HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2017
18. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Der Vorsitzende Richter und sein "benutzter" Pflichtverteidiger

Von RA und FA für Strafrecht Jochen Thielmann, Wuppertal

In herausragenden Strafverfahren beschäftigen sich die Beteiligten nicht immer nur mit neuartigen und deshalb besonders spannenden Rechtsfragen, sondern müssen sich auch mit alltäglichen Problemen herumschlagen. Das NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München ist hier ein Paradebeispiel: in der öffentlichen Wahrnehmung war zwischenzeitlich der Kampf der Hauptangeklagten gegen ihre ersten drei Pflichtverteidiger fast interessanter als der Kampf des Staatsschutzsenats um Wahrheit und Gerechtigkeit. Ob die Entscheidungen des Vorsitzenden in diesem konfliktträchtigen Bereich, keinen Verteidiger zu entpflichten, aber einen vierten Rechtsanwalt beizuordnen, als fehlerhaft oder korrekt angesehen werden, ist umstritten.[1] Aber nicht nur in diesem außergewöhnlichen Verfahren war die Frage der "Pflichtverteidigung" von besonderer Bedeutung; auch im ersten deutschen Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen das Völkerstrafgesetzbuch vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wurde um die praktische Auslegung dieses Rechtsinstitutes gerungen.

Der Ausgangspunkt der Kontroverse war relativ simpel und könnte sich im Grunde auch in etlichen Umfangsverfahren vor deutschen Landgerichten abspielen: zu einer Zeit, als die Hauptverhandlung bereits weit fortgeschritten[2] und ein Ende noch nicht in Sicht war, erkrankte einer der beiden Pflichtverteidiger eines Angeklagten auf unabsehbare Zeit. Zunächst lief der Prozess mit der ver-

bliebenen Verteidigerin weiter. Nachdem aber knapp zwei Monate vergangen waren, in denen ein Hauptverhandlungstag wegen einer Erkrankung dieser Verteidigerin ausfallen musste, entschied der Vorsitzende Richter, dass die Situation die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers erforderte.[3]

I. Der konkrete Sachverhalt

In einer Verfügung des Vorsitzenden vom 15.07.2014 hieß es sodann wie folgt:

"Dem Angeklagten wird hiermit Gelegenheit gegeben, bis spätestens 25. Juli 2014 einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen. Falls innerhalb dieser Frist keine Benennung erfolgen sollte, ist vorgesehen, dem Angeklagten Rechtsanwalt E aus Stuttgart, der zugesichert hat, künftig jeweils montags und mittwochs an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können und bereit ist, sich während der bevorstehenden Sommerunterbrechung vom 16. August bis 14. September 2014 in das Verfahren einzuarbeiten, als weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen."

Der nun folgende Antrag des Angeklagten, die Frist um einen Monat zu verlängern, um in Ruhe Gespräche mit geeigneten Kandidaten führen zu können, wurde vom Vorsitzenden "angesichts der Dauer des bisherigen Abwesenheit des 2. Pflichtverteidigers in der HV und des Beschleunigungsgebotes nicht gewährt (…), zumal der neue Pflichtverteidiger bzw. die neue Pflichtverteidigerin bei Bewilligung der beantragten Fristverlängerung auch nicht (zumindest) den vollständigen Zeitraum der bevorstehenden Sommerunterbrechung zur Einarbeitung zur Verfügung hätte."

Mit Schreiben vom 25.07.2014 wurde sodann von der Pflichtverteidigerin im Auftrag ihres Mandanten Rechtsanwalt R benannt. Zudem hieß es in dem Fax-Schreiben:

"Des Weiteren wird um Mitteilung gebeten hinsichtlich des Gesprächsinhalts zwischen dem Vorsitzenden und Rechtsanwalt E bezüglich seiner Bestellung als weiterer Pflichtverteidiger."

Am gleichen Tag schrieb der Vorsitzende Rechtsanwalt R an und führte dabei folgendes aus:

"Da dieses Verfahrens bereits lange andauert, ist es für den weiteren, beschleunigten Fortgang des Verfahrens notwendig, dass Sie vor Ihrer Bestellung folgende Zusicherungen abgeben:

Sie können zukünftig und auf nicht absehbare Zeit jeweils montags und mittwochs sowie am Freitag, den 15. August 2014 an der Hauptverhandlung teilnehmen.

