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HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 198

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2060/06, Beschluss v. 08.02.2007, HRRS 2007 Nr. 198


BVerfG 2 BvR 2060/06 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Februar 2007 (LG Koblenz/AG Bad Neuenahr-Ahrweiler)

Freiheit der Person (Freiheitsstrafe gegen psychisch kranke Person; Verhängung von Maßregeln neben Jugendstrafe; Anspruch auf ausreichende medizinische Behandlung und Betreuung; Verhältnismäßigkeit: Eignung); Willkürverbot (nicht nur bloße einfachrechtliche Fehlerhaftigkeit gerichtlicher Entscheidungen; keine Verletzung bei fehlendem Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung); Rechtstaatsprinzip; Recht auf Verteidigerbeistand (Ersatzverteidiger; Einarbeitung in den Prozessstoff; fehlender Vortrag zur Kausalität für das Urteil); Nichtannahmebeschluss.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 21 StGB; § 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Verurteilung zu Strafe und die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus schließen auch im Jugendstrafrecht einander grundsätzlich nicht aus.

2. Die Verhängung von Strafe setzt strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Angeklagten voraus. Kann diese Verantwortlichkeit bejaht werden, liegt eine rechtswidrige und schuldhafte Straftat vor, die mit der Kriminalstrafe des allgemeinen Strafrechts bzw. den Mitteln des Jugendstrafrechts, zu denen auch die Jugendstrafe gehört, zu ahnden ist.

3. Es kann offenbleiben, ob im Jugendstrafverfahren eine Beschränkung des Rechtsmittelangriffes auf einen Teil des Rechtsfolgenausspruches möglich ist. Da die fachgerichtliche Rechtsprechung eine diesbezügliche Disposition eines Angeklagten über sein Rechtsmittel nicht ausdrücklich für rechtswidrig erklärt hat (vgl. BGH, NStZ-RR 1998, 188, 189), ist in einem solchen Fall ein Verstoß gegen Grundrechte ausgeschlossen.

4. Nach einfachem Recht objektiv fehlerhafte Gerichtsentscheidungen verletzen noch kein Verfassungsrecht (BVerfGE 18, 85, 92 f.). Ein mit der Verfassungsbeschwerde zu rügender Verfassungsverstoß liegt erst dann vor, wenn ein fachgerichtliches Erkenntnis auf Willkür beruht (BVerfGE 108, 282, 294), wovon nicht die Rede sein kann, wenn sich die Entscheidung eines Tatgerichts nicht in Widerspruch zu der für seinen Gerichtszweig bindenden höchstrichterlichen Rechtsprechung setzt.

5. Die Grundrechtskonformität des Strafvollzugs ist nur dann gewahrt, wenn dem Betroffenen mit Blick auf eine eventuelle psychische Erkrankung eine ausreichende medizinische Behandlung und Betreuung zukommt.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich die am 18. Oktober 2006 erlassene einstweilige Anordnung.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Grundrechtskonformität einer gegen einen nach § 63 StGB unterzubringenden Angeklagten verhängten Jugendstrafe.

A.

I.

Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - verurteilte den Beschwerdeführer unter anderem wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Körperverletzung, Diebstahls und Beleidigung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren. Die Vollstreckung der Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht ging wegen Vorliegens einer psychischen Erkrankung von einer eingeschränkten strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers nach § 21 StGB aus.

Gegen das Urteil legte der Beschwerdeführer das Rechtsmittel der Berufung ein, das er auf das Strafmaß beschränkte. Ausdrücklich nahm er von seinem Rechtsmittelangriff die unterbliebene Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung aus.

Die Berufung verwarf das Landgericht als unbegründet. Dabei führte es aus, dass nach seiner Ansicht die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB vorlägen. Die Jugendkammer sah sich an einer Anordnung der Maßregel jedoch durch die Rechtsmittelbeschränkung des Beschwerdeführers gehindert.

Der Beschwerdeführer ist zurzeit in anderer Strafsache einstweilig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.

II.

1. Gegen die Urteile von Amtsgericht und Landgericht wendet sich die Verfassungsbeschwerde. Sie macht unter anderem einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG geltend.

