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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 459

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 249/10, Beschluss v. 01.03.2010, HRRS 2010 Nr. 459


BVerfG 1 BvR 249/10 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 1. März 2010 (LG Stuttgart/AG Böblingen)

Fristbeginn für die Verfassungsbeschwerde (maßgeblicher Zeitpunkt bei in Anwesenheit verkündeten Urteilen nach § 35 Abs. 1 StPO).

§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 2 Abs. 2 JGG; § 35 Abs. 1 StPO; Nr. 140 Abs. 1 Satz 1 RiStBV

Leitsatz des Bearbeiters

Soweit eine Bekanntmachung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung lediglich auf Grundlage von Verwaltungsvorschriften oder langjähriger gerichtlicher Übung erfolgt, stellt dies keine für den Fristbeginn maßgebliche Mitteilung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG dar. Im Falle eines nach § 35 Abs. 1 StPO in Anwesenheit verkündeten Strafurteils kommt es daher nicht auf eine spätere Zustellung oder Bekanntgabe des vollständig abgefassten Urteils, sondern auf den Zeitpunkt der Verkündung an.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da Annahmegründe (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da sie nicht binnen der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eingelegt worden ist.

Gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2, 3 BVerfGG beginnt die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde bereits mit Verkündung der Entscheidung zu laufen, wenn die Zustellung oder Bekanntgabe einer in vollständiger Form abgefassten Entscheidung in den maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften nicht zwingend vorgeschrieben ist (vgl. BVerfGE 9, 109 <114 ff.>; 18, 192 <193 ff.> ). So liegt es hier. Die Strafprozessordnung, die gemäß § 2 Abs. 2 JGG im Jugendgerichtsverfahren Anwendung findet, sieht die Zustellung oder Bekanntgabe des letztinstanzlichen Urteils in vollständig abgefasster Form nicht zwingend vor; vielmehr sind Abschriften der Entscheidungen, die in Anwesenheit des Betroffenen gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 StPO durch Verkündung bekannt gemacht werden, nur auf Antrag zu erteilen, § 35 Abs. 1 Satz 2 StPO. Soweit in Praxis tatsächlich, etwa auf Grundlage von Nr. 140 Abs. 1 Satz 1 RiStBV auf andere Weise verfahren wird und dem Verurteilten regelmäßig auch ohne Antrag eine in vollständiger Form abgefasste Ausfertigung rechtskräftiger Urteile zumindest formlos übersandt wird, ist dies für die Frage des Fristbeginns unerheblich. Der Gesetzgeber hat die Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, wonach es auf den Zeitpunkt der Zustellung oder Bekanntmachung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung dann ankommt, wenn diese nach den "maßgebenden verfahrensrechtlichen Vorschriften" von Amts wegen vorzunehmen ist, bewusst gewählt, um sicherzustellen, dass nur verfahrensrechtlich notwendige Mitteilungen den Lauf der Frist beginnen lassen. Soweit eine Bekanntmachung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung lediglich auf Grundlage von Verwaltungsvorschriften oder langjähriger gerichtlicher Übung erfolgt, stellt dies keine für den Fristbeginn maßgebliche Mitteilung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG dar (vgl. BVerfGE 9, 109 <116 ff.>; 18, 192 <193 ff.> ). Im Falle eines in Anwesenheit verkündeten Strafurteils kommt es daher nicht auf eine spätere Zustellung oder Bekanntgabe des vollständig abgefassten Urteils, sondern auf den Zeitpunkt der Verkündung an (vgl. statt vieler Hömig, Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München, Loseblatt, 31. Erg.Lieferung, Stand: Oktober 2009, § 93 Rn. 20; Lechner/Zuck, BVerfGG, 5. Aufl., München 2006, § 93 Rn. 31; vgl. mittelbar auch BVerfGE 12, 113 <123>; 20, 336 <342>; 21, 245 <248>; 28, 151 <159>).

Das Jugendgerichtsgesetz sieht eine hiervon abweichende Regelung nicht ausdrücklich, jedenfalls nicht mit der für die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG gebotenen Eindeutigkeit vor (vgl. anders allein Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl., München 2009, § 54 Rn. 45).

Dem Interesse des Betroffenen, sich über die Erhebung der Verfassungsbeschwerde erst dann schlüssig werden zu müssen, wenn er anhand des vollständig abgefassten Urteils prüfen kann, ob seine Grundrechte beeinträchtigt sind, trägt § 93 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbsatz BVerfGG Rechnung. Danach hat der Betroffene die Möglichkeit, den Lauf der Verfassungsbeschwerdefrist zu unterbrechen, indem er schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle die Erteilung einer in vollständiger Form abgefassten Entscheidung beantragt.

Die Beschwerdeführer haben nicht dargelegt, dass das Berufungsurteil, welches hier gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 JGG den Rechtsweg abschließt, ausnahmsweise in ihrer Abwesenheit verkündet worden wäre, so dass die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde gemäß § 93 Abs. 1 Satz 3 BVerfGG mit Verkündung des Berufungsurteils am 28. Oktober 2009 zu laufen begann. Da sie auch nicht dargelegt haben, dass sie binnen der Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG einen Antrag nach § 93 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbsatz BVerfGG gestellt hätten, ist die am 16. Januar 2010 eingegangene Verfassungsbeschwerde verfristet.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 459

Bearbeiter: Stephan Schlegel