Sie sind bereit, sich während der bevorstehenden Sommerunterbrechung vom 16. August bis 14. September 2014 in das Verfahren einzuarbeiten und

Sie werden daher keinen Aussetzungs- oder Unterbrechungsantrag zur Einarbeitung in das Verfahren stellen.

Ich darf Sie daher bitten, bis spätestens 28. Juli 2014 die drei oben genannten Zusicherungen schriftlich hierher abzugeben.

Da ein Stuttgarter Strafverteidiger, der für den Fall, dass der Angeklagte keinen Verteidiger seiner Wahl benennen würde, als weiterer Pflichtverteidiger vorgesehen war, diese Zusicherungen bereits abgegeben hat, müsste ich im Hinblick auf den zügigen Fortgang des Verfahrens, falls sie diese Zusicherungen nicht schriftlich abgeben sollten, diesen Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bestellen."

Während parallel ein rechtliches Problem mit der Beiordnung des Verteidigers R aus dem Weg geräumt wurde,[4] sicherte dieser am 28.07.2014 zu, an den Hauptverhandlungstagen grundsätzlich zur Verfügung zu stehen. Weiter führte er aus:

"Um entscheiden zu können, ob eine Einarbeitung innerhalb eines Zeitraumes von einem Monat möglich ist, bitte ich um Mitteilung des Aktenumfangs, den Umfang der Anlagen zum Sitzungsprotokoll, Anzahl der bereits stattgefundenen Sitzungstage nebst erfolgtem Beweisprogramm und dessen Inhalt. Zu Ihrer Anfrage betreffend des Hauptverhandlungstermins am 15. August 2014, bitte ich um Mitteilung des geplanten Beweisprogramms und um weitergehende Aufklärung, in welchem Zusammenhang das geplante Beweisprogramm zu sehen ist."

Am Tag darauf antwortete der Vorsitzende mit der gewünschten Übersendung des Beweisprogramms und führte zudem aus:

"Der Aktenumfang beträgt momentan 199 Bände, gestern fand der 247. Hauptverhandlungstag statt und es wurden bisher 50 Zeugen und ein Sachverständiger (+ vier Sprachsachverständige) zu der Struktur der Organisation, um die es in diesem Verfahren geht, und der Verantwortlichkeit der beiden Angeklagten zu Ende vernommen. Zu denselben Beweisthemen wurden außerdem 362 Urkunden verlesen und 206 Augenscheinsobjekte in Augenschein genommen. Eine Auszählung sämtlicher Anlagen des natürlich noch nicht fertig gestellten Protokolls ist aus zeitlichen und personellen Gründen derzeit nicht möglich, zumal nicht ersichtlich ist, inwieweit dieser Gesichtspunkt entscheidend für die von Ihnen erbetenen Zusicherungen ist."

Es wurde Rechtsanwalt R. eine erneute Frist bis zum 4. August gesetzt.

Am 28.07.2014 beantragte die übrig gebliebenen Pflichtverteidigerin,

"sämtlichen Schriftverkehr zwischen Rechtsanwalt E und dem Vorsitzenden der Unterzeichnerin auszuhändigen. Des Weiteren

wird erneut um Mitteilung des Gesprächsinhalts zwischen dem Vorsitzenden und Rechtsanwalt E gebeten (vgl. Fax vom 25.7.14), u.a. wann die Kontaktaufnahme erfolgt ist und nach welchen Kriterien Rechtsanwalt E ausgewählt wurde."

Ein diesbezüglicher Vermerk des Vorsitzenden vom 31.07.2014 hatte den folgenden Inhalt:

"Am Ende der Hauptverhandlung vom 28.Juli 2014 wurde vom Vorsitzenden sowohl der erbetene Gesprächsinhalt mitgeteilt, als auch, dass der beantragte Schriftverkehr nicht existiert."

Diese mündliche Mitteilung am Ende der Hauptverhandlung beinhaltete, dass der Vorsitzende Rechtsanwalt E ausgewählt habe, weil dieser ein "kompetenter Strafverteidiger" sei, der ihm seit Jahrzehnten bekannt sei und auch von anderen Kollegen als Pflichtverteidiger "benutzt" würde.[5] Der Vorsitzende habe ihm die Situation am Telefon geschildert und dieser habe sich bereiterklärt, die Verteidigung zu übernehmen. Dabei habe er dem Rechtsanwalt im Vorfeld nur die bisherige Dauer der Hauptverhandlung, aber nicht den Aktenumfang genannt.

