HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2025
26. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1062. BVerfG 1 BvR 398/24 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 21. Juli 2025 (LG Hamburg / AG Hamburg)

Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei (besonderer Schutz von Berufsgeheimnisträgern; erhebliche Streubreite und Eingriffsintensität der Maßnahme; sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit; erhöhte Anforderungen an Tatverdacht und Auffindevermutung; Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant; Umgrenzung der Anordnung; keine Subsidiarität der Maßnahme).

Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; Art. 8 EMRK; § 53 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO

1. Die Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei in einem Ermittlungsverfahren gegen einen Anwalt wegen versuchten Prozessbetruges betreffend eine Honorarstreitigkeit wird den insoweit zu stellenden strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen in der Gesamtschau nicht gerecht, wenn sich der Tatverdacht aufgrund von Widersprüchen und erheblichen Belastungstendenzen in den zeugenschaftlichen Angaben der Geschädigten sowie angesichts eines möglichen strafbefreienden Rücktritts des Beschuldigten als schwach darstellt und die Auffindevermutung aufgrund der Kenntnis des Anwalts von dem Verfahren eher gering ist, während die sehr weit formulierte Durchsuchungsanordnung nicht auf die konkreten Mandatsunterlagen beschränkt ist und daher eine erhebliche Streubreite und Eingriffsintensität aufweist.

2. Der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern gebietet bei der Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei die besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Die Strafverfolgungsbehörden haben dabei auch das Ausmaß der – mittelbaren – Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit der Betroffenen und der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant zu berücksichtigen. Allerdings gelten bei Durchsuchungen von Rechtsanwaltskanzleien keine besonderen Anforderungen an die Subsidiarität der Maßnahme etwa in dem Sinne, dass die Erforschung des Sachverhalts ansonsten aussichtslos erscheinen müsste.

3. Die besondere Eingriffsintensität der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei ergibt sich daraus, dass die strafprozessuale Maßnahme wegen der Vielzahl verfahrensunerheblicher Daten in den durchsuchten Kanzleiräumen eine Streubreite aufweist und zahlreiche Personen in den Wirkungsbereich der Maßnahme mit einbezogen werden, die in keiner Beziehung zu dem Tatvorwurf stehen und den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben. Hinzu kommt die besondere Schutzbedürftigkeit der von einem überschießenden Datenzugriff mitbetroffenen Vertrauensverhältnisse. Daher bedarf der eingriffsintensive Zugriff auf Datenträger – insbesondere von Rechtsanwälten und Steuerberatern als Berufsgeheimnisträgern – im jeweiligen Einzelfall in besonderer Weise einer regulierenden Beschränkung in der Durchsuchungsanordnung.


Entscheidung

1063. BVerfG 1 BvR 975/25 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 9. Juli 2025 (LG Traunstein / AG Rosenheim)

Beschlagnahme eines Mobiltelefons wegen Filmaufzeichnung einer Polizeikontrolle (Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes; Recht auf informationelle Selbstbestimmung; Eigentumsgrundrecht; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Rechtfertigung der Aufzeichnung polizeilicher Maßnahmen; Verwendung polizeilicher Bodycams; Bedeutung von Smartphones für die persönliche Lebensführung; strafähnliche Wirkung der Beschlagnahme über mehrere Monate).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 14 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Buchst. f DSGVO; § 94 StPO; § 34 StGB; § 74f StGB; § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB

1. Die über mehrere Monate aufrecht erhaltene Beschlagnahme eines Mobiltelefons, mit der die Betroffene eine gegen sie gerichtete, von ihr als schikanös empfundene polizeiliche Verkehrskontrolle gefilmt hatte, begegnet Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit, wenn der mit der Videoaufnahme möglicherweise verbundene Verstoß gegen § 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB nur wenig schwer wiegt, der Aufnahme angesichts weiterer Beweismittel nur geringe Beweisbedeutung zukommt und eine Einziehung des Smartphones als Tatmittel angesichts seines Werts und seiner Bedeutung für die Lebensführung der Betroffenen nicht nahe liegt.

