvermutung und die Tatsache, dass für das Verfahren Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten bestimmend seien, und dass über eine etwaige Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB zu befinden sei, was das eingeholte psychiatrische Gutachten nahelege. Bei dieser Prozesslage komme gemäß § 171a GVG sogar der vollständige Ausschluss der Öffentlichkeit bis zur Urteilsverkündung in Betracht. Das Verfahren sei auch nicht von zeitgeschichtlicher Bedeutung, auch nicht für den regionalen Bereich Hamburgs. Den kranken Angeklagten auch noch durch Bildberichterstattung - selbst in anonymisierter Form - in die Öffentlichkeit zu bringen, befriedige bei der hier gegebenen Sachlage kein nachvollziehbares, berechtigtes Informationsinteresse.

3. Den "Widerspruch" der Beschwerdeführerin wies der Stellvertreter des Vorsitzenden mit angegriffenem Beschluss vom 9. März 2012 im Wesentlichen unter Bezugnahme auf den angefochtenen Beschluss zurück.

Die Öffentlichkeit wurde bislang nicht gemäß § 171a GVG ausgeschlossen.

4. Die Beschwerdeführerin rügt unter anderem die Verletzung ihres Grundrechts auf Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Folgenabwägung rechtfertige den Erlass der einstweiligen Anordnung.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und im Wesentlichen begründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Anordnungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG, mit denen die Anfertigung von Bild- und Fernsehaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung untersagt oder Beschränkungen unterworfen wird, stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 91, 125 <134 f.>; 119, 309 <320 f.>). Beim Erlass solcher Anordnungen hat der Vorsitzende der Bedeutung der Rundfunkfreiheit Rechnung zu tragen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfGE 91, 125 <138 f.>; 119, 309 <321>). Bei Anlegung dieses Maßstabes ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet.

3. Die danach gebotene Folgenabwägung fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus.

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich aber die Verfassungsbeschwerde als begründet, so könnte eine Fernsehbildberichterstattung über das Strafverfahren nicht stattfinden. Bei der Gewichtung der Nachteile ist in Bezug auf die Rundfunkfreiheit nicht nur die Schwere der Tat, sondern auch die öffentliche Aufmerksamkeit zu berücksichtigen, die das Strafverfahren etwa aufgrund besonderer Umstände und Rahmenbedingungen gewonnen hat. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird umso stärker sein, je mehr sich die Straftat durch ihre besondere Begehungsweise oder die Schwere ihrer Folgen von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt (vgl. BVerfGE 35, 202 <230 f.>; 119, 309 <321 f.>).

Die besonderen Umstände der hier in Rede stehenden Straftat - Entführung des Opfers mit Waffengewalt sowie die vorgesehene Einkerkerung in einer zu einer Art Gefängnis umgebauten Wohnung - begründen ein gewichtiges Informationsinteresse der Öffentlichkeit an dem in Rede stehenden Strafverfahren.

Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ist aber regelmäßig nicht allein auf diesen und die ihm zur Last gelegten Taten, sondern auch auf diejenigen Personen gerichtet, die in dem der besonderen Aufmerksamkeit unterliegenden Fall als Mitglieder des Spruchkörpers, als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft oder als zur Mitwirkung an der Verhandlung berufener Rechtsanwalt an der Rechtsfindung mitwirken (vgl. BVerfGE 119, 309 <322>).

Mit den angegriffenen Maßnahmen wird die Berichterstattung über das Gerichtsverfahren in fernsehtypischer Weise durch aktuelle Film- und Tonaufnahmen aus dem Gerichtssaal in Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten am Rande der mündlichen Verhandlung praktisch vollständig untersagt. Ohne solche Bewegtbilder lässt sich unter den Bedingungen des Fernsehens in diesem Medium nur sehr begrenzt über ein Ereignis überhaupt noch berichten. Ausgeschlossen wäre hierdurch nicht nur eine näher individualisierende Ablichtung des Angeklagten, sondern eine Aufnahme seiner Person überhaupt sowie auch eine bildliche Dokumentation des Erscheinens und der Anwesenheit aller anderen Verfahrensbeteiligten im Sitzungssaal.

Hierin liegt ein schwerer Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.

b) Erginge die einstweilige Anordnung dagegen, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, wären Filmaufnahmen vom Angeklagten im Umkreis des Strafverfahrens gefertigt und verbreitet worden, auf die weder die Beschwerdeführerin noch die Öffentlichkeit Anspruch hatten. Der hierin liegende Nachteil kann allerdings erhebliches Gewicht haben.

