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HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 239

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 26/04, Beschluss v. 03.03.2004, HRRS 2004 Nr. 239


BVerfG 2 BvR 26/04 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. März 2004 (OLG Frankfurt)

Auslieferung nach Italien bei einem Abwesenheitsurteil; Abwesenheitsverfahren (Flucht; Vertretung durch ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger; Wiedereinsetzungsantrag; Beleg der persönlichen Kenntnis des Angeklagten; nachträgliches rechtliches Gehör: fehlende Effektivität angesichts nachteiliger Beweislastregeln und unangemessener Einlegungsfristen); Menschenwürde; Rechtsstaatsprinzip; rechtliches Gehör (persönliche Äußerung; Vortrag entlastender Umstände); faires Verfahren (wirksame Verteidigung); Zweites Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen (Zusicherung); Prüfungsumfang (keine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils; Vereinbarkeit mit verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards; unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 25 GG; Art. 6 EMRK; Art. 3 2. ZP-EuAlÜbk; Art. 175 Codice di procedura penale

Leitsätze des Bearbeiters

1. Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils ist von Verfassungs wegen unzulässig, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332, 338).

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen nicht an der Prüfung gehindert - und unter Umständen von Verfassungs wegen dazu verpflichtet -, ob die Auslieferung und ihr zu Grunde liegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Hierzu kann zumal Anlass bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280, 282 ff.; 63, 332, 337).

3. Das zwingende Gebot, dass der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen, gehört zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (vgl. BVerfGE 63, 332, 338).

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 9. Dezember 2003 - 2 Ausl. A 9/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 25 des Grundgesetzes, soweit in ihm die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wird. Er wird insoweit aufgehoben. Die Sache wird insoweit zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde zur Hälfte zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Auslieferung nach Italien zum Zwecke der Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verurteilten ergangenen Strafurteils.

I.

1. Auf Grund eines Ersuchens der italienischen Behörden wurde gegen den Beschwerdeführer mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 23. Januar 2003 vorläufige Auslieferungshaft angeordnet. Das Landgericht in Bologna habe gegen ihn eine Freiheitsstrafe von acht Jahren verhängt, weil er sich in der Zeit von Februar bis Mai 1997 in Italien zusammen mit anderen der Zuhälterei, Nötigung und Bedrohung schuldig gemacht habe.

Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 12. Februar 2003 machte er geltend, dass seine Auslieferung unzulässig sei. Von dem in Italien gegen ihn geführten Strafverfahren sei er nicht unterrichtet gewesen, insbesondere sei ihm weder ein Hauptverhandlungstermin noch ein Urteil bekannt geworden. Er habe sich nämlich seit Juli 1999 in Deutschland in Untersuchungshaft befunden. Bei dieser Sachlage sei eine Erklärung nach Art. 3 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen - 2. ZP-EuAlÜbk - erforderlich, dass dem Beschwerdeführer das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren gewährleistet werde. Eine solche Zusicherung liege nicht vor.

Auf die Beschlüsse des Oberlandesgerichts vom 21. März und 31. Juli 2003, mit denen es den italienischen Behörden Gelegenheit gab, eine Stellungnahme bezüglich der Kenntnis des Beschwerdeführers von dem gegen ihn in Italien durchgeführten Strafverfahren abzugeben, erklärten diese, der Beschwerdeführer sei unmittelbar nach der am 28. Februar 1997 erfolgten Festnahme der Mitbeschuldigten untergetaucht. Am 22. Juli 1997 habe sich herausgestellt, dass der Beschwerdeführer unauffindbar sei. Der gegen ihn am 18. Juni 1997 erlassene Haftbefehl habe nicht vollstreckt werden können, weil er aus Italien abgereist und nach Bosnien zurückgekehrt gewesen sei. Hieraus ergebe sich die legitime Annahme, dass er geflüchtet sei, um sich den Ermittlungen zu entziehen, nachdem er Kenntnis von den bereits vorgenommenen Festnahmen und den zu seinen Lasten erlangten Beweiselementen erhalten habe. Da er flüchtig gewesen sei, sei er persönlich weder über die Einleitung des Verfahrens noch über den Beginn der Strafverfolgung und ebenso wenig über die Ladungen zu den Verhandlungen sowie das Urteil jemals informiert worden. Das Hauptverfahren sei in seiner Abwesenheit durchgeführt worden. Alle Maßnahmen seien jedoch seinem Verteidiger mitgeteilt worden. In jeder Phase des Prozesses sei ein Pflichtverteidiger anwesend gewesen. Dieser habe Berufung gegen die Verurteilung eingelegt, die als unzulässig zurückgewiesen worden sei. Es lägen keine Kenntnisse über eventuelle Kontakte des Beschwerdeführers mit seinem Pflichtverteidiger vor.

