HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2018
19. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Beweisverwertungsverbot bei Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit im medizinischen Kontext

Anmerkung zu BGH HRRS 2018 Nr. 528

Von Dr. Carina Dorneck, M.mel., Lehrstuhl Prof. Dr. Henning Rosenau, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Selbstbelastungsfreiheit ist von ausschlaggebender Bedeutung für ein rechtsstaatliches Strafverfahren. Sie steht im Mittelpunkt der hier vorliegenden Entscheidung, die deshalb Anlass bietet, die Garantie der Selbstbelastungsfreiheit näher zu beleuchten und Gefährdungslagen zu ermitteln, in denen sie droht, unterlaufen zu werden. Das Augenmerk richtet sich hier auf Gefährdungslagen im medizinischen Kontext; denn im vorliegenden Fall drohte die Angeklagte aufgrund ihrer prekären gesundheitlichen Situation zum Spielball der Ermittler zu werden. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass Gesundheitsdaten besonders sensible und im höchsten Maße persönliche Informationen beinhalten, die es auch im Strafverfahren zu schützen gilt. Die Ermittlungsmaßnahmen müssen diesem Umstand stets Rechnung tragen, um die verfassungsrechtliche Garantie der Persönlichkeitsrechte (und ggf. der Menschenwürde) der betroffenen Personen zu wahren. Dabei kann nicht verkannt werden – und auch dies zeigt der vorliegende Fall eindrücklich – wie schmal der Grat ist, auf dem sich die Ermittler bewegen.

I. Verfahrensgang und Urteil

Die 6. Strafkammer des Landgerichts Traunstein hatte die Angeklagten, Mutter und Tochter, wegen vorsätzlicher Brandstiftung jeweils zu Freiheitsstrafen von vier Jahren bzw. von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Landgericht stützte seine Verurteilung maßgeblich auf die Angaben der angeklagten 75-jährigen Mutter, die diese gegenüber dem sie behandelnden Krankenhausarzt tätigte. Die Verbringung der Angeklagten ins Krankenhaus erfolgte aufgrund ihrer Medikamentenintoxikation, ihres allgemein schlechten gesundheitlichen Zustandes sowie zur Abklärung möglicher gesundheitlicher Schäden durch die Raucheinwirkung. Der behandelnde Arzt, der von der Angeklagten nicht von seiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden wurde, verweigerte vor Gericht die Aussage. Jedoch war während der medizinischen Behandlung der Angeklagten auch stets eine Kriminalbeamtin anwesend gewesen. Diese gab als Zeugin im Prozess an, dass die Angeklagte auf die Frage des Arztes zur Brandentstehung mit folgenden Worten geantwortet hätte: "Da war viel Rauch. Wir haben Benzin ausgeschüttet und das ausgeschüttete Benzin angezündet, überall im Erdgeschoss. Davor haben wir die Tabletten genommen.". Die Kammer ging von einer Verwertbarkeit dieser Äußerungen aus, weil die Angeklagte zum fraglichen Zeitpunkt bereits zweimal ordnungsgemäß belehrt worden war und sie außerdem von der Kriminalbeamtin in Kenntnis gesetzt worden war, dass es sich bei dieser um eine Polizeibeamtin handelte. Ergänzt sieht die Kammer ihre tatrichterliche Überzeugung durch Äußerungen der Angeklagten, die nicht anlässlich sachaufklärender Nachfragen am Krankenbett erfolgten. Die Angeklagte gab an, dass sie "einfach nicht mehr konnte" und teilte zudem mit: "Wir haben einfach alles angezündet!". Das Gericht nahm hinsichtlich dieser Aussagen Spontanäußerungen an und verneinte eine Vernehmungssituation. Nicht verwertet hat das Gericht dagegen die Angaben der mitangeklagten Tochter, weil diese nach der Belehrung über ihr Schweigerecht und der Erklärung, sie wolle keine Angaben zur Sache machen, weiter befragt wurde. Allerdings stützten weitere Beweisanzeichen die Äußerungen der Mutter, wie etwa ein aufgefundener Tankbeleg im Portemonnaie der Tochter über genau die Höhe des zur Brandlegung verwendeten Benzins, der sichergestellte entsprechend große Benzinkanister im Wohnhaus sowie die Tatsache, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben hat, dass weitere Personen in dem Gebäude gewesen wären. Insgesamt lag der Verurteilung eine über 40 Seiten umfassende Beweiswürdigung sowie eine eingehende Auseinandersetzung der Strafkammer mit dem Fall zugrunde.[1]