Die von den Gerichten verhängte Jugendstrafe sei unangemessen, da sie die vom Gesetzgeber vorgegebenen Strafzwecke nicht erfüllen könne. Wie im fachgerichtlichen Verfahren festgestellt, sei der Beschwerdeführer psychisch krank; eine Inhaftierung würde nicht zu einer Verhaltensänderung führen. Infolgedessen sei die verhängte Strafe nicht geeignet, den Beschwerdeführer von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Auch eine Resozialisierung des Beschwerdeführers durch den Strafvollzug stehe nicht zu erwarten. Diese könne nur durch eine intensive psychiatrische Behandlung und Einzelbetreuung sichergestellt werden. Hierfür sei der Vollzug in einer Jugendstrafanstalt jedoch nicht ausgelegt. Auch sei zu befürchten, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Erkrankung zur Zielscheibe von verbalen und tätlichen Angriffen seiner Mithäftlinge werde.

2. Zudem stelle es einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip dar, dass das Landgericht am 25. August 2006 das Strafverfahren beendet habe, obwohl an diesem Termin die Verteidigerin des Beschwerdeführers wegen Krankheit verhindert gewesen und durch eine nicht in den Sachstand eingearbeitete Kollegin vertreten worden sei.

III.

Auf Antrag des Beschwerdeführers setzte die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 18. Oktober 2006 die Vollstreckung der Jugendstrafe aus dem Urteil des Landgerichts in Verbindung mit dem Urteil des Jugendschöffengerichts bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde aus.

B.

Das Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz hat unter dem 2. Januar 2007 zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Es hat eine Äußerung der Vorsitzenden Richterin der Berufungskammer übermittelt. Diese hat angegeben, die Ausführungen in der Verfassungsbeschwerde zum Prozessgeschehen am 25. August 2006 entsprächen nicht der Wahrheit. Die Verfahrensbeendigung sei für diesen Terminstag angekündigt gewesen. Die plötzliche Erkrankung der Verteidigerin sei nicht hinreichend entschuldigt und die als Vertreterin fungierende Rechtsanwältin mit dem Verfahren vertraut gewesen.

C.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt.

I.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich auch gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts wendet. Dieses Erkenntnis ist durch das auf eigener Prüfung des Sachverhalts beruhende Urteil des Landgerichts prozessual überholt.

2. a) Darüber hinaus ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Die Verurteilung des Beschwerdeführers zu Jugendstrafe verletzt diesen nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, insbesondere nicht in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem mit Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 69, 1 <35>) ausgestatteten Verhältnismäßigkeitsprinzip.

aa) Der Umstand, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Erkrankung leidet, stand der Anordnung von Strafe nicht entgegen. Die Verhängung von Strafe setzt strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Angeklagten voraus. Kann diese Verantwortlichkeit bejaht werden, liegt eine rechtswidrige und schuldhafte Straftat vor, die mit der Kriminalstrafe des allgemeinen Strafrechts bzw. den Mitteln des Jugendstrafrechts, zu denen auch die Jugendstrafe gehört, zu ahnden ist.

Zwar hat das sachverständig beratene Landgericht die Fähigkeit des Beschwerdeführers, seiner Unrechtseinsicht gemäß zu handeln, aufgrund einer psychischen Erkrankung als im Sinne des § 21 StGB eingeschränkt angesehen. Gleichwohl hat es dem Beschwerdeführer trotz seiner psychischen Erkrankung strafrechtliche Verantwortlichkeit attestiert. Damit war die Jugendkammer nicht daran gehindert, gegen den Beschwerdeführer eine Jugendstrafe auszusprechen. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass das Landgericht die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 63 StGB für gegeben erachtet hat.

Die Verurteilung zu Strafe und die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus schließen auch im Jugendstrafrecht einander grundsätzlich nicht aus. Dies folgt aus § 5 Abs. 3 JGG. Nach dieser Vorschrift darf der Jugendrichter von der Verhängung einer gebotenen Jugendstrafe neben der Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB nur dann absehen, wenn die Unterbringung des Angeklagten eine weitere sanktionierende Freiheitsentziehung entbehrlich macht.

