HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2022
23. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Wie aus Tätern Teilnehmer werden: der "normative" Tatbegriff

Zugleich Anmerkung zu BGH HRRS 2022 Nr. 800

Von Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli, Hagen[*]

"Als Täter wird bestraft, wer die Tat[…]selbst begeht", so formuliert § 25 Abs. 1 StGB eindeutig. Auf der Grundlage des Beschlusses des 6. Strafsenats vom 28.06.2022 muss man die Norm indes so lesen: "Als Täter wird bestraft, wer die Tat – bei normativer Betrachtungsweise – selbst begeht". In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ist dabei unstreitig, dass die zum Tode führende Handlung, die Injektion von Insulinspritzen, allein durch die Angeklagte mit dem Willen ausgeführt wurde, hierdurch den Tod ihres zum Suizid entschlossenen Ehemannes herbei zu führen. Gleichwohl soll sie nicht Täterin einer Tötung auf Verlangen, sondern nur Gehilfin eines – straflosen – Suizids sein und sich damit selbst nicht strafbar gemacht haben. Dass die den Erfolg herbeiführende Person nicht Täterin, sondern Gehilfin sein soll, ergibt sich nach Ansicht des BGH dabei aus einer "normativen Betrachtung", die einer "naturalistischen Unterscheidung" vorzuziehen sei. Seine Annahme rechtfertigt der Senat mit einer über die eigentliche Tathandlung hinausgehende Beherrschung des Gesamtgeschehens durch den Ehemann der Angeklagten, wobei auf die Entscheidung BGH St 19, 135 (Gisela-Fall) Bezug genommen wird, in der allerdings gerade die Annahme der Tatherrschaft zur Verurteilung des in 1. Instanz freigesprochenen Angeklagten wegen Tötung auf Verlangen geführt hatte. Das Tatherrschaftskriterium dient hier also dazu, die objektiv die Tat ausführende Person unter Zugrundelegung einer "normativen Betrachtung" zur Gehilfin zu erklären.

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist diese Umkehrung nicht neu[1]. Im "Badewannenfall" (RGSt 74, 84) hatte das Reichsgericht 1940 die eigene subjektive Theorie zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme dazu verwandt, die den Tötungsakt am neugeborenen Kind ausführende Schwester der Kindesmutter zu deren Gehilfin zu erklären, um auf diese Weise die Todesstrafe für die Schwester zu vermeiden[2]. Diese später sogenannte "extrem subjektive Theorie" war dabei keine Ausnahme, sondern nur eine konsequente Weiterentwicklung bereits in den 20er Jahren bestehender Rechtsprechung[3]. Der Bundesgerichtshof führte die (extrem) subjektive Theorie fort bis hin zum bekannten "Staschynskij-Fall"[4], in welchem der in der Bundesrepublik zwei politisch motivierte Auftragsmorde ausführende Täter zum Gehilfen seiner sowjetischen Auftraggeber gemacht wurde, was ihm die ansonsten zwingend gebotene Höchststrafe ersparte[5]. Dem Reichsgericht wie dem Bundesgerichtshof diente dabei die zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme

verwandte subjektive Theorie zu Herbeiführung von Ergebnissen, die auf der Grundlage einer wertenden Betrachtung des Tatunrechts gewonnen wurden.

Auch im hier zu besprechenden Fall geht es darum, einen Rollentausch zwischen Täter und Teilnehmer vorzunehmen. Die subjektive Theorie kann man hierzu nicht ins Feld führen. Schon seit Langem hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung der im Schrifttum – vor allem auf der Grundlage der der Arbeiten Roxins[6] – herrschenden Tatherrschaftslehre angenähert[7]. Allerdings hatte auch die neuere Rechtsprechung bei der Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme neben der Tatherrschaft Kriterien wie das eigene Interesse am Taterfolg, den Umfang der Tatbeteiligung einer wertenden Betrachtung unterzogen[8].