Am 4. August meldete sich Rechtsanwalt R erneut bei Gericht und erklärte,

"leider wurden meine Nachfragen in Ihrem Schreiben vom 29. Juli 2014 nicht vollständig beantwortet. Um entscheiden zu können, ob eine Einarbeitung möglich ist, bitte ich erneut um Mitteilung des erfolgten Beweisprogramms nebst Inhalt. Des Weiteren bitte ich um Mitteilung der Anzahl der Anlagen zum Sitzungsprotokoll nebst deren Umfang. Als Verteidiger bin ich verpflichtet, mich in das bereits erfolgte Beweisprogramm einzuarbeiten, dazu gehören auch die gestellten Anträge und Erklärungen.

Zu dem von Ihnen mitgeteilten Beweisprogramm, welches am 15. August stattfinden soll, bitte ich um Mitteilung des genauen Beweisthemas, Beweisziels und Zusammenhang mit bereits eingeführten Beweismitteln."

Am folgenden Tag antwortete der Vorsitzende Richter darauf wie folgt:

"Meine mit Telefax vom 29. Juli 2014 im Rahmen des Möglichen und unter Beachtung des Beschleunigungsgrundsatzes erfolgten Auskünfte sind aus meiner Sicht ausreichend und werden daher nicht ergänzt, zumal weiterhin nicht ersichtlich ist, inwiefern die Angaben zu Anzahl und Umfang der Anlagen zum Sitzungsprotokoll eine Einarbeitung in die gestellten Anträge und Erklärungen ermöglichen soll.

Es bleibt Ihnen selbstverständlich weiterhin unbenommen, sich an Ihre Kollegin, Rechtsanwältin L, die den Angeklagten seit Beginn verteidigt und die Sie namens dieses Angeklagten benannt hat, zu wenden."

Am 06. August antwortete Rechtsanwalt R wie folgt:

"Selbstverständlich ist es die Aufgabe des Vorsitzenden, den weiteren sogenannten Pflichtverteidiger umfassend über das erfolgte Beweisprogramm nebst Inhalt in Kenntnis zu setzen. Ihre Fürsorgepflicht gebietet eine umfassende Darstellung und Auskunftserteilung. Es ist nicht die Aufgabe der noch vorhandenen Pflichtverteidigerin, sondern Ihre Ureigenste. Unabhängig von der Aufgabe des Unterzeichners wird hiermit erklärt, dass Bereitschaft besteht, sich in der vierwöchigen Sommerpause in das Verfahren einzuarbeiten, ob diese Zeit ausreichend ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilt werden. Eine Einarbeitung kann beginnen, sobald der Unterzeichner als Pflichtverteidiger bestellt wurde.

Eine Verteidigung am 15. August 2014 ist nicht möglich. Die von Ihnen erfolgte Mitteilung des Beweisprogramms ohne weitere Kenntnis des Unterzeichners bezüglich des Beweiszwecks und deren Zusammenhang in die bereits erfolgte Beweisaufnahme, ohne Aktenkenntnis, reicht nicht aus, um in einem Verfahren verteidigen zu können. Der Verteidiger wäre somit eine leere Hülle, formal anwesend, allerdings ohne eine Tätigkeit entfalten zu können. Die Zusage zu so einer Farce würde einen berufsrechtlichen Verstoß darstellen und wäre gegebenenfalls strafbar."[6]

Schließlich kam es am 07. August zum folgenden Vorsitzendenbeschluss:

"1. Rechtsanwalt E wird dem Angeklagten Dr. M als weiterer Pflichtverteidiger bestellt.

2. Die beantragte Bestellung von Rechtsanwalt R und die hilfsweise beantragte Bestellung von Rechtsanwalt N werden abgelehnt.

Gründe:

Dem Angeklagten wurden bereits zwei Pflichtverteidiger seiner Wahl bestellt. Einer dieser Pflichtverteidiger nimmt bereits seit fast drei Monaten krankheitsbedingt nicht mehr an der Hauptverhandlung teil, was zur Folge hatte, dass bereits ein Verhandlungstag, an dem die zweite Pflichtverteidigerin ebenfalls erkrankt war, ausfallen musste. Daher ist es notwendig, dem Angeklagten nunmehr einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen.

Nach § 142 Abs.1 Satz 2 StPO und dem Grundsatz des fairen Verfahrens ist in der Regel der vom Angeklagten benannte Verteidiger seiner Wahl zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht.