Dennoch wurde das erstinstanzliche Urteil auf die Revision der beiden Angeklagten hin vom BGH aufgehoben. Der BGH stützte dies auf eine Verletzung der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbelastungsfreiheit der angeklagten Mutter. Sie habe sich nach der ersten Belehrung in ununterbrochenem Gewahrsam befunden, in dem zu keinem Zeitpunkt Rücksicht auf ihr Recht zu Schweigen genommen wurde. Sie sei letztlich einer dauerhaften Befragung ausgesetzt gewesen. Außerdem hätten die Gesamtumstände der ärztlichen Untersuchung die Angeklagte in ihrer Aussagefreiheit beeinträchtigt. Nach einer Gesamtbetrachtung der Vorgänge sei daher

ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen.[2] Der BGH wies zugleich allerdings darauf hin, dass nicht auszuschließen sei, dass die Strafkammer auch ohne die unverwertbaren Erkenntnisse von der Täterschaft der beiden Angeklagten überzeugt gewesen wäre. Zwar haben die Angeklagten den Tathergang zu keinem anderen Zeitpunkt mehr in solch einer Eindeutigkeit beschrieben, wie in der Behandlungssituation der Mutter geschehen; die späteren Aussagen, insbesondere jene verwertbaren Spontanäußerungen am Krankenbett, hätten dann allerdings in eine Gesamtwürdigung aller Indizien eingestellt werden müssen.[3] Insofern wurde die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Mittlerweile hat die 1. Strafkammer des Landgerichts Traunstein den Fall neu verhandelt und entschieden. Das Gericht hielt den Schuldspruch aufrecht; lediglich die Strafen wurden auf vier Jahre und drei Monate bzw. drei Jahre und drei Monate herabgesetzt. Die Verurteilung stützt sich nunmehr maßgeblich auf die Zeugenaussagen des zuständigen Gerichtsvollziehers, der am Tattag die Zwangsräumung vollziehen sollte, auf die Zeugenaussage der betroffenen Nachbarn und der am Brandort tätigen Einsatzkräfte sowie auf die angehörten Sachverständigen. Außerdem wertete die Kammer den im Auto der angeklagten Tochter aufgefundenen Tankbeleg und den sichergestellten Benzinkanister als starke Indizien für die Tatbegehung. Ausdrücklich nicht von der Kammer zur Entscheidung herangezogen wurde die Frage, ob und in welcher Weise sich die beiden Angeklagten nach der Festnahme gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten äußerten. Die Kammer ging vielmehr davon aus, dass sich die beiden Angeklagten nicht mehr gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten zur Tat geäußert hätten.[4] Jahn zweifelt allerdings daran, dass Beweisverwertungsverbote in der Realität Auswirkungen auf die Entscheidung nach der Zurückverweisung haben, weil fraglich ist, ob die unverwertbaren Tatsachen bei der Entscheidungsfindung im zweiten Rechtsgang wirklich – und nicht nur formal – ausgeblendet werden können.[5] Jedenfalls im vorliegenden Fall können diese Bedenken nicht geteilt werden. Die Beweiswürdigung der 1. Strafkammer erscheint nunmehr durchaus nachvollziehbar. Dies findet überdies seine Bestätigung darin, dass bereits aus dem Urteil der 6. Strafkammer hervorging, dass, auch bei Ausblendung der unverwertbaren Teile der Beweiswürdigung, die Feststellungen so hätten getroffen werden können.

II. Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit

Die Kernaussage des BGH ist klar: Eine Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit kann auch außerhalb von Vernehmungen zu einem Beweisverwertungsverbot führen.[6] Die Gesamtbewertung des Senats überzeugt: Die Angeklagte konnte hinsichtlich ihrer Mitwirkung am Strafverfahren keine eigenverantwortliche Entscheidung mehr treffen. Sie befand sich nach ihrer ersten Belehrung in ununterbrochenem polizeilichem Gewahrsam, wo trotz ihrer Erklärung, sie wolle keine Angaben zur Sache machen, keine Rücksicht auf ihr Recht zu Schweigen genommen wurde. Durch die Verwicklung der Angeklagten in Gespräche – auch zur allgemeinen Informationsgewinnung – war sie gleichsam einer dauerhaften Befragung ausgesetzt. Dabei wäre aufgrund der Tatsache, dass die bereits ältere Angeklagte nicht nur unter Schock, sondern zudem unter einer Überdosis Psychopharmaka stand, besondere Rücksicht geboten gewesen. Allein diese Umstände hätten ein Befragungsverbot nahegelegt, wurzelt der nemo-tenetur-Grundsatz doch darin, "dass selbst der Tatverdächtige oder Straffällige der Gesamtheit stets als selbstverantwortliche, sittliche Persönlichkeit gegenübersteht".[7] An der Selbstverantwortlichkeit der Angeklagten bestehen aufgrund der Gesamtumstände erhebliche Zweifel.

Insofern überzeugt auch die Annahme der 6. Strafkammer des Landgerichts nicht, die Aussagen seien wegen der bereits zweimal erfolgten Belehrung der Angeklagten verwertbar. Zu beachten war außerdem, dass sich die Angeklagte während der ärztlichen Behandlung in einer Zwangssituation befand; denn ohne genaue Angaben zum Tathergang und zur Brandentstehung wäre eine ärztliche Diagnose und Behandlung nicht möglich gewesen. Diese Zwangssituation nutzte die Ermittlungsbeamtin durch ihre permanente Anwesenheit aus. Dem steht – entgegen der Ansicht der 6. Strafkammer – nicht entgegen, dass die Kriminalbeamtin der Angeklagten gegenüber offen zugab, sie sei Polizistin, und dass sie während der Behandlung angeboten hat, den Raum zu verlassen. Die dringende Behandlungsbedürftigkeit sowie die offensichtliche Verwirrtheit der Angeklagten hätten die Polizeibeamtin zu einem besonders behutsamen Umgang mit dieser veranlassen müssen. Dies gilt umso mehr, als dass Arzt-Patienten-Gespräche grundsätzlich einem besonderen Schutz unterliegen (dazu sogleich unter III.). Eine dauerhafte Anwesenheit der Ermittlungsbeamtin war schließlich auch nicht erforderlich, bestand aufgrund der gesundheitlichen Verfassung der Angeklagten keinerlei Fluchtgefahr. Zu Recht nahm der BGH daher in der Verwertung der Aussagen der Mutter gegenüber dem sie behandelnden Arzt einen Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit der Angeklagten an.

Nichtsdestotrotz wird der aufmerksame Leser bei der Lektüre des BGH-Urteils auch enttäuscht: Wie Jahn treffend feststellt, ist "der 1. Strafsenat mit größter Intensität bemüht (…), seine Entscheidung nur auf die Besonderheiten des Einzelfalls zu stützen."[8] Das Gericht unterstreicht immer wieder die prekäre gesundheitliche Verf-

assung der bereits älteren Angeklagten, ihre dringende Behandlungsbedürftigkeit sowie die Hartnäckigkeit, mit welcher die Kriminalbeamtin die Angeklagte einer dauerhaften Befragungssituation aussetzt, ohne auf ihr Recht zu Schweigen Rücksicht zu nehmen.[9] Erst die Kumulation dieser Umstände vermochte nach Ansicht des BGH ein Beweisverwertungsverbot zu begründen.[10] Insofern weist Jahn zu Recht darauf hin, dass damit offenbleibt, wo zukünftig für die Tatrichter die Schwelle zur Bejahung eines Beweisverwertungsverbotes bei Verletzung der Selbstbelastungsfreiheit anzusetzen sein wird.[11]