Die Frage der Tatherrschaft spielt aber nach der Rechtsprechung des BGH insbesondere für die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Beihilfe im Bereich des § 216 StGB eine entscheidende Rolle. Eine allein an subjektiven Kriterien ausgerichtete Abgrenzung der straflosen Suizidteilnahme von der Tötung auf Verlangen ist hier ohnehin untauglich, da derjenige, der dem ausdrücklichen und ernstlichen Verlangen des Suizidwilligen nachkommt, sich dessen Willen notwendig unterordnet, dementsprechend nicht mit Täterwillen handelt, womit die Strafdrohung des § 216 StGB de facto leer laufen würde[9]. So finden sich denn in den einschlägigen Entscheidungen des BGH ausführliche Erörterungen zur Frage der Tatherrschaft, auf welche der Senat in vorliegendem Fall aufbaut[10]. Entscheidend sei, ob der Suizident sich "in die Hand des Anderen (begebe), weil er duldend von ihm den Tod entgegennehmen (wolle)"[11]. Hierin liege die Tatherrschaft zu § 216 StGB. Behalte hingegen der Suizident "bis zuletzt" die freie Entscheidung über sein Schicksal, töte er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe[12]. Zu Recht wird hieran allerdings kritisiert, dass aus der Passivität des Suizidenten keine Tatherrschaft erwachse, da man durch Nichtstun nichts beherrschen könne[13]. Auf diese Weise würden nur noch überraschend durchgeführte Fremdtötungen dem § 216 StGB unterfallen, was der ratio legis zuwiderlaufe[14]. Der erklärte Vorzug der Tatherrschaftslehre, zur Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme objektive Entscheidungskriterien einzuführen, wird hingegen nicht erreicht, wenn man eine Wertung vornimmt, bis zu welchem Zeitpunkt der zum Selbstmord Entschlossene noch eine gegenläufige Kausalkette hätte initiieren können.

Dies wird besonders deutlich an der vorliegenden Fallgestaltung: Der bereits durch die Einnahme einer für sich bereits tödlichen Medikamentendosis Geschwächte ist nach der Injektion des Insulins nicht mehr in der Lage, eine Zigarette sicher in der Hand zu halten und schläft bald darauf ein. Hier von einer Beherrschung des Geschehensablaufs zu sprechen, wirkt befremdlich.

Entscheidend für den vorliegenden Fall ist allerdings etwas anderes. Im Gegensatz zu den bislang entschiedenen Fällen, die zumeist entweder (gescheiterte) Begleitsuizide oder die ärztliche Begleitung von Suiziden betrafen, handelt es sich hier um ein mehraktiges Geschehen. Zunächst nimmt der zum Selbstmord Entschlossene die von der Angeklagten beschafften potentiell tödlich wirkenden Medikamente selbst ein. Sodann aber erfolgt – bevor die volle Wirkung der Medikamente einsetzt – eine aktive Tötungshandlung der Ehefrau durch die verabreichten Insulininjektionen. Mit einem Kunstgriff verschmilzt der Senat diese beiden Handlungen zu einer Tat. Aus einer "normativen Betrachtung" ergebe sich, dass hier nur ein zusammenhängendes Suizidgeschehen vorliege; eine "naturalistische" Einzelbetrachtung werde dem Geschehen nicht gerecht. Mit diesen Formulierungen orientiert sich der Senat an der Entscheidung BGHSt 55, 191 (Fall Putz)[15], in deren Zentrum allerdings die Frage der Zulässigkeit des Behandlungsabbruchs stand, wobei der BGH dessen Einordnung als Tun bzw. Unterlassen als untaugliche, auf "naturalistischer" Betrachtung beruhende Kategorie bezeichnete. Die angeblich gebotene normative Betrachtung wird nunmehr nicht auf die Unterscheidung von Tun oder Unterlassen, sondern auf den Tatbegriff als solchen angewandt und soll unterschiedlich Teilakte zu einer Tat verknüpfen, die insgesamt durch den Suizidenten beherrscht worden sei, weshalb auch eine aktive Tötungshandlung lediglich (straflose) Beihilfe zum Suizid sei.