Bei der Abwägung zwischen dem Recht des Angeklagten auf Bestellung eines Verteidigers seiner Wahl und dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen kommt Letzterem bei dem seit über 4 ½ Jahren in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten eine besonders hohe Bedeutung zu, zumal der Angeklagte bereits über zwei Pflichtverteidiger seines Vertrauens verfügt.

Rechtsanwalt E hat als einziger der drei in der Entscheidungsformel genannten Rechtsanwälte zugesichert, nicht nur ab 15. August 2014 an den für die Hauptverhandlung vorgesehenen Sitzungstagen ausnahmslos zur Verfügung zu stehen, sondern sich auch während der bevorstehenden Unterbrechung der Hauptverhandlung vom 16. August bis 14. September 2014 in das Verfahren einzuarbeiten und daher keinen Aussetzungs- bzw. Unterbrechungsantrag zur Einarbeitung zu stellen.

Daher ist Rechtsanwalt E als weiterer Pflichtverteidiger zu bestellen, da aufgrund seiner Zusicherung eine weitere mögliche Verzögerung durch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Einarbeitung eines neuen Verteidigers ausgeschlossen ist. Dies stellt in diesem Verfahrensstadium einen wichtigen Grund dar, um von der Bestellung eines der für den Angeklagten benannten Verteidiger abzusehen, zumal das Vertrauensverhältnis zum Angeklagten von Rechtsanwalt N aktuell nicht näher und von Rechtsanwalt R lediglich mit seinem Titel als Fachanwalt für Strafrecht und seiner mehrfachen Mitwirkung als Verteidiger in erstinstanzlichen Strafverfahren vor verschiedenen Oberlandesgerichten begründet wurde."

Wie nicht anders zu erwarten, fanden sich der Angeklagte und seine Verteidigerin mit der Beiordnung des Rechtsanwalts E nicht ab und arbeiteten in keiner Weise mit ihm zusammen. Im Laufe der nun folgenden Wochen wurden etliche Entpflichtungsanträge[7], Befangenheitsanträge und Stellungnahmen von allen Seiten verfasst, die hier nur insofern von Bedeutung sein sollen, als dort nähere Angaben zu dem Geschehen vor der Beiordnung gemacht wurden.

Rechtsanwalt E machte in einem Schriftsatz am 09. September 2014 zur Frage seiner Entpflichtung Ausführungen dazu, wie es zu seiner Beiordnung kam:

"Herr VRiOLG H. nahm im Monat Juli zu mir telefonisch Kontakt auf und fragte mich, ob ich bereit wäre, in dem Ruanda-Verfahren als weiterer Pflichtverteidiger aufzutreten, da der zweite Pflichtverteidiger, RA S, bereits seit längerer und auf unabsehbare Zeit krank sei. Auch wegen der Krankheit der anderen Pflichtverteidigerin habe schon einmal ein Sitzungstag ausfallen müssen. Er sei jetzt auf der Suche nach einem dritten Pflichtverteidiger und frage an, ob ich bereit wäre, mich in der 30-tägigen Sommerpause, beginnend nach dem 15.08.2014 bis zum 16.09.2014 in das Verfahren einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zu stellen.

Ich sagte zu und Herr VRiOLG H. erklärte noch, dass die Verteidigung auch zwei andere Rechtsanwälte vorgeschlagen habe, die angeschrieben und angefragt werden, ob sie auch bereit seien, in der 30-tägigen Sommerpause sich in den Fall einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zu stellen. Wenn ich nichts mehr vom Senat höre, dann habe sich die Sache erledigt und es sei einer dieser Verteidiger bestellt worden. Für mich war daher dieses Gespräch nur eine unverbindliche Anfrage."[8]

"Dem Unterzeichner gegenüber wurde eine Beiordnung nicht davon abhängig gemacht, dass er die Zusicherung abgibt, keinen Aussetzungsantrag zu stellen. Nur sollte ich am 15.08.2014 an der Hauptverhandlung teilnehmen können, was ich bejahte.

Die mir zugeschriebene Zusicherung, ich könne zukünftig montags und mittwochs sowie am Freitag, den 15.08.2014 an der Hauptverhandlung teilnehmen, ist zutreffend. Diese Termine kann und konnte ich wahrnehmen.