III. Kernbereichsschutz

Diese Schwelle hätte vorliegend durch verfassungsrechtliche Erwägungen begründet werden können. Hinsichtlich der Verwertung von Arzt-Patienten-Gesprächen hätte der BGH im konkreten Fall die Chance gehabt, eine klare Linie vorzugeben. Es hätte nahegelegen, in solchen Konstellationen dieses generell dem Kernbereichsschutz des Persönlichkeitsrechts[12] zu unterstellen und somit ein absolutes Verwertungsverbot anzunehmen.[13] Der erkennende Senat selbst hatte einen solchen Schutz doch bereits für das (Selbst-)Gespräch im Krankenzimmer aufgrund der Besonderheiten der örtlichen Gegebenheiten bejaht.[14] Auch das BVerfG[15] und der Gesetzgeber[16] hielten in anderen Zusammenhängen einen derartigen Kernbereichsschutz für Arzt-Patienten-Gespräche wegen der dort gegebenen besonderen Vertrauenssituation grundsätzlich für möglich. Das überzeugt,[17] insbesondere wenn man bedenkt, dass die Kommunikation zwischen Arzt und Patient meist besonders intime private und persönliche Aspekte betrifft. Der Gesetzgeber betonte daher bei Erlass des Patientenrechtegesetzes[18] nicht von ungefähr, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis von einer engen Vertrauensbeziehung geprägt ist, die besonderen Schutz genießt.[19] Zum Kernbereich der Persönlichkeit gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen.[20] Vom Schutz erfasst sind auch nicht-öffentliche Gespräche mit Personen besonderen Vertrauens, die in der berechtigten Erwartung geführt werden, nicht vom Staat überwacht zu sein.[21] Hierzu zählen Arzt-Patienten-Gespräche, und zwar auch dann, wenn sie eine Auseinandersetzung mit Straftaten zum Inhalt haben. Sie sind wegen der Besonderheit der Kommunikationsbeziehung zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung zu zählen.[22] Im vorliegenden Fall lässt die Tatsache, dass die Kriminalbeamtin bei der Behandlung zugegen war, selbst unter Beachtung ihres Angebots, den Raum zu verlassen, das Gespräch nicht zu einem öffentlichen werden. Die Angeklagte stand unter erheblichen Medikamenteneinfluss und wirkte erkennbar verwirrt, was insbesondere ihre Nachfrage "Sind Sie Ärztin?" zeigt. Sie durfte daher berechtigterweise davon ausgehen, dass ihre Behandlung keiner staatlichen Überwachung unterlag. Dem Einzelnen darf die Möglichkeit nicht genommen werden, ungestört medizinischen oder therapeutischen Rat in Anspruch zu nehmen.[23] Deshalb hätte hier das Arzt-Patienten-Gespräch von der Ermittlungsbeamtin nicht mitgehört werden dürfen. Der erkennende Senat sprach die Möglichkeit des Kernbereichsschutzes zwar an, ließ deren Beantwortung aufgrund des im konkreten Fall angenommenen Beweisverwertungsverbots allerdings offen.[24] Er hat es damit versäumt oder hatte noch nicht den Mut, das Arzt-Patienten-Gespräch generell dem Kernbereichsschutz zu unterstellen.

IV. Vernehmungsbegriff

Der BGH ist außerdem zu kritisieren, indem er am formellen Vernehmungsbegriff des Großen Senats festhält,[25] wonach eine Vernehmung nur dann vorliegt, wenn der Vernehmende dem Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft Auskunft verlangt.[26] Schon lange wird vom Schrifttum gefordert,[27] den formellen Vernehmungsbegriff aufzugeben und stattdessen einen funktionalen Vernehmungsbegriff zugrunde zu legen. Hierunter fallen alle Äußerungen, die der Beschuldigte auf direkte oder indirekte Veranlassung eines Strafverfolgungsorgans tätigt.[28] Nicht erforderlich ist hingegen, dass sich die Amtsperson als solche nach außen hin zu erkennen gibt.[29] Mithilfe eines solch funktionalen

Vernehmungsbegriffs könnten auch vernehmungsähnliche Lagen als Vernehmungssituation i.S.d. §§ 136, 136a StPO anerkannt werden und müssten nicht von einfach-gesetzlichen Vorschiften losgelöst anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls mit allen damit einhergehenden Problemen gelöst werden.[30] Das Festhalten am formellen Vernehmungsbegriff ist daher höchst unbefriedigend, zumal das Bedürfnis der Anwendbarkeit der §§ 136, 136a StPO nicht davon abhängt, ob der Betroffene die Amtsperson als solche überhaupt wahrnimmt. Entscheidend ist vielmehr, ob der zu Vernehmende tatsächlich einer amtlichen Befragung ausgesetzt ist. In Situationen, in denen der Betroffene die Amtsperson gar nicht erkennt, ist das Schutzbedürfnis sogar noch höher, weil dem Befragten seine missliche Situation gar nicht bewusst ist.[31] Etwas anderes gilt freilich bei Spontanäußerungen, in denen das Strafverfolgungsorgan keine Möglichkeit hatte, den Betroffenen über sein Schweigerecht zu belehren.