Den Begriff "normativ" hat Hilgendorf als "Modevokabel" im Strafrecht bezeichnet[16]. Der Begriff lasse sich in allen möglichen Kontexten verwenden und erzeuge "den Eindruck besonderer Dignität und Tiefe, ohne irgendeinen Aufwand treiben zu müssen"[17]. Im Grunde handele es sich um eine noch nicht abgenutzte "Bluff-Vokabel"[18]. Hinter der Berufung des Senats auf die "Normativität", die hier zu einem bestimmten Ergebnis führe, steckt im Grunde eine Gerechtigkeitsbetrachtung: es wird als unbillig empfunden, denjenigen, der dem Suizidenten, der zu einer aktiven Selbsttötungshandlung nicht in der Lage ist, hilft, in dem er diese aktive Handlung selbst durchführt, als Täter (einer Tötung auf Verlangen) haften zu lassen, wohingegen derjenige, der die Mittel zum Selbstmord anreicht als Gehilfe des Suizids keiner Haftung unterliegt. Diese Motivation zeigt sich deutlich in dem obiter dictum hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der Anwendung von § 216 StGB auf Fälle wie den Vorliegenden, in denen der frei verantwortliche Suizident zu einer aktiven Tötungshandlung nicht in der Lage ist[19]. Unter Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere das Urteil vom 26.02.2020 zum geschäftsmäßigen Verbot der

Sterbehilfe[20], neigt der Senat zu einer verfassungskonformen Einschränkung des § 216 bei Fällen, in denen die aufgrund freien Willensentschlusses sterbewillige Person zur aktiven Tötungshandlung physisch nicht in der Lage ist und sich daher der Hilfe Dritter bedienen muss[21].

Für diese Fallkonstellation werden seit Längerem Lösungsansätze diskutiert, etwa eine Rechtfertigung aus § 34 StGB oder ein übergesetzlicher Notstand[22]. Eine verfassungsrechtlich gebotene einschränkende Auslegung wäre eine neue und interessante Variante gewesen. Es bleibt das Geheimnis des Senats, weshalb dieser Schritt nicht gegangen wird. Formal kann man sich darauf zurückziehen, dass aufgrund der normativen Interpretation des Tatbegriffs dies im vorliegenden Fall nicht notwendig war. Eine einschränkende Auslegung, die sich ausschließlich auf § 216 StGB bezogen hätte, wäre allerdings allemal vorzugswürdiger gewesen, als den klar umrissenen Tatbegriff, der für das gesamte Strafrecht gilt, in dieser Weise zu kompromittieren.


[*] Der Verfasser Dr. Gerhard Pauli ist Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft Hagen.

[1] Hierzu Pauli, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen zwischen 1933 und 1945 du ihre Fortwirkung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 1992, S. 128 ff.

[2] Vgl. als Zeitzeuge Hartung JZ 1954, 430

[3] Vgl. Pauli, Fn. 1, m.w.N.

[4] BGHSt 18, 87.

[5] Eines der Opfer war der ukrainische Nationalist Stepan Bandera, der in München im Exil lebte.

[6] Grundlegend Täterschaft und Tatherrschaft, 10. Aufl., 2019.

[7] Statt aller: BGHSt 37, 291 = NStZ 1991, 280.

[8] Nachweise bei Fischer, StGB, 69. Aufl., 2022, Vor § 25, Rdn. 4

[9] Vgl. Roxin NStZ 1987, 345, 346.

[10] Seit BGHSt 19, 135 ff. (Gisela-Fall) = NJW 1965, 699.

[11] Ebd., NJW 1965, 701.

[12] Ebd.

[13] Münchner Kommentar/Schneider, 4. Aufl., 2021, § 216, Rn. 47.

[14] Ebd., Rn. 48.

[15] = NJW 2010, 2963 = HRRS 2010 Nr. 704.

[16] Festschrift für Rottleuthner, 2011, S. 45 ff.; so auch schon Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, 2008, S. 21.

[17] Hilgendorf, a.a.O., S. 61.

[18] Ebd.

[19] Rdn. 22 f. der Entscheidungsgründe.

[20] BVerfGE 153, 182 = NStZ 2020, 528 ff. mit Anmerkung Brunhöber = HRRS 2020 Nr. 190.

[21] Rdn. 23 der Entscheidungsgründe

[22] Überblick bei Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl, 2019, § 216, Rdn. 15a