Bei der Erklärung, mich während der bevorstehenden Sommerunterbrechung in das Verfahren einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zur Einarbeitung in das Verfahren zu stellen, ging ich von folgenden Voraussetzungen aus:

Ich nahm an, dass das Verfahren einen Umfang im üblichen Maße von Großverfahren hat, der es ermöglicht, mir innerhalb der Unterbrechung den wesentlichen Inhalt des Verfahrens zu erarbeiten und Schwerpunkte zu setzen.

Der tatsächliche Umfang des Verfahrens – 199 Leitz-Ordner – war mir nicht bekannt.

Mir war nur bekannt, dass das Verfahren schon längere Zeit dauert.

Ferner ging ich davon aus, dass ich von den beiden bislang tätigen Verteidigern und auch vom Mandanten Informationen über den bisherigen Lauf der Hauptverhandlung erhalte, damit eine konstruktive, kollegiale Zusammenarbeit und Verteidigung zum Nutzen des Mandanten zustande kommt."

Rechtsanwalt E gab schließlich an, dass er "in der Kürze der Zeit keine 199 Leitz-Ordner durchlesen" könne und wieder-

holte: "Einarbeiten bedeutet für mich, Schwerpunkte zu setzen und den wesentlichen Inhalt zu erarbeiten."

Der Vorsitzende lehnte am 12.09.2014 den Entpflichtungsantrag von Rechtsanwalt E ab. In seinem Beschluss heißt es u.a.:

"Die von Rechtsanwalt E angekündigte Einarbeitung in das Verfahren, die in seiner Stellungnahme teilweise beschrieben wird, ist nicht (…) unmöglich. Hierbei kommt es nicht darauf an, wie viel Zeit das Durchlesen einer Din A4 Aktenseite in Anspruch nimmt, weshalb der Antrag auf Einholung eines diesbezüglichen Sachverständigengutachtens abgelehnt wird, zumal nach der im Antrag vorgenommenen Berechnungsmethode auch die Einarbeitungszeit von Senat und Verteidigung zu Beginn des Verfahrens nicht ausreichend gewesen wäre. Die Arbeits- und Vorgehensweise bei Bearbeitung eines Strafverfahrens sind individuell sehr verschieden und können beispielsweise in der Phase der Einarbeitung auch zunächst auf wesentliche Punkte beschränkt und im Laufe des weiteren Verfahrens vertieft werden. Daher obliegt dem Verteidiger als Organ der Rechtspflege selbst die Beurteilung und Einschätzung von Verfahrensstand und Vorbereitungszeit. Ebenso obliegt ihm allein auch die Einhaltung berufsrechtlicher Regeln (Hartung, BORA/FAO, 5. Aufl., § 49 BRAO Rn.14)."

Dieser Vorsitzendenbeschluss führte auch noch zu keiner Beruhigung der Situation. In der Folgezeit wurde noch lange zwischen den Verfahrensbeteiligten in der Sache prozessual argumentiert, wie das Vorgehen des Vorsitzenden und des beigeordneten weiteren Pflichtverteidigers rechtlich zu werten war. Dabei wurden auch noch weitere dienstliche Erklärungen des Vorsitzenden Richters abgegeben, wo er u.a. erklärte, er habe "gegenüber Rechtsanwalt E nicht die Erklärung, keinen Aussetzungsantrag zu stellen, "zur Bedingung für eine Beiordnung" gemacht, was dieser in seiner Stellungnahme vom 8. September auch bestätigt."

In einer Stellungnahme des GBA vom 17.09.2014 hieß es, dass "nach der Zusicherung von Rechtsanwalt E, sich über die einmonatige Sommerpause einzuarbeiten und daher keinen Aussetzungsantrag zu stellen, dieser Umstand sodann selbstverständlich den Rechtsanwälten R und N als entscheidungserheblich mitgeteilt werden musste. Im Hinblick auf die Verfahrenssicherung und die gebotene Beschleunigung in Haftsachen war dieser Aspekt evident von erheblicher Bedeutung, zumal der Angeklagte bereits über zwei Verteidiger seines Vertrauens verfügte und noch verfügt." In einem weiteren Schriftsatz vom selben Tag heißt es: "Dass gerade die Erklärung von Rechtsanwalt E, sich einzuarbeiten und daher keinen Aussetzungsantrag zu stellen, nunmehr herangezogen wird, um diesen von Vornherein als nicht vertrauenswürdig einzustufen und dem einarbeitungswilligen Organ der Rechtspflege sogar "Verrat" vorzuwerfen, erschließt sich nicht. Vielmehr dient diese Argumentation erkennbar nur dem Zweck, legitime und notwendige Maßnahmen zur Verfahrensförderung und -sicherung zu torpedieren."

