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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 740

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2846/09, Beschluss v. 08.06.2011, HRRS 2011 Nr. 740


BVerfG 2 BvR 2846/09 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 8. Juni 2011 (BGH / LG Berlin)

Nachträgliche Sicherungsverwahrung; Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit (strikte Prüfung; erhöhte Anforderungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 66b Abs. 1 StGB; § 66 Abs. 3 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) verstößt § 66b Abs. 1 StGB, wie die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung insgesamt, gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG herzuleitende Abstandsgebot. Die Vorschriften dürfen längstens bis zum 31. Mai 2013 und nur nach Maßgabe der in dem Urteil getroffenen Weitergeltungsanordnung angewendet werden. Danach ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung in der Regel nur verhältnismäßig, wenn von dem Verurteilten eine konkrete Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten ausgeht.

2. Soweit eine Vorschrift darüber hinaus ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen beeinträchtigt, ist dessen (weitere) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nur noch dann verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten abzuleiten ist und wenn bei ihm eine psychische Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes besteht.

3. Die Vorschriften der § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB i. V. m. § 66 Abs. 3 StGB beeinträchtigen ein schutzwürdiges Vertrauen, indem sie die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auch dann ermöglichen, wenn bei der Verurteilung wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen noch keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. Sie sind daher nur nach Maßgabe der strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung weiter anwendbar.

4. Auch in weiteren denkbaren Fallkonstellationen, in denen über die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 genannten Fälle hinaus die Anwendung einer Norm in ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen eingreift, sind die Gerichte gehalten, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind.

Entscheidungstenor

1. Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Februar 2009 - (540) M 13 / 1 Kap Js 2826/96 VRs (14/08) - und das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09 - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.

2. Damit wird der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 26. November 2009 - 5 StR 296/09 - gegenstandslos.

3. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin haben dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 50.000,00 € (in Worten: fünfzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde wendet sich gegen die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 StGB.

I.

§ 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) ermöglichen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auch in solchen Fällen, in denen zum Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen keine primäre Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. Mit einer Änderung von Satz 1 und der Einführung von Satz 2 der Vorschrift reagierte der Gesetzgeber auf eine restriktive Auslegung des § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB. Der Bundesgerichtshof hatte die Frage der Anwendbarkeit der Norm aufgeworfen, wenn zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung aus Rechtsgründen keine originäre Sicherungsverwahrung verhängt werden durfte (vgl. BGHSt 50, 284 <293 ff.>). Dies betraf wegen der Fassung von Art. 1a EGStGB bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) zum einen Verurteilungen wegen Taten in den neuen Ländern, bei denen im Zeitpunkt der Verurteilung die Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden konnte, zum anderen Taten, die zwar die Voraussetzungen des 1998 eingeführten § 66 Abs. 3 StGB erfüllten, jedoch vor dessen Inkrafttreten begangen und vor Einführung des § 66b StGB abgeurteilt worden waren (vgl. BTDrucks 16/4740, S. 1, 22 f.). Mit dem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) wurde § 66b Abs. 1 StGB aufgehoben. Gemäß Art. 316e Abs. 1 EGStGB gilt das bisherige Recht der Sicherungsverwahrung allerdings für bis zum 31. Dezember 2010 begangene Taten, wegen deren Begehung die Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden soll, fort. Das Bundesverfassungsgericht hat § 66b Abs. 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) mit Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u. a. - für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 des Grundgesetzes erklärt.

II.

1. a) Das Stadtgericht Berlin verurteilte den Beschwerdeführer am 5. Oktober 1987 wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Der Beschwerdeführer - der zu jener Zeit wegen Auseinandersetzungen mit seiner Partnerin seinen Lebensmittelpunkt an seinem Arbeitsplatz, der Heizanlage einer Fabrik, hatte - war mit einem Arbeitskollegen nach gemeinsamem Alkoholgenuss in Streit geraten und hatte diesem mit einer 600 bis 800 Grad Celsius heißen Schürstange den Unterbauch durchbohrt. Er verbüßte die verhängte Strafe zu zwei Dritteln und wurde im Dezember 1994 unter Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung entlassen.

