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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 654

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 571/10, Beschluss v. 30.06.2010, HRRS 2010 Nr. 654


BVerfG 2 BvR 571/10 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. Juni 2010 (LG Baden-Baden/BGH)

Vorläufige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (keine Entlassung aus der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach dem Urteil EGMR M. v. Deutschland); BGH 1 StR 595/09.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 32 BVerfGG; § 66b Abs. 2 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Auch nach der Rechtskraft des Urteils des EGMR im Fall M. v. Deutschland vom 17. Dezember 2009 (HRRS 2010 Nr. 65) führt die für eine einstweilige Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren (§ 32 BVerfGG) erforderliche Folgenabwägung nicht dazu, dass ein Beschwerdeführer sofort aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen ist. Die durch das Urteil des EGMR aufgeworfenen Rechtsfragen bedürfen einer Klärung im Hauptsacheverfahren.

Entscheidungstenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

1. Der wegen zahlreicher schwerer Sexualstraftaten vorbestrafte Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die anlässlich seiner letzten Verurteilung vom 2. Februar 1990 wegen versuchter Vergewaltigung und wegen Mordes nachträglich gemäß § 66b Abs. 2 StGB angeordnet worden ist. Im Hinblick auf das zwischenzeitlich rechtskräftige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rechtssache M. ./. Deutschland) beantragt er, die Vollziehung der Maßregel im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen.

2. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Auch in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden (vgl. BVerfGE 66, 39 <56>; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Etwas anderes gilt nur, wenn sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht hingegen die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 87, 334 <338>; 89, 109 <110>; stRspr).

3. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Die aufgeworfenen Rechtsfragen werden im Hauptsacheverfahren zu klären sein.

4. Die danach gebotene Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte aber die Verfassungsbeschwerde später Erfolg, so entstünde dem Beschwerdeführer in der Zwischenzeit durch den Vollzug der Sicherungsverwahrung ein schwerer, nicht wieder gutzumachender Verlust an persönlicher Freiheit. Wenn die einstweilige Anordnung erginge und der Verfassungsbeschwerde später der Erfolg zu versagen wäre, entstünden ebenfalls schwerwiegende Nachteile. Das Landgericht Baden-Baden hat auf der Grundlage zweier psychiatrischer Sachverständigengutachten nachvollziehbar dargelegt, dass der Beschwerdeführer einen Hang zu schweren Sexualstraftaten (sexueller Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung) habe und deshalb im Falle seiner Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit entsprechende Delikte verüben werde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schweren Schaden nehmen würden. Angesichts der besonderen Schwere der drohenden Straftaten überwiegt das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit das Interesse des Beschwerdeführers an der Wiedererlangung seiner persönlichen Freiheit.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 654

Bearbeiter: Stephan Schlegel