Der drei Mitglieder des Strafsenats, die über einen Ablehnungsantrag gegen den Vorsitzenden zu entscheiden hatten, kamen schließlich zur der folgenden Aussage:

"Dass nach Vorliegen der Zusagen von Rechtsanwalt E die von diesem zugesicherten Punkte gegenüber den Rechtsanwälten R und N im Hinblick auf das bei dem vorliegenden Verfahrensstand besonders zu beachtende Beschleunigungsgebot als entscheidungserheblich mitgeteilt und bei der Interessenabwägung im Rahmen der Beiordnungsentscheidung entsprechend berücksichtigt wurden, lässt einen Schluss dahingehend, dass der Vorsitzende gegenüber Rechtsanwalt E von Anfang an ausdrücklich den Verzicht auf einen Aussetzungsantrag zur Bedingung einer Beiordnung gemacht hätte, nicht zu."

II. Die rechtliche Bewertung

Dieser Sachverhalt beinhaltet große juristische Probleme im Widerstreit zweier aus der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts hergeleiteten Prinzipien, nämlich dem Recht auf effektive Strafverteidigung und ein faires Verfahren auf der einen und dem Beschleunigungsgrundsatz bzw. der Verfahrenssicherung auf der anderen Seite.

1. Das Aufeinandertreffen von strafprozessualen Prinzipien

a) Effektive Strafverteidigung

Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung – einer Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips – sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat.[9] Die Beiordnung von mehreren Verteidigern ist gesetzlich nicht geregelt, aber nach ständiger Rechtsprechung zulässig, zum Bespiel wenn in einem Großverfahren wegen des Umfangs und der Schwierigkeit der Sache sowie der langen Verfahrensdauer ein unabweisbares Bedürfnis für die Mitwirkung mehrerer Verteidiger besteht oder sonstige Gründe der prozessualen Fürsorge sie gebieten.[10] Dabei ist jedoch zu unterscheiden zwischen einem zwar langwierigen, aber nicht allzu schwierigen Verfahren, bei dem die Beiordnung eines zweiten Verteidigers in erster Linie der Sicherung des Verfahrens für den Fall des Ausfalls des ersten Verteidigers geschuldet ist, und einem solchen Verfahren wie dem ersten VStGB-Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, wo der zweite Verteidiger hauptsächlich aufgrund der besonderen Arbeitsbelastung hinzugenommen wird, die ein einziger Verteidiger allein nicht ausreichend tragen könnte. In diesen Fällen wird eine Arbeitsteilung der beiden beigeordneten Rechtsanwälte auch von den Gerichten grundsätzlich vorausgesetzt.[11] Dies bedeutet aber auch, dass zwei voll belastete Vertei-

diger für eine effektive Verteidigung des Angeklagten regelmäßig notwendig sind und hier kein klassischer Fall eines sog. "Sicherungsverteidiger" vorliegt. Jeder Verteidiger muss daher in der Lage sein, die Verteidigung (zumindest vorübergehend) alleine zu führen. Ein längerfristiger Ausfall hat automatisch die Beiordnung eines weiteren Verteidigers zur Folge. Nach Art. 6 Abs. 3 lit c) MRK muss dem Beschuldigten durch das Gericht eine konkrete und wirkliche Verteidigung gewährleistet werden.[12] Es muss auch dann ein anderer Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn die Behörden davon erfahren, dass die Verteidigung nicht ausreichend ist.[13]

b) Beschleunigungsgebot

Das Beschleunigungsgebot ist ein in erster Linie dem Angeklagten, aber auch dem öffentlichen Interesse dienender Verfahrensgrundsatz, wobei der objektiv verstandene Beschleunigungsgrundsatz von vornherein seine Grenzen in den prozessordnungsgemäßen Rechten des Angeklagten und seines Verteidigers finden muss.[14] Es kann dem Wunsch eines Angeklagten entgegenstehen, durch einen bestimmten Rechtsanwalt verteidigt zu werden, z.B. wenn dadurch eine mehrmonatige Verfahrensverzögerung eintreten würde.[15] Das Interesse eines Angeklagten an einem zügigen Fortgang des Verfahrens muss aber nicht unbedingt Hand in Hand gehen mit dem Interesse des Staates an einem die Ressourcen der Justiz schonenden kurzfristigen Abschluss. Während es einem Angeklagten nach dem Ausfall eines seiner Verteidiger um seine zukünftig bestmögliche Verteidigung gehen und er dadurch auch eine Verzögerung des Verfahrens in Kauf nehmen oder ggf. sogar wünschen könnte, wäre das Interesse eines Vorsitzenden Richters möglicherweise in erster Linie darauf gerichtet, Verzögerungen jedweder Art zu verhindern.