b) Mit Urteil des Landgerichts Berlin vom 4. Juli 1997 wurde der Beschwerdeführer wegen Totschlags seiner Ehefrau zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach den Feststellungen der Strafkammer führten der Beschwerdeführer und seine Frau eine sehr problembelastete Ehe voller gegenseitiger Beschimpfungen und Verdächtigungen; mehrfach trennten sich die Ehepartner und lebten anschließend wieder zusammen. Am Abend vor der Tat im Dezember 1996 trank der Beschwerdeführer in einer Gaststätte erhebliche Mengen Alkohol, nachdem er sich von seiner Frau provoziert gefühlt hatte. Am nächsten Morgen begab er sich in die gemeinsame Wohnung, wo es nach Rückkehr seiner Frau von deren Arbeitsstelle zunächst zu heftigen Auseinandersetzungen, dann aber zu einer Versöhnung und einverständlichem Geschlechtsverkehr kam. Als seine Frau ihm danach wieder die Trennung ankündigte, konnte der Beschwerdeführer den Wechsel zwischen Zuwendung und Ablehnung nicht mehr ertragen. Er stieß seine Frau heftig weg, so dass sie rücklings auf den Boden fiel, setzte sich auf ihren Bauch, fixierte ihre Arme an den Handgelenken und schrie sie an, sie solle mit ihren Vorhaltungen aufhören. Als sie der Aufforderung nicht nachkam, packte der Beschwerdeführer sie von vorn mit beiden Händen am Hals und drückte über mindestens fünf Minuten mit aller Kraft zu, was bereits nach 10 bis 15 Sekunden zur Bewusstlosigkeit und alsbald zum Tod des Opfers führte.

Die Strafkammer ging von verminderter Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers aus, für welche die erhebliche Alkoholisierung zur Tatzeit (Blutalkoholkonzentration zwischen 2,04 und 2,14 Promille) nicht allein maßgeblich gewesen sei. Sachverständig beraten kam die Kammer zu dem Schluss, bei dem Beschwerdeführer handle es sich um eine akzentuierte Persönlichkeit mit ausgeprägter Eigenwilligkeit, Zurückgezogenheit und Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Kennzeichnend seien auch die erhöht reizbaren Anteile im Sinne leichter Provozierbarkeit. Er zeige deutlich schizoide Aspekte im Zusammenhang mit seiner schwach ausgeprägten Fähigkeit, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen seinen Bedürfnissen nach Nähe und Distanz herzustellen. Dieses Persönlichkeitsbild sei zwar für sich gesehen nicht von Krankheitswert. Die Tat sei jedoch Ausdruck einer heftigen affektiven Aufladung, ausgelöst durch die rasante Folge von Nähe und Distanz zwischen den Ehepartnern im Vorfeld des Tatgeschehens.

c) Der Beschwerdeführer befand sich zunächst in Untersuchungshaft und verbüßte nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 4. Juli 1997 die verhängte Freiheitsstrafe sowie die Reststrafe aus der vorigen Verurteilung vom 5. Oktober 1987. Während des Strafvollzugs wurde er durch Urteil des Amtsgerichts Brandenburg vom 15. Mai 2003 wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Tatzeitpunkt: 12. August 2002) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, wobei das Amtsgericht in den Urteilsgründen hervorhob, dass die mittels eines Schlages gegen den Kopf eines Mitgefangenen begangene Körperverletzung aus einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Geschädigten resultierte, die ihren Ursprung insbesondere in dessen provokantem Verhalten hatte.

2. a) Mit dem angegriffenen Urteil vom 24. Februar 2009 ordnete das Landgericht Berlin nachträglich auf der Grundlage des § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 StGB die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.

