HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2024
25. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1. BVerfG 1 BvR 52/23 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 15. November 2023 (LG Heilbronn / AG Heilbronn)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung einer Wohnung zur Ermittlung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten (Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung; Wohnungsgrundrecht; grundsätzliche Zulässigkeit einer Durchsuchung zur Ermittlung der Tagessatzhöhe; Unverhältnismäßigkeit bei sich im Einzelfall aufdrängenden milderen Ermittlungsmaßnahmen; Anfrage bei Besoldungsstelle und BaFin; Vorrang der Schätzung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Rechtsschutzbedürfnis; Feststellungsinteresse nach Vollziehung der Durchsuchung; tiefgreifender Grundrechtseingriff auch bei Kooperation des Betroffenen).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 102 StPO; § 160 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 40 Abs. 2 StGB; § 40 Abs. 3 StGB; § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB

1. Die Durchsuchung einer Wohnung mit dem Ziel der Ermittlung der Einkommensverhältnisse des Beschuldigten – als Grundlage für die Festsetzung der Tagessatzhöhe – in einem Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung ist unverhältnismäßig, wenn die Ermittlungsbehörden weder den Beschuldigten zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen befragt noch auf dessen Erklärung, er sei „Beamter im aktiven Dienst“, die zuständige Besoldungsstelle um Mitteilung

der Besoldungshöhe gebeten haben. Zudem hätten über eine – ebenfalls grundrechtsschonendere – Anfrage bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eventuelle weitere Einkünfte ermittelt werden können.

2. Dem mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre des Einzelnen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine Durchsuchung ist unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des im jeweiligen Verfahrensabschnitt bestehenden Tatverdachts steht.

3. Eine Wohnungsdurchsuchung ist nicht bereits deshalb unzulässig, weil sie allein dem Zweck dient, die Einkommensverhältnisse des Beschuldigten festzustellen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben sich auch auf Umstände zu erstrecken, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind; hierzu zählen die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zur Bestimmung der Tagessatzhöhe. Durchsuchungen sind insoweit jedoch grundsätzlich nur dann verhältnismäßig, wenn anhand der übrigen zur Verfügung stehenden Beweismittel selbst eine Schätzung nach § 40 Abs. 3 StGB nicht möglich ist.

4. Das Rechtsschutzbedürfnis für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Durchsuchungsanordnung besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Grundrechtseingriffs fort, wenn die Durchsuchung vollzogen und damit erledigt ist. Dies gilt auch dann, wenn Durchsuchungsbeamte unter Vorlage des Durchsuchungsbeschlusses dessen Vollzug lediglich ankündigen, den – kooperativen – Betroffenen so zur Herausgabe der gesuchten Gegenstände veranlassen und dabei seine Wohnung betreten.


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 1749/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. Dezember 2023 (LG Berlin / AG Tiergarten)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung einer Wohnung (Ermittlungsverfahren wegen Ersetzens eines Werbeplakats der Bundeswehr – „Adbusting“; Wohnungsgrundrecht; Anfangsverdacht; vorbeugende Kontrolle als Funktion des Richtervorbehalts; Bezeichnung von Tatvorwurf und Beweismitteln; mögliche Strafbarkeit des „Adbusting“ als Diebstahl oder Sachbeschädigung; kein genereller Vorrang der Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit; Unverhältnismäßigkeit der Durchsuchung wegen geringer Tatschwere und Auffindewahrscheinlichkeit von Beweismitteln).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG; Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 242 StGB; § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StGB; § 303 Abs. 1 StGB

1. Die Durchsuchung der Wohnung einer Beschuldigten, welche dabei betroffen wurde, wie sie ein Werbeplakat der Bundeswehr einem Schaukasten an einer Bushaltestelle entnahm, um es durch ein verändertes Plakat zu ersetzen, das Kritik an der Bundeswehr und einem Rüstungsunternehmen zum Ausdruck brachte („Adbusting“), ist unverhältnismäßig, wenn die Gerichte im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung die fehlende Schwere der konkret aufzuklärenden Tat und die im Einzelfall niedrige Straferwartung nicht hinreichend in den Blick nehmen und verkennen, dass für das Auffinden von Beweismitteln betreffend die nur in Rede stehende Tat allenfalls eine geringe Wahrscheinlichkeit bestand.

2. „Adbusting“ kann als Diebstahl strafbar sein, wenn das Originalplakat nicht vor Ort verbleibt, sondern mitgenommen wird, wobei ein besonders schwerer Fall regelmäßig wegen Geringwertigkeit des Plakats auszuschließen sein wird. Wird das Originalplakat selbst verfälscht, so kommt (auch) eine Sachbeschädigung in Betracht. Die Meinungs- oder Kunstfreiheit stehen der Strafbarkeit nicht zwingend entgegen, weil die Grundrechte im Einzelfall hinter den Eigentumsinteressen des Geschädigten zurücktreten können.

3. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu seiner Rechtfertigung einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss.

4. Um den Eingriff messbar und kontrollierbar zu gestalten, muss der Durchsuchungsbeschluss den Tatvorwurf und die konkreten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen für die Durchsuchung abgesteckt wird. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.

5. Eine Durchsuchung ist unverhältnismäßig, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen oder die Maßnahme außer Verhältnis zur Schwere der konkreten Straftat oder der Stärke des Tatverdachts steht. Hierbei sind auch die Bedeutung des aufzufindenden Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des Auffindeverdachts zu bewerten. Die Auffindewahrscheinlichkeit ist insbesondere bei länger zurückliegenden Ereignissen oder bei Kenntnis des Betroffenen von den Ermittlungen sorgfältig zu prüfen.


Entscheidung

2. BVerfG 2 BvR 1694/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. Dezember 2023 (OLG Braunschweig)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung (gerichtliche Aufklärungspflicht hinsichtlich der Wahrung prozessualer Mindestrechte; Abwesenheitsurteil; Gefahr eines Suizidversuchs; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 19 Abs. 4 GG und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob die prozessualen Mindestrechte des Verfolgten verletzt worden sind, weil die zu

vollstreckenden Urteile zum Teil in dessen Abwesenheit ergangen sind, und ob der Gefahr eines erneuten Suizidversuchs des Verfolgen hinreichend Rechnung getragen ist.