HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2021
22. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Keine schriftliche Urteilsübersetzung für verteidigte Verurteilte?

Anmerkung zu BGH HRRS 2020 Nr. 588

Von Wiss. Mit. Frederike Berghaus, Bucerius Law School, Hamburg[*]

Nach anhaltenden Diskussionen in der Literatur[1] um die Richtlinienkonformität des § 187 Abs. 2 S. 5 GVG hat zwischenzeitlich der BGH Stellung bezogen. Ein Anspruch auf schriftliche Übersetzung eines Urteils setze für den verteidigten, bei der mündlichen Urteilsverkündung anwesenden Verurteilten voraus, dass er ausnahmsweise ein berechtigtes Interesse an einer schriftlichen Übersetzung habe, etwa durch eigene Sachkunde. Fehlender Kontakt im Mandatsinnenverhältnis sei für diese Frage unerheblich.

I. Richtlinienwidrige Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Art. 3 RL 2010/64/EU

Im Zentrum der Kritik an der Umsetzung der Richtlinie 2010/64/EU steht das vom deutschen Gesetzgeber eingeführte Regel-Ausnahme-Verhältnis für Ansprüche auf schriftliche Übersetzungen des verteidigten Angeklagten.[2] Gemäß § 187 Abs. 2 S. 5 GVG hat der verteidigte Angeklagte in der Regel keinen Anspruch auf eine schriftliche Übersetzung und muss sich mit mündlichen Übersetzungen aus der Hauptverhandlung oder aus Treffen mit Verteidiger und Dolmetscher begnügen. Der der Vorschrift zugrundeliegende Art. 3 RL 2010/64/EU statuiert das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt: In der Regel soll der Angeklagte einen Anspruch auf eine schriftliche Übersetzung wichtiger Dokumente haben. Der BGH nimmt diese Kritik der Literatur zur Kenntnis, aber tritt ihr entgegen. Zwar sehe die Richtlinie eine Unterscheidung zwischen verteidigten und unverteidigten Angeklagten nicht vor, aber verbiete sie auch nicht (Rn. 36). Dass die Richtlinie eine Ausnahme statuiere, bedeute nicht, dass nationales Recht der Ausnahme keine Regelwirkung zuschreiben dürfe (Rn. 37). Die Differenzierung bewege sich daher im gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum (Rn. 36).

Das überzeugt nicht. Die Richtlinie stellt mit dem zugunsten des Angeklagten ausgestalteten Regel-Ausnahme-Verhältnis einen Mindeststandard dar. Ausweislich Erwägungsgrund 32 der Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten das Schutzniveau nur zugunsten der Betroffenen verändern. Das geforderte Schutzniveau ergibt sich aus der unionsrechtlichen Auslegung von Art. 3 RL 2010/64/EU. Die Auslegung umfasst das Verhältnis von Regelfall und Ausnahme – nach dem EuGH sind Ausnahmen in Unionsvorschriften eng auszulegen.[3] Eine Ausnahme zum Regelfall zu verändern, ist keine enge Auslegung. Die Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses verschlechtert das Schutzniveau für den Angeklagten daher und unterläuft den Mindeststandard.

Erwägungsgrund 30 der Richtlinie bestätigt die Unvereinbarkeit vorrangig mündlicher Übersetzungen mit der Intention des Richtliniengebers: "Bestimmte Dokumente sollten immer als wesentliche Unterlagen in diesem Sinne gelten und sollten deshalb übersetzt werden, beispielsweise[…]jegliches Urteil." Auf Deutsch ist diese

Passage noch nicht eindeutig, denn es kann sowohl schriftlich als auch mündlich "übersetzt" werden. Ein klares Bild zeichnet der Vergleich mit Erwägungsgrund 20, der sich mit mündlichen Übersetzungen von Vernehmungen und Verhandlungen befasst. Der Richtliniengeber verwendet dort die Verbkonstruktion "Dolmetschleistungen zur Verfügung gestellt". Anderssprachige Fassungen wählen in Erwägungsgrund 20 entweder auch eine Verbkonstruktion, wenn ein selbstständiges Verb für Dolmetschleistungen fehlt, so etwa "ser objeto de interpretación" (span.) und "fair l’objet d’une interpretation" (franz.) oder verwenden ein Verb, das die mündliche Übersetzung beschreibt, so etwa "interpreted" (engl.) und "vertolkt" (niederl.). In Erwägungsgrund 30 wählen alle der genannten Sprachen ein anderes Verb bzw. eine andere Verbkonstruktion: "übersetzt" (deut.), "facilite[...]la traducción" (span.), "traduit" (franz.), "translated" (engl.) und "vertaald" (niederl.). Im Regelfall genügt eine nur mündliche Übersetzung nach Erwägungsgrund 30 folglich gerade nicht dem Willen des Richtliniengebers, sondern in der Regel ist eine schriftliche Übersetzung erforderlich.