2. Die Beschlagnahme und beabsichtigte Auswertung eines Smartphones greift in die Grundrechte des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung und aus Art. 14 Abs. 1 GG ein; die Maßnahmen bedürfen daher einer gesetzlichen Ermächtigung, die einen legitimen Gemeinwohlzweck verfolgt und im Übrigen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

3. Es ist bereits zweifelhaft, ob die Aufzeichnung polizeilicher Maßnahmen allgemein, jedenfalls aber von polizeilichen Maßnahmen, die seitens der Polizei offensichtlich mittels Bodycam aufgezeichnet werden, strafbar ist, oder ob sie regelmäßig nach § 34 StGB oder Art. 6 Abs. 1 Buchst. f der Datenschutz-Grundverordnung gerechtfertigt sein kann. Jedenfalls ist von Verfassungs wegen zu beachten, dass nicht jede Videoaufnahme polizeilicher Einsätze ein polizeirechtliches oder strafprozessuales Einschreiten rechtfertigt. Insoweit dürfen polizeiliche Maßnahmen nicht dazu führen, dass Betroffene aus Furcht zulässige Aufnahmen und mit diesen nicht selten einhergehende Kritik an staatlichem Handeln unterlassen.

4. Smartphones haben heute einerseits eine unverzichtbare Bedeutung für das alltägliche Leben und die persönliche Lebensführung ihrer Nutzer, andererseits ergibt sich aus ihrer Auswertung ein erhebliches Risiko für die Persönlichkeitsrechte der Nutzer. Die Beschlagnahme und Auswertung eines Smartphones kann sich für Betroffene als faktische Sanktionierung ihres Handelns bereits im Ermittlungsverfahren darstellen, obwohl nur der Anfangsverdacht einer Straftat besteht und strafprozessuale Ermächtigungsgrundlagen gerade keine Ermächtig für eine Sanktion sein können.


Entscheidung

1064. BVerfG 1 BvR 2721/24 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 9. Juni 2025 (OLG Hamm / LG Detmold / AG Detmold)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen Beleidigung durch Schmähung von Politikerinnen auf einem YouTube-Kanal (Meinungsfreiheit; Schmähkritik; hilfsweise Abwägung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht; unzureichende Auseinandersetzung mit den Maßstäben von Kunstfreiheit und Satire).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 185 StGB

Die Verfassungsbeschwerde gegen eine Verurteilung wegen Beleidigung von Politikerinnen durch die Bezeichnungen als „Fotze“ und als „aufgedunsene Dampfnudel“ auf einem YouTube-Kanal genügt nicht den Begründungsanforderungen, wenn der Beschwerdeführer sich weder mit den Maßstäben der als verletzt gerügten Kunstfreiheit auseinandersetzt noch darlegt, inwiefern die Strafgerichte zu Unrecht von Schmähkritik im Sinne der anerkannten Dogmatik der Meinungsfreiheit ausgegangen sein könnten oder unter welchem Gesichtspunkt die von den Gerichten hilfsweise vorgenommene Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Betroffenen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügen könnte.


Entscheidung

1065. BVerfG 2 BvR 64/25 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 24. August 2025 (BGH / LG Köln)

Audiovisuelle Vernehmung eines sich im Ausland aufhaltenden Entlastungszeugen (Recht auf ein faires Verfahren;

Subjektstellung des Beschuldigten; Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung; Recht zu Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen nach der EMRK; „volle Waffengleichheit“; Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift über die Ablehnung von Beweisanträgen auf Vernehmung eines Auslandszeugen; allgemeine Amtsaufklärungspflicht; verfassungswidrige Handhabung im Einzelfall).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK; § 244 Abs. 2 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 StPO; § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO

1. Die Ablehnung der audiovisuellen Vernehmung eines von der Verteidigung benannten, sich im Ausland (Türkei) aufhaltenden aussagebreiten Entlastungszeugen in einem Strafverfahren verletzt den Angeklagten in seinem Recht auf ein faires Verfahren, wenn die Strafkammer ungeachtet des äußerst schwerwiegenden Tatvorwurfs der Anstiftung zum Mord und der auch aus Sicht der Kammer zentralen Bedeutung der Beweisbehauptungen maßgeblich darauf abstellt, es sei nicht möglich, sich einen hinreichenden Eindruck von dem (auch nonverbalen) Aussageverhalten des Zeugen zu verschaffen, der im gesamten Strafverfahren bislang noch nicht vernommen worden sei, obwohl gerade der letztgenannte Umstand zur Folge hat, dass es dem Angeklagten bislang vollständig verwehrt war, eine Aussage des nach seinen Angaben zentralen Entlastungszeugen in das Verfahren einzuführen (Hauptsacheentscheidung zum Beschluss über die Ablehnung einer einstweiligen Anordnung vom 20. März 2025 [= HRRS 2025 Nr. 390]).

2. Das im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und der Menschenwürde wurzelnde Recht auf ein faires Verfahren gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen (Straf-)Verfahrens. Es kann dadurch verletzt werden, dass ein Tatgericht den Schutzgehalt einer Verfahrensnorm verkennt oder die verfassungsrechtlichen Grenzen des ihm bei der Auslegung und Anwendung von Verfahrensrecht eingeräumten Ermessens überschreitet.