Hierzu erklärte der Beschwerdeführer, er habe keinen Kontakt zu seinem Pflichtverteidiger gehabt und ihm auch nicht den Auftrag für die Einlegung der Berufung gegeben. Er sei seinerzeit in Deutschland in Untersuchungshaft gewesen. Er sei auch nicht nach der Festnahme der Mitbeschuldigten "untergetaucht", d.h. in der Absicht geflohen, den Fortgang eines Strafverfahrens zu verhindern oder zu erschweren. Tatsachen, die eine solche Feststellung begründen könnten, seien nicht vorgetragen worden. Zur Zeit der Festnahme der Mitbeschuldigten im Februar 1997 habe er sich in Bosnien-Herzegowina aufgehalten, wofür er mehrere Unterlagen als Beleg vorlegte. Nach Verkündung des Auslieferungshaftbefehls habe sein Bevollmächtigter sofort Kontakt zu einer Rechtsanwältin in Italien aufgenommen, die ihm erklärt habe, dass er im Wiedereinsetzungsantrag nachweisen müsse, dass er keine Kenntnis von dem Verfahren gehabt habe, diese Unkenntnis nicht auf Verschulden beruhe und er sich nicht bewusst der Kenntnis des Verfahrens entzogen habe, was eine umfangreiche Darlegung erfordere. Für ein solches Gesuch habe sie einen Vorschuss verlangt, den er nicht habe aufbringen können. Außerdem habe er die geforderten Nachweise nicht innerhalb der Frist von 10 Tagen beschaffen können, zumal er sich in Haft befunden habe. Sein Bevollmächtigter habe mit einem anderen italienischen Rechtsanwalt Kontakt aufgenommen, der ebenfalls mitgeteilt habe, dass ein Antrag, mit dem der Beschwerdeführer lediglich behaupte, er habe keine Kenntnis von dem Verfahren gehabt, nicht den Erfordernissen der italienischen Strafprozessordnung genüge. Der Anwalt habe sich geweigert, einen solchen Antrag einzureichen, weil er ihn für zwecklos gehalten habe.

Am 12. Juli 2003 beantragte eine vom Beschwerdeführer als Verteidigerin beauftragte italienische Rechtsanwältin beim Landgericht Bologna festzustellen, dass der Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Landgerichts vom 12. Juli 2000 nicht erfolgt und demzufolge der Haftbefehl nicht vollstreckbar sei. Hilfsweise beantragte sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung. Zur Begründung berief sie sich darauf, dass der Beschwerdeführer als im Ausland Inhaftierter seine Verteidigungsrechte nicht habe wahrnehmen können. Ort und Zeitraum der Inhaftierung könnten ohne weiteres den Akten des Auslieferungsverfahrens entnommen oder durch eine Anfrage bei der ausländischen Strafvollzugsbehörde in Erfahrung gebracht werden.

Auf Nachfrage teilten die italienischen Justizbehörden dazu mit, die Verhandlung über die vom Verteidiger des Beschwerdeführers eingelegte Einrede im Vollstreckungsverfahren sei noch nicht festgesetzt worden. Demzufolge sei das in Abwesenheit verkündete Urteil nach wie vor rechtskräftig und vollstreckbar.

