HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2022
23. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

938. BGH 5 StR 398/21 - Beschluss vom 12. Mai 2022 (LG Dresden)

BGHSt; Unwirksamkeit eines per einfacher E-Mail angebrachten Strafantrags (elektronische Dokumente; Schriftform; Papierform; Lockerungen; Unterschrift; qualifizierte elektronische Signatur; Ausdruck; Schriftverkehr zwischen Behörden).

§ 32a StPO; § 158 Abs. 2 StPO

1. Keine wirksame Anbringung eines Strafantrags mittels „einfacher“ E-Mail. (BGHSt)

2. Die Einreichung eines elektronischen Dokuments bei einer Strafverfolgungsbehörde richtet sich allein nach § 32a StPO. Bei einer E-Mail handelt es sich um ein elektronisches Dokument im Sinne des § 32a StPO. Unter diesen Begriff fällt jegliche Form elektronischer Information (z.B. als Text-, Tabellen- oder Bilddatei), die ein Schriftstück beziehungsweise eine körperliche Urkunde ersetzen soll und grundsätzlich zur Wiedergabe in verkörperter Form. (Bearbeiter)

3. Für ein Dokument, das schriftlich abzufassen, zu unterschreiben oder zu unterzeichnen ist, schreibt § 32a Abs. 3 StPO vor, dass es als elektronisches Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden muss. Diese Vorgabe gilt auch für Strafanträge, wenn sie als elektronisches Dokument eingereicht werden. (Bearbeiter)

4. Die unsignierte, direkt an den Empfänger gerichtete einfache E-Mail wird keiner der genannten Vorgaben gerecht: Weder enthält sie eine qualifizierte elektronische Signatur (§ 32a Abs. 3 1. Alt. StPO), noch wird einer der

vorgesehenen sicheren Übermittlungswege verwendet (§ 32a Abs. 3 2. Alt. StPO). Letztere sind in § 32a Abs. 4 Satz 1 StPO abschließend normiert. Anderes gilt grundsätzlich auch dann nicht, wenn die E-Mail zwischen dienstlichen Postfächern zweier Behörden verschickt wird. (Bearbeiter)

5. Für Strafanträge, die als Papierdokument angebracht werden, sind angesichts des Zwecks der vorgeschriebenen Schriftform überwiegend gewisse Lockerungen bei ihrer Einhaltung anerkannt. Dass diese Lockerungen bei der Übermittlung elektronischer Dokumente an Gerichte und Strafverfolgungsbehörden keine direkte Entsprechung finden, ist zwangsläufige Konsequenz der gesetzlichen Regelung und durch den Gesetzgeber in Kauf genommen. (Bearbeiter)

6. Der Senat kann offen lassen, ob im Strafverfahren – entsprechend der anerkannten Rechtslage im Zivilrecht – ein unter Missachtung der Vorgaben des § 32a Abs. 3 StPO im Anhang einer einfachen E-Mail eingereichtes elektronisches Dokument durch Ausdruck und Aufnahme in die Akte zu einem formwirksamen Papierdokument werden kann. (Bearbeiter)


Entscheidung

986. BGH 3 StR 181/21 - Beschluss vom 18. Mai 2022 (LG Duisburg)

Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit (Vorbefassung: Mitwirkung an Urteil über dieselbe Tat gegen andere Beteiligte; Rechtsprechung des EGMR; Entscheidungsfrist im Ablehnungsverfahren); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Nachholung von Verfahrensrügen; Postlaufzeiten); Revisionsbegründungsschrift (Übernahme des Textes von Mitangeklagten); Bandenhandel mit Betäubungsmitteln (Anforderungen an die Bandenabrede; Mitwirkung von Bandenmitgliedern).

§ 30a Abs. 1 BtMG; § 24 StPO; § 29 Abs. 3 StPO; § 44 StPO; § 338 Nr. 3 StPO; § 345 StPO; Art. 6 Abs. 1 EMRK

1. Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters ist, regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters im Sinne des § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen.