aa) Der Beschwerdeführer werde aufgrund eines Hanges (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden. Der von der Kammer beauftragte Sachverständige habe bei dem Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsentwicklung mit Egozentrik, Rücksichtslosigkeit beim Durchsetzen eigener Interessen, Gefühlskälte und völlig unzureichenden Problem- und Konfliktlösungsstrategien festgestellt; hinzu komme ein massiver Alkoholmissbrauch. Der Beschwerdeführer sei unfähig, mit sozialen Konflikten angemessen umzugehen. Diese Konflikte vermeide er bis zu einem gewissen Punkt, bei dessen Überschreitung sich - gerade im Zusammenhang mit dem Konsum erheblicher Mengen Alkohols - ein aggressiver Impuls ungehindert Bahn breche. Insofern sei auch die Tat zum Nachteil seiner Ehefrau Ausfluss der gestörten Persönlichkeit des Beschwerdeführers, obwohl die Tat einige Züge einer Affekttat getragen habe. Bereits das damalige Urteil sei zu dem Ergebnis gelangt, dass neben der spezifischen Beziehungskonstellation die Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers und seine Reaktionsmuster elementare Bestandteile der Tatvoraussetzungen gewesen seien. Während der Haftzeit habe die Persönlichkeit des Beschwerdeführers keine nennenswerten Veränderungen erfahren. Noch immer trete seine Impulsivität deutlich zu Tage; er sei nicht in der Lage, vorsichtige Kritik oder intensivere Nachfragen zu seiner Person zu ertragen. Er trage deutlich schizoide und dissoziale Züge; so bringe er keinerlei Empathie für seine Opfer auf und sei kaum in der Lage, eigenes Fehlverhalten zu reflektieren. Eine Untersuchung mittels einer Prognosecheckliste zur Ermittlung von Psychopathien habe das Vorhandensein einer solchen ergeben, was ein Indikator für ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko und eine fehlende Aussicht auf Behandlungserfolge sei. Ein weiterer Test habe eine hohe Wahrscheinlichkeit künftiger Gewaltstraftaten ergeben. Prognostisch negativ wirke sich insbesondere aus, dass es - auch während des Vollzugs - bereits mehrfach zu Gewaltanwendung durch den Beschwerdeführer gekommen sei. Dieser sei weiterhin gefährlich; die Gefahr neuer erheblicher Straftaten sei - insbesondere unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit von Alkohol sowie zu erwartender Konflikt- und Stresssituationen im Anschluss an eine Entlassung - auch gegenwärtig. Ein zweiter Sachverständiger sei in der Hauptverhandlung bei gewissen Abweichungen im Rahmen der Testergebnisse zum selben Ergebnis gekommen. Die Kammer schließe sich den in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen nach sorgfältiger eigener Prüfung an. Danach liege bei dem Beschwerdeführer ein Hang im Sinne eines eingeschliffenen inneren Zustands vor, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lasse und aus dem sich seine hohe Gefährlichkeit ergebe. Die Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers stelle diesen inneren Zustand dar, aus dem seine intensive Neigung zu Gewalttaten erwachse. Entsprechend seien sowohl der Mordversuch als auch der Totschlag zum Nachteil seiner Ehefrau als Ausfluss dieses Hanges und damit als Symptomtaten anzusehen. Für den Totschlag gelte dies auch in Ansehung des Umstands, dass er Züge einer Affekttat trage.

bb) Die formellen Voraussetzungen von § 66 Abs. 3 StGB (in Verbindung mit § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB) seien erfüllt. Der Rückgriff auf diese Vorschrift sei zulässig, obwohl sie im Zeitpunkt der Anlasstat noch nicht gegolten habe, weil es auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung ankomme. Dass § 66 Abs. 3 StGB erst nach der Verurteilung des Beschwerdeführers in Kraft getreten sei, rechtfertige gemäß § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB auch die Berücksichtigung von Tatsachen, die bereits im Zeitpunkt der Verurteilung erkennbar gewesen seien. Damals sei die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht gekommen, weil die Voraussetzungen für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 und 2 StGB nicht vorgelegen hätten.

cc) Im Rahmen ihres Ermessensspielraums berücksichtigte die Kammer, dass von der nachträglichen Sicherungsverwahrung nur sparsam Gebrauch zu machen und "das Fehlen jeglicher Behandlungsmaßnahmen während des Vollzugs durch die teilweise beklagenswerten Umstände in den brandenburgischen Justizvollzugsanstalten jedenfalls begünstigt worden" sei. Auf der anderen Seite sei zu berücksichtigen gewesen, dass es sich bei Anlass- und Vortat um schwerste Straftaten handle und keine milderen Maßnahmen - etwa im Rahmen der Führungsaufsicht - erkennbar seien, mit denen die Allgemeinheit in ausreichendem Maße vor der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers geschützt werden könne.

b) Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision des Beschwerdeführers mit Urteil vom 27. Oktober 2009 als unbegründet. Das Landgericht habe die formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB ebenso rechtsfehlerfrei bejaht wie es einen Hang des Beschwerdeführers zur Begehung schwerer Straftaten sowie dessen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit festgestellt und die Anwendbarkeit sowie die sachlichen Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zutreffend angenommen habe. Die aus Verhältnismäßigkeitsgründen gebotene restriktive Anwendung von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB sei innerhalb des Anwendungsbereichs nach Gefährlichkeitsgesichtspunkten vorzunehmen; nach zwei schweren Kapitalverbrechen lägen die entsprechenden Voraussetzungen vor.

c) Mit Beschluss vom 26. November 2009 wies der Bundesgerichtshof die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers als unbegründet zurück.

III.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Auslegung von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB dahin, dass die Norm auch Verurteilungen wegen solcher Taten umfasse, die zwar heute die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 StGB erfüllen würden, jedoch vor dessen Inkrafttreten am 31. Januar 1998 begangen und vor Einführung von § 66b StGB am 29. Juli 2004 abgeurteilt worden seien, sei mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Ausnahmecharakter der Vorschrift nicht zu vereinbaren und trage dem Vertrauensschutz nicht Rechnung. Ferner habe das Landgericht weder eine Hangtäterschaft noch eine gegenwärtige Gefahr einschlägiger Rückfallstraftaten ausreichend belegt; Feststellungen zur Rückfallgeschwindigkeit fehlten völlig. Das Gericht habe keine eigene Gesamtbewertung des Beschwerdeführers vorgenommen, sondern sich nur den Ausführungen der Sachverständigen angeschlossen, ohne zwischen den beiden Gutachten bestehende Widersprüche aufzulösen. Zudem verstoße die auf § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützte Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot und sei unverhältnismäßig. Die Anwendung eines milderen Mittels sei nicht geprüft, sondern pauschal abgelehnt worden.