Im vorliegenden Fall ist eine vernehmungsähnliche Situation gegeben. Zwar war die Angeklagte bereits mehrfach auf ihr Schweigerecht gemäß §§ 136, 136a StPO hingewiesen worden.[32] Nichtsdestotrotz ist die vernehmende Kriminalbeamtin der Beschuldigten nicht in amtlicher Funktion gegenübergetreten und hat in dieser Eigenschaft von der Angeklagten Auskunft verlangt. Vielmehr wurde die Angeklagte auf polizeiliche Veranlassung der ärztlichen Behandlung zugeführt. Dieses spezifische Kommunikationsverhältnis zwischen Arzt und Patientin nutzte die Kriminalbeamtin zum Mithören aus. Es bestand ein erhöhtes Schutzbedürfnis für die Angeklagte:[33] Ihr war aufgrund der Medikamentenintoxikation sowie ihres allgemein schlechten gesundheitlichen Zustandes nicht bewusst, dass ihr Behandlungsgespräch von einer Kriminalbeamtin mitgehört wird. Anschaulich zeigt dies wiederum die Frage der desorientierten Angeklagten an die – noch dazu zivil gekleidete – Kriminalbeamtin nach ihrer Arzteigenschaft. Überzeugender Ansicht nach hätte daher die weitere Befragung schon an dieser Stelle – im Wege eines Erst-Recht-Schlusses – aufgrund von § 136 Abs. 1 StPO sofort gestoppt werden müssen.[34] Bedauerlicherweise sperrt sich der BGH aber noch immer gegen die Aufgabe des formellen Vernehmungsbegriffs.

V. Fazit

Die besprochene Entscheidung zeigt eindrucksvoll auf, wie die Selbstbelastungsfreiheit bei der medizinischen Behandlung von Beschuldigten besonderen Gefährdungen ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang ist auch an den Fall des Co-Piloten des zum Absturz gebrachten Germanwings-Fluges 4 U 9525 zu erinnern. Hier war der Co-Pilot am Tag des Absturzes arbeitsunfähig krankgeschrieben und war zudem Jahre zuvor in psychiatrischer Behandlung gewesen. Nun wird diskutiert, die ärztliche Schweigepflicht für "sensible" Berufsgruppen zu lockern.[35] Damit ginge aber nicht nur eine erhebliche Relativierung der ärztlichen Schweigepflicht einher – die "Sensibilität" der Berufsgruppe ist ein offener Rechtsbegriff und dieser ließe sich durchaus auch auf Vollzugsbeamte, Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, Pflegepersonal, Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter, etc. ausdehnen –, sondern auch die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, das Persönlichkeitsrecht des Behandelten und damit schließlich auch die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten wäre in nicht hinzunehmendem Maße eingeschränkt. Gerade psychisch kranke Menschen könnten damit von einer Behandlung abgehalten werden, müssten sie doch eventuell den Verlust der Arbeitsstelle oder ein gegen sie geführtes Strafverfahren aufgrund der Selbstbelastung befürchten. Das vorliegende Urteil ist somit zu begrüßen: Es schlägt einen richtigen Weg ein, indem es die Arzt-Patienten-Beziehung – jedenfalls im konkreten Fall – schützt und dem staatlichen Zugriff entzieht. Es bleibt aber – wie dargestellt – hinter den Möglichkeiten zurück. Es wird Zeit, dass der BGH sich zu einem umfassenden Schutz des Arzt-Patienten-Gesprächs durchringt und dieses generell dem Kernbereichsschutz unterstellt. Damit einher geht die Notwendigkeit der Abkehr vom formellen Vernehmungsbegriff hin zu einem funktionalen und damit die Anerkennung der Schutzwürdigkeit von vernehmungsähnlichen Lagen.


[1] LG Traunstein, Urt. v. 3.2.2017 – 6 KLs 402 Js 73330/16 (nicht veröffentlicht).

[2] BGH, Urt. v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17, HRRS 2018, Nr. 528, Rn. 25 ff., zustimmend Soyka, RÜ2, 181 (182).

[3] BGH, Urt. v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17, HRRS 2018, Nr. 528, Rn. 34.

[4] LG Traunstein, Urt. v. 19.7.2018 – 6 KLs 402 Js 73330/16 (2) (nicht veröffentlicht).