2. Die Mitwirkung an einem Urteil über dieselbe Tat gegen einen anderen Beteiligten in einem abgetrennten Verfahren ist grundsätzlich unbedenklich. Das gilt selbst dann, wenn das Verfahren gegen einzelne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung oder aus sonstigen Gründen abgetrennt wird und in dem abgetrennten Verfahren ein Schuldspruch gegen frühere Mitangeklagte wegen eines auch die verbliebenen Angeklagten betreffenden Tatgeschehens mit Feststellungen ergeht, zu denen sich das Gericht im Ursprungsverfahren gegen diese später ebenfalls noch eine Überzeugung zu bilden hat.

3. Im Rahmen der gebotenen konventionsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts und damit des § 24 Abs. 2 StPO ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Die Judikatur des Gerichtshofs erfordert es indes nicht, die von der deutschen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Besorgnis der Befangenheit wegen Vorbefassung aufzugeben; diese bedürfen lediglich der Ergänzung: Besorgnis der Befangenheit eines Richters, der an einem früheren Urteil gegen einen Mitbeschuldigten wegen desselben Tatgeschehens mitgewirkt hat, kann danach bei einer Gesamtabwägung aller Umstände im Einzelfall auch vorliegen, wenn das frühere Urteil Feststellungen zur Beteiligung des jetzigen Angeklagten trifft, die dort rechtlich nicht geboten waren, also zur Beschreibung des strafrechtlich relevanten Handels des früheren Angeklagten, zu dessen rechtlicher Einordnung und für die Rechtsfolgenentscheidung nicht erforderlich waren.

4. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seine Gesamtbetrachtung eingestellten Kriterien, ob das Tatgericht die Verurteilung des Beschwerdeführers in einem späteren Verfahren ohne Rückgriff auf die Beweisergebnisse des früheren Verfahrens auf eine neue Beweisaufnahme und eigenständige Beweiswürdigung gestützt hat bzw. das erkennende Gericht im späteren Urteil zu im Detail vom ersten Erkenntnis abweichenden Feststellungen gelangt ist, haben bei der Beurteilung einer Befangenheitsrüge nach § 24 Abs. 1 und 2, § 338 Nr. 3 StPO außer Betracht zu bleiben. Denn das Revisionsgericht prüft die Begründetheit der Rüge der zu Unrecht beschlossenen Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs zwar nach Beschwerdegrundsätzen, aber unter Zugrundelegung der Sachlage zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses, mit dem das Befangenheitsgesuch zurückgewiesen worden ist; später hinzugekommener Tatsachenstoff darf nicht berücksichtigt werden.

5. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung von Verfahrensrügen ist ausnahmsweise dann zu gewähren, wenn sie zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint. Ein solcher Fall kann vorliegen, wenn eine Revisionsbegründungsschrift so frühzeitig zur Post gebracht worden ist, dass auf einen fristgemäßen Eingang bei Gericht vertraut werden darf; eine außergewöhnlich lange Postlaufzeit von 14 Tagen ist insoweit nicht in Rechnung zu stellen.

6. Es ist nicht grundsätzlich zu beanstanden, wenn ein Verteidiger für seine Revisionsbegründung den Text der Revisionsbegründungsschrift eines Mitangeklagten übernimmt oder die Verteidiger mehrerer Angeklagter gemeinsam eine Revisionsbegründungsschrift erarbeiten und jeweils als Revisionsbegründung des eigenen Mandanten vorlegen. Erforderlich für eine zulässige Revisionsbegründung ist allerdings stets, dass der sie vorlegende Verteidiger eigene Verantwortung für das gesamte Vorbringen übernimmt sowie selbst gestaltend an diesem mitwirkt, und zwar zumindest insoweit, als er den Text dahin prüft, ob dieser den rechtlichen Anforderungen an eine Begründung des Rechtsmittels des eigenen Angeklagten genügt, und gegebenenfalls erforderliche Änderungen, Ergänzungen oder Streichungen vornimmt. Die schlichte Übernahme eines ersichtlich auf einen anderen Angeklagten zugeschnittenen Textes durch den Verteidiger eines Mitangeklagten ohne erforderliche Modifikationen in Bezug auf den eigenen Mandanten ist dagegen nicht gestattet und kann zur Unzulässigkeit der Revision oder einzelner Rügen führen.