Um seinen Standpunkt zu untermauern, verweist der BGH darauf, dass die Europäische Kommission trotz Überprüfung der Richtlinienumsetzung in den Mitgliedstaaten noch kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet habe (Rn. 48). Die Kommission betont im vom BGH zitierten Bericht jedoch explizit den Ausnahmecharakter von mündlichen Übersetzungen: "In Ausnahmefällen sind unter strengen Voraussetzungen mündliche Übersetzungen und ein Verzicht auf das Recht auf Übersetzungen zugelassen."[4] Dass manche Mitgliedstaaten die Ausnahme zur Regel gemacht haben, kritisiert die Kommission ausdrücklich als falsch: "Einige andere Mitgliedstaaten erwähnen nicht, dass mündliche Übersetzungen als Ausnahme von der Regel schriftlicher Übersetzung gelten, und in manchen Fällen ist unklar, ob dies in der Praxis der Fall ist, da der Eindruck entsteht, dass mündliche Übersetzungen die Regel sein könnten."[5] Die Kommission geht im vom BGH zitierten Bericht eindeutig von Unionsrechtswidrigkeit einer solchen Handhabung aus.

II. Verstoß gegen Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV und Entzug des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG

Mit der vielfach geäußerten Kritik an der Richtlinienumsetzung durch den Gesetzgeber setzt der BGH sich auseinander, aber verwirft sie mit unionsrechtlich wenig überzeugenden Argumenten. Gerade mit Blick auf die von der Kommission – im vom BGH sogar zitierten Bericht – klar geäußerte Kritik an der Handhabung der nationalen Gerichte musste der BGH erkennen, dass seine Auslegung unionsrechtlich jedenfalls bedenklich ist. Als er in Betracht gezogen hat, sich über die gewichtige Kritik der Literatur und die Kritik der Kommission hinwegzusetzen, hätte der BGH die Rechtsfrage gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vorlegen müssen. Der BGH bleibt eine Auseinandersetzung mit seiner Vorlagepflicht schuldig. Die von ihm angeführte bislang unterbliebene Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission (Rn. 48) macht eine Vorlage vor den EuGH jedenfalls nicht entbehrlich. Bei einem derart offenkundigen Verstoß gegen Art. 267 AEUV ohne jegliche Auseinandersetzung mit der Vorlagepflicht liegt auch ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nahe.

III. Konventionswidrige Beschneidung der Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten

Laut BGH ist dem fair-trial-Grundsatz Genüge getan, wenn dem Angeklagten bei der Urteilsverkündung ein Dolmetscher zur Seite steht und er über den Verteidiger, ggf. unter Heranziehung eines Dolmetschers, im Anschluss Zugang zum schriftlichen Urteil erhalten kann. Er könne auf diese Weise sein Mitwirkungsrecht bei der Revisionseinlegung ausüben: Entweder könne der Verurteilte mit Beobachtungen aus der Verhandlung auf den Verteidiger zugehen (Rn. 32) oder der Verteidiger könne sich mit Rückfragen an den Verurteilten wenden und bei diesen Konsultationen einen Dolmetscher hinzuziehen (Rn. 30, 33).

Die Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten ist aber nicht sicher gewährleistet. Die mündliche Übersetzung bei der Urteilsverkündung reicht für ein umfassendes Verständnis des Angeklagten nicht aus. Das Überraschungsmoment beeinträchtigt die Aufnahmefähigkeit des Angeklagten.[6] Außerdem geht das schriftliche Urteil regelmäßig deutlich über die mündlichen Urteilsgründe hinaus und ist bei Diskrepanzen allein maßgeblich.[7] Der BGH geht davon aus, dass der Verurteilte im Rahmen von Besprechungen des Urteils mit dem Verteidiger unter Heranziehung eines Dolmetschers eine mündliche Übersetzung der schriftlichen Urteilsgründe erhalten kann. Er könne dann mit Anmerkungen von sich aus auf den Verteidiger zugehen. Diese Prämisse greift zu kurz. Ob solche Konsultationen mit dem Verteidiger nach der Urteilsverkündung stattfinden, entscheidet der Verteidiger. Das ist gerade aus konventionsrechtlicher Perspektive problematisch: Der BGH legt die Verantwortung für das sprachliche Verständnis des Verurteilten vom schriftlichen Urteil in die Hände des Verteidigers. Es ist aber nicht sicher gewährleistet, dass der Verteidiger von sich aus für ein umfassendes Verständnis des Verurteilten sorgen wird – so etwa im vorliegenden Fall. Auch etwa Kostengründe können den Verteidiger veranlassen, von umfangreichen Besprechungen des Urteils unter Zuziehung des Dolmetschers abzusehen. Den Dolmetscher stellt der Staat zwar unentgeltlich, aber seine eigene Zeit muss der Verteidiger dem Verurteilten in Rechnung stellen.[8] Der BGH schließt eine gerichtliche Überprüfung des Mandatsinnenverhältnisses dennoch aus (Rn. 17).