[5] Jahn NJW 2018, 1988, 1989.

[6] Eine weitere Anmerkung zu diesem Fall bietet Burhoff StRR 2018, Heft 6, 10.

[7] BGH, Beschl. v. 13.5.1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 152. Grundlegend zum nemo-tenetur-Grundsatz siehe u.a. Roxin NStZ 1995, 465; Verrel NStZ 1997, 361 ff. und 415 ff.; Böse GA 2002, 98 ff.; Ransiek/Winsel GA 2015, 620 ff.

[8] Jahn NJW 2018, 1988.

[9] BGH, Urt. v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17, HRRS 2018, Nr. 528, Rn. 25 ff.

[10] BGH, Urt. v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17, HRRS 2018, Nr. 528, Rn. 24.

[11] Jahn NJW 2018, 1988 f.

[12] Worin dieser genau besteht, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt, vgl. Rottmeier, Kernbereich privater Lebensgestaltung und strafprozessuale Lauschangriffe, 2007, S. 37 ff.

[13] So bereits der Praxishinweis in NJW-Spezial 2018, 409, 410; ebenso Jahn NJW 2018, 1988, 1989.

[14] BGH, Urt. v. 10.8.2005 – 1 StR 140/05, BGHSt 50, 206, 210 = HRRS 2005 Nr. 722.

[15] BVerfG, Beschl. v. 12.10.2011 – 2 BvR 236/08, BVerfGE 129, 208, 265 f. = NJW 2012, 833 = HRRS 2012 Nr. 29 (Entscheidung zur Neuregelung der TKÜ).

[16] BT-Drs. 16/5846, S. 36 f. (Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen).

[17] Ebenso Jahn NJW 2018, 1988, 1989.

[18] Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz) vom 26.2.2013, BGBl. I, S. 277.

[19] BT-Drs. 17/10488, S. 9.

[20] BVerfG, Urt. v. 3.3.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 (313) = HRRS 2004 Nr. 170.

[21] SSW-StPO/Eschelbach, 3. Aufl. 2018, § 100d Rn. 5.

[22] SSW-StPO/Eschelbach (Fn. 21), § 100d Rn. 5, 7.

[23] SSW-StPO/Eschelbach (Fn. 21), § 100d Rn. 7; einschränkend auf selbstreflexive Gespräche Rottmeier (Fn. 12), S. 87 ff.

[24] BGH, Urt. v. 6.3.2018 – 1 StR 277/17, HRRS 2018, Nr. 528, Rn. 29.

[25] So auch Jahn NJW 2018, 1988, 1989.

[26] BGH, Beschl. v. 13.5.1996 – GSSt 1/96, BGHSt 42, 139, 145 f.; StV 2012, 129 mit ablehnender Anmerkung Roxin.

[27] Allen voran Roxin NStZ 1995, 465, 466 und NStZ 1997, 18; zustimmend SSW-StPO/Eschelbach (Fn. 21), § 136 Rn. 23 ff. m.w.N.; a.A. MüKo-StPO/Kölbel, 1. Aufl. 2016, § 163a Rn. 8.

[28] Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 136a Rn. 4.

[29] So schon Fincke ZStW 95 (1983), 918, 949 ff. Instruktiv auch Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998, S. 204 ff. Zum nemo-tenetur-Grundsatz bei heimlichen Ermittlungen siehe außerdem Kölbel, Selbstbelastungsfreiheiten, 2006, S. 50 ff.

[30] So zu Recht Jahn NJW 2018, 1988, 1989.

[31] Roxin NStZ 1995, 465, 467. Insofern sind die §§ 110a ff. StPO als spezielle Eingriffsrechte zu sehen, die unter den dort genannten restriktiven Voraussetzungen verdeckte Ermittlungen zulassen; ebenso SSW-StPO/Eschelbach (Fn. 21), § 136 Rn. 29.

[32] Über eine qualifizierte Belehrung nachdenkend Soyka, RÜ2, 181, 183.

[33] Außerdem ist die Wahrung des Fairness-Prinzips fraglich, vgl. SSW-StPO/Eschelbach (Fn. 21), § 136 Rn. 26.

[34] Ebenso Jahn NJW 2018, 1988, 1989.

[35] Hierzu insbesondere Hirthammer-Schmidt-Bleibtreu/Wiese MedR 2017, 199 ff.