Daraufhin erklärte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 9. Dezember 2003 die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig und ordnete die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Der Zulässigkeit der Auslieferung stehe nicht entgegen, dass sie zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils erfolgen solle. Dabei könne offen bleiben, ob es sich um einen so genannten Fluchtfall handele. Der Beschwerdeführer habe nämlich im vorliegenden Fall konkret die Möglichkeit gehabt, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Verurteilung in Italien rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Wegen der Beweislastregeln und der kurzen Frist von zehn Tagen ab Erlangung der Kenntnis von dem Urteil, innerhalb derer der Verfolgte den Antrag auf Wiedereinsetzung bei dem italienischen Gericht stellen müsse, dürfte das zwar nur ausnahmsweise der Fall sein (vgl. BGH NStZ 2002, S. 166). Ein solcher Ausnahmefall liege hier aber vor. Mit Bekanntmachung des Beschlusses vom 23. Januar 2003 über die vorläufige Auslieferungshaft habe der Beschwerdeführer Kenntnis von der Verfolgung in Italien gehabt. Bereits mit Schriftsatz vom 12. Februar 2003 habe sein Bevollmächtigter auf die Problematik des Abwesenheitsurteils hingewiesen. Auch wenn er nach seinem Vorbringen den von einer Rechtsanwältin geforderten Vorschuss für ein Wiedereinsetzungsgesuch in Italien nicht habe aufbringen können, sei es ihm unbenommen geblieben, selbst oder durch seinen Verteidiger in Deutschland das Gesuch zumindest fristwahrend in Italien anzubringen. Das habe er nicht getan. Er habe im vorliegenden Fall auch ohne größere Schwierigkeiten seine Nichtkenntnis von dem Urteil, das Nichtverschulden seiner Unkenntnis und die Nichtentziehung von der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen in Italien nachweisen können, weil er seit Juli 1999 in Deutschland inhaftiert gewesen sei.

2. Der Beschwerdeführer rügt ausdrücklich die Verletzung von Art. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 (gesetzlicher Richter) und Art. 103 Abs. 1 GG sowie die Verletzung der völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards und der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung und der Sache nach der Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG. Die vom Bundesverfassungsgericht formulierten Mindeststandards für das Strafverfahren seien bei dem hier zu vollstreckenden Abwesenheitsurteil nicht eingehalten worden. Darüber hinaus hätte das Oberlandesgericht nicht selbst entscheiden dürfen, sondern hätte die Sache gemäß § 42 IRG dem Bundesgerichtshof vorlegen müssen, weil es von dessen Entscheidung vom 16. Oktober 2001 (NStZ 2002, S. 166 = BGHSt 47, 120) abgewichen sei.

3. Dem Hessischen Ministerium der Justiz und dem Bundesministerium der Justiz wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

II.

In dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung eines der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 BVerfGG liegen insoweit vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 63, 332). Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts ist, soweit er die Feststellung der Zulässigkeit der Auslieferung betrifft, unvereinbar mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 GG.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen die Zulässigkeitserklärung der Auslieferung richtet, zulässig. Ihrer Zulässigkeit steht insbesondere nicht der sich aus § 90 Abs. 2 BVerfGG ergebende Grundsatz der Subsidiarität entgegen, auch wenn der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG rügt. Zwar ist ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gehalten, mit Hilfe eines Antrags nach § 77 IRG in Verbindung mit § 33a StPO die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs zu den von ihm als übergangen angesehenen Gesichtspunkten zu erwirken (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 23. November 1983 - 2 BvR 1575/83 -, NJW 1984, S. 559). Der Beschwerdeführer hat hier aber nicht geltend gemacht, das Oberlandesgericht habe bestimmte Gesichtspunkte übergangen und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Er sieht dieses allein in der Mitwirkung an der Vollstreckung des gegen ihn erlassenen Abwesenheitsurteils verletzt. In einem solchen Fall ist für ein Verfahren nach § 33a StPO kein Raum.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet, soweit mit dem angegriffenen Beschluss die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt worden ist.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die deutschen Gerichte bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens eines ausländischen Strafurteils, zu dessen Vollstreckung der Verfolgte ausgeliefert werden soll, nicht nachzuprüfen. Sie sind indessen nicht an der Prüfung gehindert - und unter Umständen von Verfassungs wegen dazu verpflichtet -, ob die Auslieferung und ihr zu Grunde liegende Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Hierzu kann zumal Anlass bestehen, wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfGE 59, 280 <282 ff.>; 63, 332 <337> m.w.N.).

Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) Ausprägung gefunden haben, dass niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf; auch die Menschenwürde des Einzelnen (Art. 1 Abs. 1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt (vgl. BVerfGE 7, 53 <57 f.>; 7, 275 <279>; 9, 89 <95>; 39, 156 <168>; 46, 202 <210>; 55, 1 <5 f.>; 63, 332 <337>). Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren, das zu den schwersten in allen Rechtsordnungen überhaupt vorgesehenen Eingriffen in die persönliche Freiheit des Einzelnen führen kann, das zwingende Gebot, dass der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (vgl. BVerfGE 41, 246 <249>; 46, 202 <210>; 54, 100 <116>; 63, 332 <337 f.>).

Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (vgl. BVerfGE 63, 332 <338>).

Der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis ist indessen nicht zu entnehmen, dass die Durchführung strafrechtlicher Abwesenheitsverfahren auch in Fällen gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstieße, in denen der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 1991 - 2 BvR 1704/90 -, NJW 1991, S. 1411 m.w.N.).

Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils ist bei Anlegung dieser Maßstäbe von Verfassungs wegen unzulässig, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (vgl. BVerfGE 63, 332 <338>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Januar 1991, a.a.O.).

b) Den vorgenannten verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zulässige Auslieferung hat das Oberlandesgericht nicht hinreichend Rechnung getragen. Das Oberlandesgericht hat nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer Kenntnis von dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren gehabt hat. Es kann aber auch nicht festgestellt werden, dass ihm nachträglich die tatsächlich wirksame Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zu den Vorwürfen unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen zu verteidigen.

Die vom Oberlandesgericht eingeholten Auskünfte haben ergeben, dass die italienischen Justizbehörden den Beschwerdeführer persönlich weder über die Einleitung des Verfahrens noch über den Beginn der Strafverfolgung und ebenso wenig über die Ladungen zu den Verhandlungen sowie das Urteil jemals informiert haben. Alle Maßnahmen sind allein seinem während des Prozesses anwesenden Pflichtverteidiger mitgeteilt worden. Dass der Beschwerdeführer zu diesem jemals Kontakt hatte, ist nicht bekannt. Das Oberlandesgericht geht in seinem angegriffenen Beschluss dementsprechend auch davon aus, dass die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils erfolgen soll. Es hat dabei ausdrücklich offen gelassen, ob es sich um einen sogenannten Fluchtfall handelt. Es hat die Zulässigkeit der Auslieferung vielmehr allein damit begründet, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall konkret die Möglichkeit gehabt habe, sich nach Erlangung der Kenntnis von der Verurteilung während des Auslieferungsverfahrens in Italien rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Wegen der Beweislastregeln und der kurzen Frist von zehn Tagen ab Erlangung der Kenntnis von dem Urteil, innerhalb derer der Verfolgte den Antrag auf Wiedereinsetzung bei dem italienischen Gericht stellen müsse, dürfte das zwar nur ausnahmsweise der Fall sein (unter Hinweis auf BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2001, BGHSt 47, 120 = NStZ 2002, S. 166). Ein solcher Ausnahmefall liege hier aber vor. Für diese Annahme hat das Oberlandesgericht indes keine nachvollziehbare Begründung gegeben; hierfür ist auch nichts ersichtlich.

Der Bundesgerichtshof hat in dem vom Oberlandesgericht zitierten Beschluss vom 16. Oktober 2001 auf die Frage des seinerzeit vorlegenden Oberlandesgerichts, ob im Falle eines in Italien ergangenen Abwesenheitsurteils allein der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung genüge oder ob es zusätzlich einer Erklärung gemäß Art. 3 des 2. ZP-EuAlÜbk bedürfe, wie folgt entschieden: Hatte der Verfolgte von einem gegen ihn in Italien geführten Strafverfahren, vom Hauptverhandlungstermin und vom Urteil keine Kenntnis, so ist die Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils regelmäßig nur dann zulässig, wenn die italienischen Strafverfolgungsbehörden eine Erklärung gemäß Art. 3 des 2. ZP-EuAlÜbk abgeben. Diese Entscheidung stützt sich unter Berücksichtigung der italienischen Rechtspraxis auf die Erwägung, dass, sofern Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung eng ausgelegt werde, es einem in Auslieferungshaft befindlichen Verfolgten nur in Ausnahmefällen möglich sein werde, innerhalb von zehn Tagen seit seiner Kenntnis vom Vorliegen eines vollstreckbaren italienischen Abwesenheitsurteils einen Wiedereinsetzungsantrag bei dem zuständigen Gericht in Italien zu stellen und seine Nichtkenntnis vom Urteil, das Nichtverschulden seiner Unkenntnis und seine "Nichtentziehung" von der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen zu beweisen. Zur Durchsetzung einer "verfolgtenfreundlichen" - und Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) entsprechenden - Auslegung des Art. 175 der italienischen Strafprozessordnung sei regelmäßig eine Zusicherung nach Art. 3 des 2. ZP-EuAlÜbk zu fordern.