IV.

Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich der Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, der Deutsche Richterbund und der Deutsche Anwaltverein geäußert. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, die Regierungen der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Niedersachsen sowie der Bundesgerichtshof und der Generalbundesanwalt haben mitgeteilt, von einer Stellungnahme abzusehen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die auf § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) gestützte nachträgliche Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

I.

Das Bundesverfassungsgericht hat - neben den anderen Vorschriften über Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung - auch § 66b Abs. 1 StGB in der hier maßgeblichen Fassung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u. a. -, juris). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet. Danach darf § 66b Abs. 1 StGB während seiner Fortgeltung nur nach Maßgabe einer - insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrprognose und die gefährdeten Rechtsgüter - strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden.

1. Die Verhältnismäßigkeit der Sicherungsverwahrung wird in der Regel nur unter der Voraussetzung gewahrt sein, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 172). Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung haben die Fachgerichte die Möglichkeiten einer Führungsaufsicht auszuloten und sich damit auseinanderzusetzen, ob und inwieweit der Gefährlichkeitsgrad des Betroffenen hierüber reduziert werden kann (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 176).

2. Soweit darüber hinaus ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG schutzwürdiges Vertrauen auf ein Unterbleiben der Anordnung einer Sicherungsverwahrung beeinträchtigt wird, ist dies angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verfassungsrechtlich nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig. Das Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange wird dabei durch die Wertungen von Art. 5 und Art. 7 EMRK verstärkt. Der mit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung verbundene Eingriff in das Vertrauen des Betroffenen auf das Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung kann deshalb nur noch dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK erfüllt sind (BVerfG, a.a.O., Rn. 131 ff.). Da die Bestimmung der Voraussetzungen einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt, ist während der Weitergeltung der Vorschriften über die Sicherungsverwahrung bis zu einer Neuregelung insoweit auf das am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) zurückzugreifen (BVerfG, a.a.O., Rn. 173).

Die Gerichte sind bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten, über die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (Nummer III. 2. Buchstabe a des Tenors) genannten Fälle hinaus auch in den Fallkonstellationen, in denen die Anwendung einer Norm wie hier des § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB nach Maßgabe der Urteilsgründe (a.a.O., Rn. 132 ff.) auch in grundrechtlich geschütztes, durch die Wertungen von Art. 5 und 7 EMRK gestärktes Vertrauen eingreift, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die genannten erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind.

3. § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB ermöglicht eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gerade für solche Fälle, in denen zum Zeitpunkt der Verurteilung des Betroffenen wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen eine Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in Betracht kam, weil die betreffenden Anlasstaten vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) geschaffenen § 66 Abs. 3 StGB begangen und vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung am 29. Juli 2004 (mit dem der vorherige Art. 1a Abs. 2 EGStGB gestrichen wurde) abgeurteilt wurden. Damit greift die Norm in das Vertrauen des Betroffenen auf ein Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ein. Eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung darf daher auf der Grundlage von § 66b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13. April 2007 (BGBl I S. 513) in diesen Fällen nur noch dann ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz - ThUG) leidet (vgl. BVerfG, a.a.O., Nummer III. 2. Buchstabe a des Tenors).

II.

Die angefochtenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Sie sind daher aufzuheben, und die Sache ist zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung genügt den Anforderungen nicht, die sich für eine verfassungsgemäße Entscheidung auf der Grundlage der weiter geltenden Vorschrift des § 66b Abs. 1 StGB aus den Maßgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergeben. Die Gerichte haben nicht geprüft, ob hiernach noch eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Daran ändert der Umstand nichts, dass die Fachgerichte im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung weder das Kammerurteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde-Nr. 19359/04, M. ./. Deutschland) noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 berücksichtigen konnten, weil beide Entscheidungen noch nicht ergangen waren. Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 175). Das Landgericht wird deshalb nach den Maßgaben der vom Senat in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 nach § 35 BVerfGG getroffenen Übergangsregelung (Nummer III. 2. des Tenors) erneut über eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zu befinden oder dessen Freilassung gegebenenfalls unter Auflagen zu verfügen haben.

C.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG (vgl. BVerfGE 101, 106 <132>; 104, 357 <358>; 105, 135 <136>). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 740

Externe Fundstellen: NJW 2011, 2711

Bearbeiter: Holger Mann