3. Konkret schützt das Recht auf ein faires Verfahren zunächst die Subjektstellung des Beschuldigten, dem die Möglichkeit gegeben werden muss, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Zum Recht auf ein faires Verfahren gehört außerdem der Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung; denn zur Verwirklichung des materiellen Schuldprinzips bedarf es der Ermittlung des wahren Sachverhalts, die deshalb zentrales Anliegen des Strafverfahrens ist.

4. Die bei der Auslegung der grundgesetzlichen Gewährleistungen heranzuziehende Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte garantiert als besondere Ausprägung des Rechts auf ein faires Verfahren das Recht des Angeklagten, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten. Zwar erfordert dies nicht die Anwesenheit und Befragung jedes benannten Entlastungszeugen, doch zielt die EMRK darauf ab, „volle Waffengleichheit“ herzustellen.

5. Die Vorschrift des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO, wonach ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abgelehnt werden kann, wenn die Vernehmung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Wahrheitserforschung nicht erforderlich ist, unterliegt in ihrer grundsätzlichen Auslegung und Anwendung durch den Bundesgerichtshof keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Danach kann auf die Vernehmung eines Auslandszeugen eher verzichtet werden, wenn das Beweisergebnis auf breiter Grundlage gesichert ist und sich der angebotene Zeuge nur zu indiziell oder randständig relevanten Umständen äußern soll. Umgekehrt steigt die Erforderlichkeit der Beweiserhebung, je ungesicherter die bisherige Beweislage ist, je größer die verbleibenden Unwägbarkeiten sind und je gewichtiger die Aussagen des Zeugen zur Schuldfrage sind. Zudem sind das Gewicht der Strafsache sowie Bedeutung und Beweiswert des weiteren Beweismittels gegenüber den Nachteilen der mit der Vernehmung verbundenen Verfahrensverzögerungen abzuwägen.

6. Allerdings kann sich die Anwendung von § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO im konkreten Fall so weit von der Verpflichtung entfernen, in Wahrung der Unschuldsvermutung auch die gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechenden Gründe wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und die Entscheidung keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann.


Entscheidung

1066. BVerfG 2 BvR 530/25 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 12. August 2025 (LG Hildesheim / AG Hildesheim)

Unzureichende Begründung der Anordnung einer molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Verwendung in künftigen Strafverfahren (DNA-Analyse; Identitätsfeststellung; Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung; Prognoseentscheidung; Straftaten von erheblicher Bedeutung; zureichende Sachaufklärung; Darstellung und Abwägung aller im Einzelfall bedeutsamen Umstände; erhöhter Begründungsbedarf bei Abweichung von positiver Bewährungsentscheidung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 81g StPO; § 56 StGB

1. Die Anordnung einer molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Verwendung in künftigen Strafverfahren genügt nicht den aus dem Grundecht auf informationelle Selbstbestimmung folgenden Anforderungen, wenn das Gericht nicht alle für die Prognoseentscheidung bedeutsamen Umstände in seine Abwägung eingestellt und insbesondere nicht erörtert hat, welche Bedeutung den Umständen beizumessen ist, dass der Verurteilte keine Betäubungsmittel mehr konsumiert und eine Bewährungszeit erfolgreich absolviert hat.

2. Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Grundecht auf informationelle Selbstbestimmung ein, wonach der Einzelne befugt ist, grundsätzlich selbst zu entscheiden, inwieweit ihn betreffende persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Einschränkungen dieses Grundrechts dürfen nicht weiter gehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist.

3. Die Anordnung nach § 81g StPO setzt die Erwartung voraus, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftaten, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden. Insoweit bedarf es einer einzelfallbezogenen und auf zureichender Sachaufklärung beruhenden Prognoseentscheidung, bei der alle bedeutsamen Umstände nachvollziehbar darzustellen und abzuwägen sind. Der bloße Hinweis auf einschlägige Vorverurteilungen genügt ebenso wenig wie die nicht weiter begründete Annahme einer Schwere der begangenen Straftat.

4. In die Abwägung sind auch Umstände einzustellen, die bei einer Sozialprognose für die Strafaussetzung zur Bewährung bestimmend sein können, wie etwa ein straffreies Vorleben, die Rückfallgeschwindigkeit, der Zeitablauf seit der früheren Tatbegehung, das Verhalten des Betroffenen in der Bewährungszeit oder ein Straferlass, die Motivationslage bei der früheren Tatbegehung sowie Lebensumstände und Persönlichkeit des Verurteilten.