Vor diesem Hintergrund vermag das Oberlandesgericht einen Ausnahmefall nicht plausibel darzulegen. Zweifelhaft ist bereits sein Hinweis, der Beschwerdeführer selbst oder sein Verteidiger in Deutschland hätten das Wiedereinsetzungsgesuch zumindest fristwahrend in Italien anbringen können. Für diese Annahme, die - auch im Hinblick auf die genannten Ausführungen des Bundesgerichtshofs - nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, benennt das Oberlandesgericht keine sie stützenden Tatsachen. Unabhängig davon ist jedenfalls die von ihm gegebene Begründung, der Beschwerdeführer habe ohne weiteres seine "Nichtentziehung" von der Kenntnisnahme der Verfahrenshandlungen in Italien nachweisen können, weil er seit Juli 1999 in Deutschland inhaftiert gewesen sei, nicht nachvollziehbar. Mit der Inhaftierung seit Juli 1999 könnte der Beschwerdeführer allenfalls seine Unkenntnis vom Hauptverhandlungstermin im Jahre 2000 und vom Urteil des Gerichts in Bologna belegen. Für die Frage der "Nichtentziehung", also der Unkenntnis des Beschwerdeführers von einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren ist diese Inhaftierung jedoch ohne Beweiskraft, weil die Festnahme der Mitbeschuldigten bereits lange zuvor, nämlich im Februar 1997 erfolgt ist. Die Möglichkeit eines entsprechenden Nachweises erscheint im Gegenteil hier gerade eher fernliegend, weil die italienischen Justizbehörden in ihren vom Oberlandesgericht eingeholten Auskünften die Auffassung vertreten haben, der Beschwerdeführer sei geflüchtet, nachdem er von den bereits vorgenommenen Festnahmen erfahren habe. Es kann somit nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Besonderheiten des vorliegenden Falles ausnahmsweise eine tatsächlich wirksame Möglichkeit hatte, sich nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen.

Die vom Beschwerdeführer darüber hinaus aufgeworfene Frage, ob die Annahme des Oberlandesgerichts einer ausreichenden nachträglichen Verteidigungsmöglichkeit bereits deswegen unhaltbar sei, weil die Berufung gegen das zu vollstreckende Abwesenheitsurteil als unzulässig zurückgewiesen worden sei, kann danach offen bleiben.

c) Ebenfalls bedarf keiner Entscheidung, ob der angegriffene Beschluss mangels Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 42 IRG wegen Divergenz auch gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt, da die Verfassungsbeschwerde bereits aus den vorgenannten Gründen begründet ist.

d) Es ist schließlich auch nicht hinreichend deutlich abzusehen, dass der Beschwerdeführer selbst im Falle einer Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und einer Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben wird (vgl. BVerfGE 90, 22 <26>). Zwar gibt es Anhaltspunkte dafür, dass er von dem gegen ihn in Italien laufenden Strafverfahren Kenntnis erlangt und sich dem durch Flucht aus Italien entzogen haben könnte, etwa weil es sich bei dem einen im Februar 1997 festgenommenen Mitbeschuldigten um seinen Bruder handeln dürfte; zwingend ist diese Annahme indessen nicht, zumal der Beschwerdeführer unter Vorlage verschiedener Unterlagen vorgetragen hat, im Februar 1997 nicht in Italien, sondern in Bosnien gewesen zu sein. Das Oberlandesgericht hat diesen Vortrag des Beschwerdeführers auf seine Glaubhaftigkeit hin bislang jedenfalls nicht überprüft, sondern ausdrücklich das Vorliegen eines Fluchtfalles offen gelassen.

3. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen die in dem angegriffenen Beschluss angeordnete Fortdauer der Auslieferungshaft wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen. Insoweit fehlt jede Darlegung, weshalb diese Anordnung verfassungswidrig sein soll, sodass den Begründungsanforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht genügt ist.

4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Das Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers war nur zum Teil erfolgreich.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2004 Nr. 239

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2004, 308; StV 2004, 438

Bearbeiter: Stephan Schlegel