7. Der Ablauf der Frist des § 29 Abs. 3 StPO für die Entscheidung über die Ablehnung eines Richters hat weder die Unzulässigkeit einer Entscheidung über das Befangenheitsgesuch noch ein (Weiter-)Verhandlungsverbot im betreffenden Verfahren zur Konsequenz. Eine Hauptverhandlung darf auch nach Ablauf der Frist des § 29 Abs. 3 StPO fortgesetzt werden. Der reine Fristverstoß bleibt ohne revisionsrechtliche Folgen.

8. Der Annahme einer Bande steht nicht entgegen, dass weitere Bandenmitglieder nach der getroffenen Abrede allein untergeordnete Tatbeiträge erbringen und diese daher rechtlich als Beihilfe zum Bandenhandel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge einzuordnen sind. Mitglied einer Bande kann auch derjenige sein, dessen Tatbeiträge sich in einer Gehilfentätigkeit erschöpfen. Auch genügt es, wenn ein Betäubungsmittelgeschäft als Ausfluss der Bandenabrede im Rahmen der Bandenstruktur abgewickelt wird. Für eine Strafbarkeit wegen Bandenhandels mit Betäubungsmitteln ist nicht erforderlich, dass unter Mitwirkung anderer Bandenmitglieder agiert wird.


Entscheidung

909. BGH 3 StR 455/21 - Urteil vom 14. Juli 2022 (LG Oldenburg)

Erfolglose Rüge einer informellen Verfahrensabsprache (Erklärung des Vorsitzenden zur Schuldangemessenheit eines vorgeschlagenen Strafrahmens auch ohne Verständigung; transparenter und kommunikativer Verhandlungsstil; keine Zustimmung der Staatsanwaltschaft; Übereinstimmung von vorgeschlagener und ausgeurteilter Strafe; Indizien für informelle Absprache; Protokoll; Mitteilungspflicht; Rügevorbringen).

§ 257c StPO; 243 Abs. 4 StPO; § 273 Abs. 1a StPO

1. Erklärt der Vorsitzende im Rahmen von Verständigungsgesprächen unmittelbar im Anschluss an eine zurückhaltende Reaktion der Staatsanwaltschaft auf einen gerichtlichen Verständigungsvorschlag, dass die Strafkammer den vorgeschlagenen Strafrahmen bei einem Geständnis des Angeklagten auch dann für schuldangemessen erachtet, wenn keine förmliche Verständigung zustande kommt, ist diese Vorgehensweise nicht völlig unbedenklich. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Vorsitzende die Erklärung nicht mit einem klarstellenden Hinweis darauf verbindet, die geäußerte Einschätzung zu einer schuldangemessenen Strafe sei vorläufig und dürfe vor dem Hintergrund einer (bislang) nicht zustande gekommenen Verständigung nicht als verbindliche Zusage interpretiert werden.

2. Eine entsprechende Erklärung des Vorsitzenden ist jedoch in der Regel kein belastbares Indiz für eine Bereitschaft der Strafkammer, sich mit dem Angeklagten jenseits der Regelungen des § 257c StPO auf ein Verfahrensergebnis zu verständigen, und nicht als verdecktes Angebot eines solchen „Deals“ zu interpretieren. Von Rechts wegen ist nicht zu beanstanden, dass der Vorsitzende im Zusammenhang mit einer Erörterung nach § 212 StPO erklärte, die Strafkammer erachte bei dem Prozessverhalten des Angeklagten, auf dem der Verständigungsvorschlag basiere, auch ohne eine Verständigung eine Strafe innerhalb des Rahmens für angemessen, der in dem Verständigungsvorschlag genannt sei. Denn es ist dem Gericht unbenommen, im Sinne einer transparenten und kommunikativen Verhandlungsführung ein mögliches Prozessergebnis bei einem Geständnis des Angeklagten in Aussicht zu stellen, solange damit keine endgültige Festlegung oder Zusage verbunden ist.