Zwar entzieht auch der EGMR das Innenverhältnis zwischen Verteidiger und Angeklagtem im Grundsatz einer gerichtlichen Kontrolle, um die Verteidigung vor staatlicher Einflussnahme zu schützen.[9] Diese Zurückhaltung in der Überprüfung findet ihre Grenzen aber u.a. in der Gewährleistung grundlegender Verfahrensfairness.[10] Zu den maßgeblichen Anforderungen an die Verfahrensfairness zählt der EGMR in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Gewährleistung von mündlichen und schriftlichen Übersetzungen.[11] Mehrfach betont der EGMR im Hinblick auf sprachliche Verständnisprobleme des Angeklagten, dass das nationale Gericht oberster Wächter, "ultimate guardian", der Verfahrensfairness und damit auch des sprachlichen Verständnisses des Angeklagten ist.[12] Der Angeklagte muss immer und unabhängig von möglichen Versäumnissen seines Verteidigers ein faires Verfahren erhalten und sprachlich folgen können.

Der BGH erkennt, dass bei seiner Handhabung das sprachliche Verständnis des Verurteilten in der Verantwortung des Verteidigers liegt (Rn. 33). Gleichzeitig lehnt er eine Überprüfung von Defiziten im Innenverhältnis von Verteidiger und Verurteiltem ab (Rn. 17). Das Gericht wird seiner Verantwortung als "ultimate guardian"[13] der Verfahrensfairness bei einer solchen Gestaltung nicht gerecht. Der Verweis auf die Möglichkeit einer mündlichen Übersetzung im Rahmen von Treffen mit dem Verteidiger trägt nur, wenn das Gericht das Mandatsinnenverhältnis insofern zumindest in Grundzügen einer Kontrolle unterzieht. Mit seiner Gestaltung beschneidet der BGH den Verurteilten in seinen Mitwirkungsmöglichkeiten und legt die Verantwortung für das sprachliche Verständnis des Verurteilten bedauernswerterweise allein in die Hände des Verteidigers. Er entlässt die Gerichte auf diese Weise konventionswidrig aus ihrer Verantwortung als oberste Wächter der Verfahrensfairness.


[*] Die Verfasserin ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für deutsches, europäisches und internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, einschließlich Medizin-, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht der Bucerius Law School (Prof. Dr. Karsten Gaede).

[1] S. zuletzt etwa Makepeace StV 2020, 570; Schneider StV 2015, 379; Bockemühl StV 2014, 537; Yalçın ZRP 2013, 104; Eisenberg JR 2013, 442.

[2] Makepeace StV 2020, 570, 573 ff.; Schneider StV 2015, 379, 382 f.; Bockemühl StV 2014, 537; Yalçın ZRP 2013, 104, 105; Eisenberg JR 2013, 442, 445.

[3] S. etwa EuGH Fastweb, Urteil vom 11. September 2014, C-19/13, Rn. 40.

[4] Europäische Kommission, KOM(2018) 857 endg., S. 9.

[5] Europäische Kommission, a.a.O. (Fn. 4), S. 11.

[6] Makepeace StV 2020, 570, 574.

[7] BVerfGE 64, 135, 154; Schneider StV 2015, 379, 382; Kotz StV 2012, 626, 629 f.

[8] Vgl. Eisenberg JR 2013, 442, 445; DAV Stellungnahme Nr. 11/2013, S. 10.

[9] EGMR Kamasinski v. Österreich, Urteil vom 19. Dezember 1989, § 65.

[10] Nach dem EGMR muss von staatlicher Seite außerdem etwa interveniert werden, wenn Schlechtverteidigung offenkundig wird oder dem Staat zur Kenntnis gebracht wird, s. Czekalla v. Portugal, Urteil vom 10. Oktober 2002, § 60; s. vertiefend zur Schlechtverteidigung Gaede HRRS 2007, 402, 407 ff.

[11] EGMR Cuscani v. Großbritannien, Urteil vom 24. September 2002, §§ 34, 40; Vizgirda v. Slowenien, Urteil vom 28. August 2018, § 77.

[12] EGMR Cuscani v. Großbritannien, Urteil vom 24. September 2002, § 39; Vizgirda v. Slowenien, Urteil vom 28. August 2018, § 101.

[13] EGMR Cuscani v Großbritannien (Fn. 11), § 39; Vizgirda v. Slowenien (Fn. 11), § 101.