HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2018
19. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1091. BVerfG 2 BvR 745/18 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 18. September 2018 (OLG Oldenburg / LG Oldenburg)

Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft und Anspruch auf rechtliches Gehör (umfassendes Gehör bezüglich Eingriffsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren jedenfalls in der Beschwerdeinstanz; Möglichkeit der Stellungnahme zu Erklärungen der Staatsanwaltschaft; Heranziehung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR bei der Bestimmung des sachlichen Gehalts des Gehörsanspruchs; Grundsatz der Waffengleichheit; Unterrichtung auch über Stellungnahmen, die keine neuen Tatsachen enthalten; Anwendbarkeit des Beruhensgrundsatzes); Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; erhöhtes Gewicht des staatlichen Strafanspruchs nach gerichtlicher Verurteilung; Resozialisierungsgebot; keine Untersuchungshaft bis zur Vollverbüßung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (hinreichende Substantiierung; Erfordernis der Vorlage auch einer in der angegriffenen Entscheidung in Bezug genommenen Entscheidung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 59 Abs. 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 5 Abs. 4 EMRK; Art. 46 EMRK; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 33 StPO; § 33a StPO; § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO

1. Der konventionsrechtliche Grundsatz der Waffengleichheit gebietet es, einen Verfahrensbeteiligten über Stellungnahmen eines anderen Verfahrensbeteiligten

in Kenntnis zu setzen und ihm die realistische Möglichkeit zu gewähren, seinerseits Stellung zu nehmen. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 7. September 2017, Nr. 8844/12, Stollenwerk gegen Deutschland) gilt dies unabhängig davon, ob die Stellungnahme dem Beteiligten bislang unbekannte Tatsachen enthält oder nicht.

2. Soweit Eingriffsmaßnahmen – wie die Untersuchungshaft – ohne vorige Anhörung angeordnet werden können, darf eine Beschwerdeentscheidung zu Lasten des Beschuldigten nicht ergehen, ohne dass dieser zu der erforderlichen Erklärung der Staatsanwaltschaft Stellung nehmen konnte.

3. Hiervon unberührt bleibt die Anwendung des Beruhensgrundsatzes, wonach ein Gehörsverstoß nur dann zur Aufhebung einer Entscheidung führt, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Die praktische Wirksamkeit der konventionsrechtlichen Garantie der Waffengleichheit wird dadurch nicht gemindert.

4. §§ 33, 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse, sondern erfassen über den Gesetzeswortlaut hinaus jeden Aspekt des rechtlichen Gehörs.

5. Namentlich in Haftsachen darf eine gerichtliche Entscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind.

6. Bei der Bestimmung des sachlichen Gehalts des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen. Dies zielt allerdings nicht auf eine schematische Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe, sondern auf eine funktionsanaloge Adaption der Gewährleistungsgehalte der EMRK.

7. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.

8. Mit einer gerichtlichen Verurteilung vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs. Allerdings ist es mit dem Resozialisierungsgebot nicht vereinbar, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu halten, bis die Strafe überwiegend oder vollständig verbüßt ist.

9. Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht hinreichend substantiiert, wenn die angegriffene Entscheidung maßgeblich auf die Gründe einer anderen Entscheidung verweist und der Beschwerdeführer diese weder vorlegt, noch ihrem wesentlichen Inhalt nach mitteilt.


Entscheidung

1092. BVerfG 2 BvR 2172/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. November 2018 (OLG Naumburg)

Rechtswegerschöpfung im Klageerzwingungsverfahren (Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis einer Anhörungsrüge; vom Gericht übersehener Sachvortrag).

§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 33a StPO; § 170 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO

Eine Verfassungsbeschwerde gegen die einen Klageerzwingungsantrag als unzulässig zurückweisende Entscheidung ist mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn der Beschwerdeführer zuvor keine Anhörungsrüge erhoben hat, obwohl das Oberlandesgericht seine Ausführungen zum Gang des Ermittlungsverfahrens offensichtlich übersehen hat.