3. Auch eine Verständigung muss eine schuldangemessene Strafe zum Inhalt haben, so dass es keine grundsätzlichen Bedenken aufwirft, wenn der ohne eine Verständigung für den Fall eines Geständnisses in Aussicht gestellte Strafrahmen dem eines zuvor unterbreiteten Verständigungsvorschlages entspricht.


Entscheidung

1026. BGH 4 StR 68/22 - Beschluss vom 19. Juli 2022 (LG Bochum)

Pflicht zur elektronischen Übermittlung (Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung: Unwirksamkeit der Erklärung bei Nichteinhaltung); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Anforderung an einen Wiedereinsetzungsantrag; von Amts wegen zu gewährende Wiedereinsetzung).

§ 32d StPO; § 45 StPO

Nach dem seit dem 1. Januar 2022 geltenden § 32d Satz 2 StPO müssen Verteidiger und Rechtsanwälte u.a. die Revision und ihre Begründung als elektronisches Dokument übermitteln. Insoweit handelt es sich um eine Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Prozesshandlung. Ihre Nichteinhaltung bewirkt die Unwirksamkeit der Erklärung.


Entscheidung

1021. BGH 4 StR 64/22 - Beschluss vom 19. Juli 2022 (LG Frankenthal (Pfalz))

Höchstdauer einer Unterbrechung (Termin: Vorliegen, inhaltliche Förderung auf den abschließenden Urteilsspruch hin, Fortsetzungstermin zur Einhaltung der Unterbrechungsfrist, Schiebetermine, doppelrelevante Umstände); Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Konkurrenzen: Tateinheit, Abgrenzung zur Tatmehrheit, einheitliche Rauschgiftmenge, kein Ankommen auf den Einzelverkauf, verschiedene Betäubungsmittelarten); Einziehung von Taterträgen bei Tätern und Teilnehmern (gesamtschuldnerische Haftung); Verhängung in Tagessätzen (Bemessung des Tagessatzes: Aufgehen in einer Gesamtfreiheitsstrafe).

§ 229 StPO; § 29a BtMG; § 52 StGB; § 53 StGB; § 73c StGB; § 40 StGB

1. Als ein Termin, der zur fristwahrenden Fortsetzung der Hauptverhandlung nach Maßgabe von § 229 Abs. 1 und 4 Satz 1 StPO geeignet ist, gilt nach ständiger Rechtsprechung nur ein solcher, in dem zur Sache verhandelt, mithin das Verfahren inhaltlich auf den abschließenden Urteilsspruch hin gefördert worden ist. Dies kann etwa durch Vernehmung des Angeklagten, durch Beweisaufnahme oder sonst durch Erörterung des Prozessstoffs geschehen. Es genügt jede Förderung des Verfahrens, selbst wenn weitere verfahrensfördernde Handlungen möglich gewesen wären und der Fortsetzungstermin auch der Einhaltung der Unterbrechungsfrist diente.

2. Nicht ausreichend sind hingegen sogenannte (reine) „Schiebetermine“, welche die Unterbrechungsfrist lediglich formal wahren, in denen aber tatsächlich keine

Prozesshandlungen oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen vorgenommen werden, die geeignet sind, das Strafverfahren seinem Abschluss substanziell näher zu bringen. Derartige Schiebetermine liegen darüber hinaus auch dann vor, wenn einheitliche Verfahrensvorgänge willkürlich in mehrere kurze Verfahrensabschnitte zerstückelt und diese auf mehrere Verhandlungstage verteilt werden, nur um hierdurch die Unterbrechungsfristen einzuhalten.

3. Die Vorbereitung einer auf die Sicherung eines geordneten Strafverfahrens abzielenden Haftentscheidung ist für sich genommen keine Sachverhandlung.