5. Wenngleich die von einem anderen Gericht zur Frage der Strafaussetzung zur Bewährung getroffene Sozialprognose angesichts des unterschiedlichen Prognosemaßstabs keine Bindungswirkung entfaltet, bedarf es bei gegenläufigen Prognosen verschiedener Gerichte regelmäßig einer erhöhten Begründungstiefe für die nachfolgende Entscheidung, mit der eine Maßnahme nach § 81g StPO angeordnet wird.


Entscheidung

1067. BVerfG 2 BvR 625/25 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. September 2025 (BGH / LG Mannheim)

Verwertbarkeit von Informationen aus der Überwachung einer ANOM-Kommunikation (Beweisverwertungsverbot als Ausnahme; Voraussetzungen eines verfassungsrechtlich begründeten Beweisverwertungsverbots; Verwertung eines im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweises; keine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung; Außerachtlassung nationaler und europäischer rechtsstaatlicher Mindeststandards; Einhaltung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze; Gewährleistung eines Mindestmaßes an Grundrechtsschutz; Menschenwürde; Wesensgehalt von Grundrechten; Recht auf ein faires Verfahren; Möglichkeit zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; Erschütterung durch entgegenstehende Tatsachen; Erkenntnisdefizite bezüglich der Identität des involvierten EU-Mitgliedstaats; Unerheblichkeit eventueller Verstöße des FBI gegen US-amerikanisches Recht oder gegen rechtshilferechtliche Regelungen; Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen; Verletzung der Unterrichtungspflicht); Garantie des gesetzlichen Richters und Pflicht zur Vorlage an den EuGH (mögliches unionsrechtliches Beweisverwertungsverbot; Willkürmaßstab; Verfassungsverstoß nur bei offensichtlich unhaltbarer Handhabung der Vorlagepflicht; Fallgruppen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 25 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 14 Abs. 7 RL EEA; Art. 31 RL EEA; § 100a StPO; § 91g Abs. 6 IRG

1. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe unter maßgeblicher Verwertung im Wege der Rechtshilfe von den USA erlangter Informationen aus der Überwachung und Auswertung von Chat-Nachrichten einer dem Angeklagten zuzuordnenden verschlüsselten ANOM-Kommunikation begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (Folgeentscheidung zu BGH, Beschluss vom 21. Januar 2025 – 1 StR 281/24 – [= HRRS 2025 Nr. 501]).

2. Das Verfahren zur Erhebung von ANOM-Daten, bei dem mittels einer Software alle über ein ANOM-Gerät versandten Nachrichten ohne Wissen des Nutzers über einen von einem EU-Mitgliedstaat auf der Grundlage eines bilateralen Rechtshilfeabkommens mit den USA zur Verfügung gestellten iBot-Server dem FBI zugeleitet und (erst) von diesem entschlüsselt und ausgewertet wurden, unterliegt nicht deshalb Bedenken im Hinblick auf die Einhaltung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und der Gewährleistung eines Mindestmaßes an Grundrechtsschutz, weil – lediglich – der den Server hostende Staat und der Inhalt der nach dessen Prozessrecht erwirkten gerichtlichen Beschlüsse zur Bewilligung der Maßnahmen unbekannt geblieben sind. Mangels Anhaltspunkten dafür, dass der um Rechtshilfe ersuchte EU-Mitgliedstaat bei der Gewinnung der Beweismittel die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes verletzt haben könnte, spricht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gegen eine solche Annahme. Ein Rechtsverstoß des FBI gegen US-amerikanisches Recht oder gegen rechtshilferechtliche Regelungen ist ebenfalls nicht erkennbar, so dass offenbleiben kann, ob ein solcher ein Verwertungsverbot begründen könnte.

3. Die Verwertung der ANOM-Daten verletzt nicht deshalb das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren, weil dieser außerstande gewesen wäre, auf Gang und Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Vielmehr war der Angeklagte jederzeit in der Lage, zu den Ergebnissen der ihn betreffenden Kommunikationsüberwachung konkret Stellung zu nehmen und insbesondere die Authentizität der gespeicherten Kommunikation – wie indes ausdrücklich nicht geschehen – in Frage zu stellen. Die nur bestehenden Erkenntnisdefizite in Bezug auf die Identität des den iBot-Server hostenden EU-Mitgliedstaat sowie die der Speicherung und Weitergabe der Daten an die USA zugrundeliegenden Beschlüsse der Gerichte dieses Staates betreffen allein die Frage, ob Datenspeicherung und -weitergabe nach dem nationalen Recht dieses Staates zulässig waren; dies ist jedoch für die Frage eines Beweisverwertungsverbots in Deutschland ohne Bedeutung.