bb) Der Rechtsfolgenausspruch des landgerichtlichen Urteils ist auch nicht deshalb verfassungswidrig, weil die Jugendkammer ein solches Entbehrlichwerden der Jugendstrafe nicht geprüft hat. Zu einer solchen Prüfung ist es wegen der Rechtsmittelbeschränkung des Beschwerdeführers, der den Maßregelausspruch aus seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen hat, nicht gekommen. Zwar hat der Bundesgerichtshof Zweifel an der Zulässigkeit einer solchen Rechtsmittelbeschränkung im Jugendstrafrecht geäußert. Andererseits hat er eine entsprechende Disposition eines Angeklagten über sein Rechtsmittel auch nicht ausdrücklich für rechtswidrig erklärt (vgl. BGH, NStZ-RR 1998, S. 188 <189>). Dies schließt den Verstoß gegen Grundrechte aus. Selbst nach einfachem Recht objektiv fehlerhafte Gerichtsentscheidungen verletzen noch kein Verfassungsrecht (BVerfGE 18, 85 <92 f.>). Ein mit der Verfassungsbeschwerde zu rügender Verfassungsverstoß liegt erst dann vor, wenn ein fachgerichtliches Erkenntnis auf Willkür beruht (BVerfGE 108, 282 <294>), wovon nicht die Rede sein kann, wenn sich die Entscheidung eines Tatgerichts nicht in Widerspruch zu der für seinen Gerichtszweig bindenden höchstrichterlichen Rechtsprechung setzt.

cc) Auch der Vortrag des Beschwerdeführers, eine Strafvollstreckung würde an ihm als psychisch kranker Person ihr Ziel verfehlen, ihm Schaden zufügen und damit unverhältnismäßig sein, zeigt keinen Verfassungsverstoß auf. Dieses Vorbringen geht im Zusammenhang mit einer gegen das strafgerichtliche Urteil gerichteten Verfassungsbeschwerde fehl. Der vom Beschwerdeführer erhobene Vorwurf stellt nicht die verfassungsrechtliche Möglichkeit eines Gerichts, gegen eine psychisch erkrankte Person Jugendstrafe zu verhängen, in Frage, sondern betrifft die Grundrechtskonformität des in Aussicht stehenden Strafvollzugs. Diese ist nur dann gewahrt, wenn dem Beschwerdeführer mit Blick auf seine psychische Erkrankung eine ausreichende medizinische Behandlung und Betreuung zu Teil werden wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in früheren Entscheidungen ausdrücklich festgestellt, dass sowohl der Erwachsenenstrafvollzug (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. August 1996 - 2 BvR 2267/95 -, NStZ 1996, S. 614) als auch der Jugendstrafvollzug (vgl. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1673/04 und 2 BvR 2402/04 -, NJW 2006, S. 2093 <2096>) die Möglichkeit einer therapeutischen Behandlung therapiebedürftiger Häftlinge bereithalten müssen, um der Verfassung zu genügen. Zurzeit besteht kein Anlass zu der Vermutung, dass die im Fall des Beschwerdeführers zuständigen Vollstreckungsbehörden diesen Verfassungsauftrag missachten könnten.

b) Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung des Rechtsstaatsprinzips im Strafverfahren liegt nach dem der Kammer zur Verfügung stehenden Sachverhalt nicht vor. Die Vorsitzende Richterin am Landgericht hat in einer dienstlichen Stellungnahme ausgeführt, der Abschluss des gegen den Beschwerdeführer geführten Strafverfahrens sei für den Terminstag am 25. August 2006 abgesprochen und die Vertreterin der Verteidigerin in den Prozessstoff eingearbeitet gewesen. Darüber hinaus ist weder vorgetragen noch erkennbar, in welcher Weise sich das vom Beschwerdeführer gerügte Verhalten der Vorsitzenden auf das Urteil ausgewirkt haben könnte. Laut Vortrag in der Verfassungsbeschwerde hat die verhinderte Verteidigerin auf eine Bewährungsstrafe, verbunden mit einer Therapieauflage an den Beschwerdeführer, hinwirken wollen. Mit der Frage einer Strafaussetzung zur Bewährung und der Therapierbarkeit des Beschwerdeführers hat sich das Landgericht aber auch ohne entsprechenden Anstoß durch die Verteidigung in seiner angegriffenen Entscheidung ausführlich auseinandergesetzt.

II.

Durch die Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich die einstweilige Anordnung vom 18. Oktober 2006.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 198

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2007, 187

Bearbeiter: Stephan Schlegel