4. Der Tatbestand des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln ist mit dem Beschaffen der dem späteren Güterumsatz dienenden einheitlichen Rauschgiftmenge bereits in Bezug auf die Gesamtmenge erfüllt. Zu dieser Tat gehören aufgrund einer Bewertungseinheit auch alle späteren Betätigungen, die auf den Vertrieb desselben Rauschgifts gerichtet sind. Auf die Einzelverkäufe kommt es daher nicht an. Dies gilt auch dann, wenn sich der einheitliche Erwerbsvorgang auf verschiedene Betäubungsmittelarten bezieht.

5. Die Bemessung des Tagessatzes ist nicht dadurch entbehrlich, dass die Geldstrafe in einer Gesamtfreiheitsstrafe aufgeht.


Entscheidung

868. BGH 1 StR 119/22 - Beschluss vom 9. August 2022 (LG Ulm)

Wirksame Rücknahme der Revision (Weiterleitung durch die Staatsanwaltschaft).

§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 341 Abs. 1 StPO

Der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung steht es nicht entgegen, wenn die Angeklagte die Erklärung nicht – entsprechend § 341 Abs. 1 StPO – an das urteilende Landgericht, sondern an die Staatsanwaltschaft gerichtet hat, soweit diese die Erklärung innerhalb weniger Tage an das Landgericht weiterleitet.


Entscheidung

996. BGH StB 35/22 - Beschluss vom 25. August 2022 (OLG Düsseldorf)

Verteidigerwechsel (terminliche Verhinderung eines Verteidigers; Beschleunigungsgebot; Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden).

§ 143a StPO; § 144 StPO

1. Die Auswechslung eines beigeordneten Pflichtverteidigers nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO kommt nicht nur bei groben Pflichtverletzungen in Betracht, sondern auch, wenn dieser aufgrund äußerlich veranlasster, von seinem Willen unabhängigen Umständen außerstande ist, eine angemessene Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten.

2. In diesem Sinne kann die Verhinderung eines Verteidigers an einem erheblichen Teil der (anberaumten oder anvisierten) Hauptverhandlungstermine einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf entgegenstehen, wobei das Interesse des Angeklagten an einer Beibehaltung des bisherigen Pflichtverteidigers gegenüber dem insbesondere in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot unter Umständen zurücktreten muss, sodass eine Auswechslung eines bestellten, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers im Einzelfall geboten sein kann. Auch wenn der Angeklagte in bestimmten Grenzen auf eine Verfahrensbeschleunigung verzichten können mag, darf der Fortgang einer Haftsache jedenfalls nicht erheblich verzögert werden.

3. Dem zur Entscheidung berufenen Vorsitzenden des zuständigen Spruchkörpers kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu. Die Auswechslung eines Pflichtverteidigers aufgrund terminlicher Verhinderung setzt allerdings stets voraus, dass der Vorsitzende sich mit diesem in Verbindung setzt und ernsthaft versucht, dem Anspruch des jeweiligen Angeklagten, sich von dem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, Rechnung zu tragen. Überdies darf kein gegenüber der Entpflichtung des Verteidigers milderes Mittel zur Verfügung stehen.

4. Keine abweichende Beurteilung gebietet § 144 Abs. 1 StPO, demzufolge zur Verfahrenssicherung bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger bestellt werden können. Denn eine Beiordnung nach § 144 StPO hat eigenständige, in den Umständen des Falles selbst liegende, sachliche Voraussetzungen; sie dient nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal – von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung anwesend zu sein hat.


Entscheidung

894. BGH 3 StR 123/22 - Beschluss vom 28. Juni 2022 (LG Oldenburg)

Zulässigkeit der Revision des Nebenklägers bei Verurteilung wegen Mordes.