In Gerichtsverfahren gewinnt der Persönlichkeitsschutz der Verfahrensbeteiligten eine über den allgemein in der Rechtsordnung anerkannten Schutzbedarf hinausgehende Bedeutung. Dies gilt mit besonderer Intensität für den Schutz der Angeklagten im Strafverfahren, die sich unfreiwillig der Verhandlung und damit der Öffentlichkeit stellen müssen (vgl. BVerfGE 103, 44 <68>; 119, 309 <322 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. November 2008 - 1 BvQ 46/08 - NJW 2009, S. 350 <351>). Einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Person des Täters, welches sich auf die Schwere der Tat und ihre besonderen Umstände stützt, kann entgegenstehen, dass der Angeklagte, für den die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Unschuldsvermutung streitet, im Falle einer Fernsehberichterstattung, die sein - insbesondere nicht anonymisiertes - Bildnis zeigt, Gefahr läuft, eine erhebliche Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts zu erleiden, die im Einzelfall trotz späteren Freispruches schwerwiegende und nachhaltige Folgen haben kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. November 2008 - 1 BvQ 46/08 -, NJW 2009, S. 350 <352>). Dies gilt insbesondere, wenn sich im Laufe des Verfahrens herausstellt, dass der Angeklagte schuldunfähig und in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen ist.

Die nach der Begründung der angegriffenen Entscheidung zu erwartenden Nachteile für den geordneten Ablauf der Sitzung sowie für das Persönlichkeitsrecht des Angeklagten wiegen indes vorliegend dennoch nicht so schwer, als dass sie eine absolute Beschränkung der Bildberichterstattung rechtfertigten.

Zum einen kann das Argument der Unschuldsvermutung an Gewicht verlieren, wenn der Angeklagte - wie hier - seine Tat gestanden hat (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 3048/11 -, juris). Zum anderen bestehen hier, soweit aus der Begründung der angegriffenen Entscheidung ersichtlich, keine Anhaltspunkte dafür, dass Bildaufnahmen von dem Angeklagten spezifische Auswirkungen auf seinen psychischen Zustand haben. Die von dem Landgericht herangezogene Ratio des § 171a GVG besteht darin, dass Erörterungen in der Hauptverhandlung in Strafsachen über die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus regelmäßig Sachverhalte höchstpersönlicher Art betreffen, die die Intimsphäre berühren und von Einfluss sein können auf die Erfolgsaussichten der Unterbringung und die spätere Resozialisierung (Kissel/Mayer, GVG, 6. Aufl. 2010, § 171a Rn. 1). Die hier von der Antragstellerin beabsichtigten Bildaufnahmen sollen und können aber nur außerhalb der Hauptverhandlung aufgenommen werden, § 169 GVG, und betreffen auch nicht die Intimsphäre des Angeklagten. Ungeachtet der zurecht hervorgehobenen gewichtigen Schutzbelange eines Angeklagten, der möglicherweise schuldunfähig ist, lässt die Begründung der angegriffenen Entscheidung nicht erkennen, dass vorliegend auch solche Ablichtungen außerhalb der Hauptverhandlung in der von der Antragstellerin gewünschten Weise mittels einer Poollösung für den Angeklagten mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden wären.

4. Die angegriffenen Beschlüsse sind einstweilen in ihrer Wirksamkeit auszusetzen. Der Vorsitzende der zuständigen Strafkammer wird zu entscheiden haben, ob zum Schutz des Angeklagten für den weiteren Fortgang des Strafverfahrens erneut eine Anordnung gemäß § 176 GVG geboten ist, mit der die Bildberichterstattung untersagt oder eingeschränkt wird. Er wird hierbei nach Maßgabe einer Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten zu berücksichtigen haben, dass ein Verbot nur dann in Betracht kommt, wenn dem Schutz der kollidierenden Belange nicht auch durch eine beschränkende Anordnung, etwa indem nur eine anonymisierte Bildaufnahme des Angeklagten gestattet wird, Rechnung getragen werden kann (vgl. zu den hierfür maßgeblichen Kriterien BVerfGE 119, 309 <325 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. April 2009 - 1 BvR 654/09 -, NJW 2009, S. 2117).

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 373

Externe Fundstellen: NJW 2012, 2178

Bearbeiter: Holger Mann