4. Von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist auch die Beurteilung des Bundesgerichtshofs, die – hier angenommene – Verletzung von Art. 31 RL EEA führe nach der Abwägungslehre nicht zu einem Beweisverwertungsverbot, zumal die Voraussetzungen des § 100a StPO für eine Telekommunikationsüberwachung in Deutschland ersichtlich gegeben gewesen wären. Ebenso hat auch der von der Strafkammer unterstellte Verstoß gegen § 91g Abs. 6 IRG kein Beweisverwertungsverbot zur Folge.

5. Der Bundesgerichtshof war auch nicht gehalten, dem EuGH die Frage eines möglichen (unionsrechtlichen) Beweis-

verwertungsverbots vorzulegen. Zu Beweisverwertungsverboten bei Verletzung der Unterrichtungspflicht nach Art. 31 RL EEA hat der EuGH in seiner EncroChat-Entscheidung (Urteil vom 30. April 2024 – C-670/22 – [= HRRS 2024 Nr. 644]) bereits Stellung genommen; diese Rechtsprechung legt der Bundesgerichtshof seiner Entscheidung ausdrücklich zugrunde. Die Frage eines möglichen unionsrechtlichen Beweisverwertungsverbots wegen Verstoßes gegen Art. 14 Abs. 7 Satz 2 RL EEA war für den Bundesgerichtshof nicht entscheidungserheblich.

6. In verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise geht die strafgerichtliche Praxis in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass die Frage nach dem Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art der verletzten Vorschrift und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist. Die Annahme eines Verwertungsverbots stellt dabei eine Ausnahme dar, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist.

7. Ein Beweisverwertungsverbot kann von Verfassungs wegen allerdings dann anzunehmen sein, wenn dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung unverhältnismäßig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreifen würde. Die Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, darf auch nicht zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen. Ein Beweiserhebungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Verfahrensverstößen geboten sein, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind.

8. Für die Verwertung von Beweisen, die aus dem Ausland in ein deutsches Strafverfahren eingeführt wurden, gelten insoweit im Grundsatz keine Besonderheiten. Das deutsche Tatgericht ist allerdings regelmäßig nicht gehalten, vor der Verwertung eines im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangten Beweises die Rechtmäßigkeit der Erhebung des zur Verfügung gestellten Beweises am Maßstab der Rechtsordnung des ersuchten Staates oder anhand des – auf die ausländische Beweiserhebung im Ausgangspunkt überhaupt nicht anwendbaren – deutschen Rechts zu überprüfen.

9. Die Unverwertbarkeit von im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweisen kann sich aber auch von Verfassungs wegen daraus ergeben, dass die Beweise im ersuchten Staat unter Außerachtlassung nationaler und europäischer rechtsstaatlicher Mindeststandards gewonnen worden sind. Die vom Bundesgerichtshof insoweit unter dem Gesichtspunkt des nationalen und europäischen ordre public gezogenen Verwertbarkeitsgrenzen sind dann überschritten, wenn die ausländische Beweiserhebung dem unabdingbaren Maß an Grundrechtsschutz und den in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards nicht gerecht wird, insbesondere, wenn bei der Beweiserhebung gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen oder sonst menschenwürderelevant in den Wesensgehalt von Grundrechten eingegriffen wurde. Auch der Wesensgehalt der Verfahrensfairness sowie das Gebot der Verhältnismäßigkeit gehören zu den insoweit unabdingbaren Grundsätzen.

10. Wie im – deutlich eingriffsintensiveren und in Bezug auf die Verletzung von Grund- und Menschenrechten durch einen anderen Staat risikoreicheren – Auslieferungsverkehr gilt auch bei der Entgegennahme von Erkenntnissen aus einer Telekommunikationsüberwachung der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Danach kann so lange von der Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes im anderen Staat ausgegangen werden, solange dies nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird.

11. Die unterbliebene Einleitung eines Vorlageverfahrens an den EuGH kann den Rechtssuchenden in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzen. Das Bundesverfassungsgericht überprüft jedoch nur, ob das Fachgericht die unionsrechtliche Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt hat. Dies ist der Fall, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht trotz Zweifeln an der Rechtsauslegung eine Vorlage nicht in Betracht zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht) oder wenn es ohne Vorlagebereitschaft bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweicht.

12. In den Fällen der Unvollständigkeit der Rechtsprechung des EuGH verletzt das letztinstanzliche Hauptsachegericht mit einer Nichtvorlage das Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet. Dies ist der Fall, wenn es willkürlich davon ausgeht, die Rechtslage sei entweder von vornherein eindeutig („acte clair“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclairé“).