§ 400 StPO

Die Revision eines Nebenklägers bedarf eines Antrags oder einer Begründung, die deutlich macht, dass er eine Änderung des Schuldspruchs hinsichtlich eines Nebenklagedelikts und damit ein zulässiges Ziel verfolgt. Bei einer Verurteilung wegen Mordes stellt die erstrebte Feststellung der besonderen Schwere der Schuld nach § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB lediglich eine andere Rechtsfolge für die Tat dar, die kein zulässiges Anfechtungsziel der Revision eines Nebenklägers sein kann. Dies gilt auch, soweit die Nebenkläger einen erweiterten Schuldumfang durch Annahme weiterer Mordmerkmale erstreben.


Entscheidung

954. BGH 6 StR 109/22 (alt: 6 StR 60/21) - Urteil vom 24. August 2022 (LG Saarbrücken)

DNA-Spur, DNA-Mischspur; Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit; Berücksichtigung lediglich abstrakt-theoretischer, für den Angeklagten günstiger Möglichkeiten).

§ 261 StPO

Das Tatgericht darf bei der Überzeugungsbildung Zweifeln keinen Raum geben, die lediglich auf einer abstrakt-theoretischen Möglichkeit gründen. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen bzw. alternativen, für den Angeklagten günstigen Geschehensabläufen auszugehen,

für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten Anhaltspunkte erbracht hat. Dies gilt auch für die Bewertung von DNA-Spuren.


Entscheidung

917. BGH 5 StR 47/22 - Beschluss vom 3. August 2022 (LG Hamburg)

Unterbrechung der Hauptverhandlung (Fortsetzungstermin; Verhandlung zur Sache; Verfahrensfragen; unvorhersehbare Ereignisse; Entscheidung über die Unterbrechung des Verfahrens); Selbstleseverfahren(Bezeichnung von Urkunden; umfangreiche Konvolute; Identifizierbarkeit).

§ 229 StPO; § 249 StPO

1. Eine Hauptverhandlung gilt im Sinne des § 229 Abs. 4 Satz 1 StPO als fortgesetzt und muss demgemäß nicht ausgesetzt werden, wenn in einem Fortsetzungstermin zur Sache verhandelt wird. Das ist der Fall, wenn Prozesshandlungen vorgenommen werden oder Erörterungen zu Sach- oder Verfahrensfragen stattfinden, die geeignet sind, das Verfahren inhaltlich auf den Urteilsspruch hin zu fördern und die Sache ihrem Abschluss substantiell näher zu bringen.

2. Auch in der Befassung lediglich mit Verfahrensfragen kann eine Förderung des Verfahrens in der Sache liegen, wenn deren Ziel die Klärung ist, durch welche Untersuchungshandlungen der Aufklärung des Sachverhalts Fortgang gegeben werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die für den Fortsetzungstermin in Aussicht genommene sonstige Förderung des Verfahrens infolge unvorhersehbarer Ereignisse (hier: Feueralarm) nicht stattfinden kann. Denn es sind regelmäßig Situationen vorstellbar, in denen eine Hauptverhandlung aufgrund solcher Geschehnisse nur in wesentlich geringerem Umfang als geplant, möglicherweise sogar nur durch eine Entscheidung über die Unterbrechung des Verfahrens nach § 228 StPO gefördert werden kann.

3. Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, sind im Hauptverhandlungsprotokoll zu bezeichnen (§ 273 Abs. 1 StPO). Bei umfangreichen Konvoluten müssen die Urkunden in der Anordnung nicht einzeln benannt werden. Es genügt, dass sie identifizierbar sind. Die Urkunden sind so zu bezeichnen, dass sie von den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres individualisiert werden können und keine Missverständnisse auftreten.


Entscheidung

912. BGH 5 StR 12/22 - Beschluss vom 5. Juli 2022 (LG Itzehoe)

Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugen als Aufgabe des Tatgerichts (regelmäßig keine Hinzuziehung von Sachverständigen erforderlich); Erstreckung der Beweisaufnahme auf geladene Personen gemäß dem Inhalt der Ladung (Sachverständiger; Zeuge).

§ 244 StPO; § 245 Abs. 1 StPO

1. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts, wobei regelmäßig davon auszugehen ist, dass Berufsrichter über die erforderliche Sachkunde bei der Anwendung der maßgeblichen aussagepsychologischen Kriterien verfügen. Dies gilt bei Zeugen in kindlichem oder jugendlichem Alter erst recht, wenn die Berufsrichter Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit solcher Zeugen und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen verfügen. Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist lediglich dann geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die eigene Sachkunde des Tatgerichts unter den konkret gegebenen Umständen ausreicht.

2. Die Beweiserhebungspflicht nach § 245 Abs. 1 StPO wird durch den Inhalt der Ladung bestimmt. Die Auskunftsperson (Sachverständiger oder Zeuge) muss nur in der Eigenschaft vernommen werden, in der sie vorgeladen worden ist. Der Senat kann insoweit offenlassen, ob darüber hinaus eine Pflicht des Gerichts zur Vernehmung des (nur als solchen geladenen) Sachverständigen auch als Zeuge im Rahmen des § 245 Abs. 1 StPO anzuerkennen ist soweit es um Angaben geht, die sich auf eigene Wahrnehmungen während einer zur Vorbereitung des Gutachtens durchgeführten Untersuchung beziehen.


Entscheidung

895. BGH 3 StR 126/22 - Beschluss vom 26. Juli 2022 (LG Koblenz)

Aufrechterhaltung der Feststellungen (Strafzumessung; Entscheidung über minder schweren Fall).

§ 353 Abs. 2 StPO

Die Aufrechterhaltung der Feststellungen zur Strafzumessung erstreckt sich nicht auf die Wertungsentscheidung über das Vorliegen eines minder schweren Falles. Diese ist vielmehr im neuen Rechtsgang auf der Basis der Feststellungen des früheren Urteils und der ergänzend hierzu getroffenen weiteren strafzumessungsrelevanten Feststellungen eigenständig neu zu treffen.


Entscheidung

963. BGH 6 StR 228/22 - Beschluss vom 14. Juni 2022 (LG Hannover)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge; Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ (lückenhafte Beweiswürdigung: Darstellung der Nachrichteninhalte, Kommunikation mittels Codewörtern).

§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 249 Abs. 2 StPO; § 261 StPO

Der pauschale Hinweis auf inhaltlich nicht näher beschriebene Chatnachrichten als Gegenstand eines Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 StPO) ersetzt die zumindest in Grundzügen notwendigen Darlegungen hierzu nicht. Zwar ist eine ausführliche Inhaltsangabe oder eine gar wörtliche Wiedergabe sämtlicher Chatprotokolle regelmäßig untunlich und kann die notwendige Darlegung der erforderlichen eigenverantwortlichen tatrichterlichen Beweiswürdigung nicht ersetzen, sondern im Einzelfall sogar den Bestand eines Urteils gefährden. Auch insoweit hat das Tatgericht eine wertende Auswahl zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu treffen.


Entscheidung

1029. BGH 4 StR 96/22 - Beschluss vom 5. Juli 2022 (LG Hagen)

Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage Konstellationen: schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, Darstellung in den Urteilsgründen, Einbeziehung aller Umstände, Konstanzanalyse, wenig vergessensanfälliges Erleben; Aussagezuverlässigkeit: Realkennzeichen, Aussageentstehung, Aussageentwicklung, Glaub-

haftigkeitsbeurteilung, Suggestionshypothese, kindliche Zeugen, Entstehungsgeschichte einer Aussage).

§ 261 StPO

1. Die Konstanzanalyse als wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse bezieht sich insbesondere auf aussageübergreifende Qualitätsmerkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben. Falls ein Zeuge mehrfach vernommen worden ist, ist ein Aussagevergleich in Bezug auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen vorzunehmen. Da auch bei erlebnisbasierten Aussagen eine völlige Aussagekonstanz bei Befragungen zu verschiedenen Zeitpunkten nicht zu erwarten ist, müssen aufgetretene Inkonstanzen auf ihre gedächtnispsychologische Plausibilität hin bewertet werden. Dabei stellt nicht jede Inkonstanz einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar. Vielmehr können vor allem Gedächtnisunsicherheiten eine hinreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen. Die Konstanz einer Aussage ist allerdings dann nicht mehr gegeben, wenn die Angaben der Auskunftsperson zum Kernbereich des Tatgeschehens in verschiedenen Vernehmungen signifikant voneinander abweichen und es sich hierbei um ein wenig vergessensanfälliges Erleben handelt, sodass darauf bezogene Erinnerungs- oder Wahrnehmungsfehler nicht mehr ohne weiteres erklärbar sind.

2. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sind Realkennzeichen ungeeignet, zur Unterscheidung zwischen einer wahren und einer suggerierten Aussage beizutragen; denn es gibt keine empirischen Belege dafür, dass sich erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen in ihrer Qualität unterscheiden. Im Rahmen der Glaubhaftigkeitsbeurteilung muss deshalb die Aussageentstehung und -entwicklung im Vordergrund stehen.

3. Der Entstehungsgeschichte einer Aussage kommt gerade bei der Bewertung kindlicher Zeugen in Missbrauchsfällen besondere Bedeutung zu.


Entscheidung

922. BGH 5 StR 101/22 - Beschluss vom 16. August 2022 (LG Hamburg)

Darlegungspflichten des Revisionsführers bei der Verfahrensrüge (Negativtatsachen).

§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO

Bei einer Verfahrensrüge müssen die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau dargelegt werden, dass das Revisionsgericht allein auf Grund dieser Darlegung das Vorhandensein eines Verfahrensmangels feststellen kann, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen sind oder bewiesen werden; dabei darf der Beschwerdeführer die ihm nachteiligen Tatsachen nicht übergehen und muss auch die Fakten vortragen, die für das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes sprechen können, der seiner Rüge den Boden entzöge. Sog. „Negativtatsachen“ sind dabei indes nur dann mitzuteilen, wenn eine dem geltend gemachten prozessualen Fehler entgegenstehende Verfahrenslage nach der konkreten Fallgestaltung ernsthaft in Frage kommt.


Entscheidung

995. BGH 3 BGs 293/19 2 BJs 967/18-5 Beschluss vom 12. September 2019

Erinnerung gegen Festsetzung nach § 55 RVG (Ersatz von Auslagen für Kopien und Ausdrucke; Darlegungs- und Beweisleist im Auslagenerstattungsverfahren).

§ 2 Abs. 2 Satz 1 RVG; § 56 Abs. 1 RVG; Nr. 7000 Ziffer 1 lit. a) VV-RVG

1. Der Ersatz von Auslagen für Kopien und Ausdrucke aus Gerichtsakten kann verlangt werden, soweit diese zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten oder zur notwendigen Unterrichtung des Auftraggebers zu fertigen sind. Maßgeblich hierfür ist die Sicht eines verständigen und durchschnittlich erfahrenen Rechtsanwalts; hierbei sind auch die konkrete Verfahrensart und das Verfahrensstadium zu berücksichtigen. Die Darlegungs- und Beweisleist im Auslagenerstattungsverfahren obliegt dem Rechtsanwalt als Antragssteller.

2. Wenn der Akteninhalt vollständig und verlässlich in digitalisierter Form zu einem Zeitpunkt vorliegt, zu dem sich der Pflichtverteidiger noch in den Verfahrensstoff einarbeiten kann, kann dieser regelmäßig auf diese Form der Information über den Akteninhalt verwiesen werden; die Fertigung eines Gesamtaktenausdrucks erweist sich in diesen Fällen als grundsätzlich nicht erforderlich. Diese Maßgaben finden grundsätzlich auch Anwendung auf Haftsachen. Allerdings ist die vom Rechtsanwalt zu gewährleistende sachgerechte Verteidigung im Lichte der haftspezifischen Beschränkungen des Verteidigermandats des Einzelfalles zu bewerten.