c) Der Konflikt

In diesem Zwiespalt war der Vorsitzende Richter nach gut drei Jahren Hauptverhandlungszeit im ersten deutschen VStGB-Verfahren gefangen. Und es war offensichtlich, dass es zur Lösung des Problems keinen Königsweg gab, der allen Interessen gerecht werden würde. Es braucht nicht näher ausgeführt werden, dass das außerplanmäßige Beenden einer Hauptverhandlung nach über drei Jahren Verhandlungszeit fiskalisch gesehen einen Supergau dargestellt hätte, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich um ein Prestigeverfahren der deutschen Justiz mit überbordendem Auslandsbezug handelte. Das Beschleunigungsgebot erforderte eine Fortführung der Hauptverhandlung. Andererseits braucht auch nicht näher ausgeführt zu werden, dass in einem Verfahren, in dem zwei Pflichtverteidiger tatsächlich notwendig sind, beim Ausfall eines Verteidigers die Möglichkeit des Angeklagten auf effektive Strafverteidigung stark beeinträchtigt sind. Dieses Prinzip erforderte daher einen voll einsatzfähigen Ersatz.

Das Warten auf die Rückkehr des erkrankten Rechtsanwalts und bis dahin ein Weiterverhandeln mit der verbliebenen Pflichtverteidigerin war auf Dauer keine Alternative.[16] Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers war grundsätzlich die naheliegende Konsequenz auf die neu eingetretene Situation, unabhängig ob im Austausch mit oder zusätzlich zu dem erkrankten Kollegen.

Im Folgenden ist zu untersuchen, wie der Vorsitzende Richter mit dem Konflikt der strafprozessualen Prinzipien umgegangen ist und wie sich der beigeordnete Rechtsanwalt und der Angeklagte dabei verhalten haben.

2. Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten: der Vorsitzende Richter

Der Weg des Vorsitzenden Richters erwies sich als in mehrfacher Hinsicht problematisch.

a) Die Transparenz

Zunächst einmal soll das Verhalten des Vorsitzenden unter dem Gesichtspunkt der Transparenz beurteilt werden.

Wie oben dargestellt, muss der Vorsitzende als erste Amtshandlung ein Telefonat mit dem ortsansässigen Rechtsanwalt E geführt haben. Über dieses Telefonat gab es indes keinen Vermerk in der Akte; weder das Datum noch der genaue Gesprächsinhalt wurden von ihm niedergelegt. Dass es dieses Telefongespräch gegeben haben muss und partiell auch welchen Inhalt dieses hatte, ergab sich zunächst nur indirekt aus den Anschreiben an den

Angeklagten und die von diesem benannten Strafverteidiger. Hier ist ein Verstoß gegen die Aktenvollständigkeit zu konstatieren, denn über ein solches Gespräch hätte der Vorsitzende einen ausführlichen Vermerk machen und den Verfahrensbeteiligten darüber Kenntnis geben müssen. Schließlich ging es hier um einen Vorgang, der unmittelbaren Einfluss auf die Verteidigung haben konnte (und hatte). Es ist somit nicht ausreichend, dass man indirekt aus anderen Dokumenten auf dieses Gespräch Rückschlüsse ziehen kann.

Angesichts der fehlenden Transparenz war es zwingend, dass die verbliebene Pflichtverteidigerin unverzüglich Aufklärung verlangte. Der Vorsitzende kam dieser Aufforderung dann wiederum nicht schriftlich, sondern nur mündlich in laufender Hauptverhandlung nach.[17] Die dortigen Antworten des Vorsitzenden mussten zwangsläufig den Verdacht begründen, dass es sich bei Rechtsanwalt E um einen Verteidiger handelt, der von den örtlichen Gerichten mit Vorliebe als Pflichtverteidiger auserkoren wird. Die Formulierungen, dass der seit langer Zeit bekannte, "kompetente" Strafverteidiger[18] auch von anderen Richtern regelmäßig als Pflichtverteidiger "benutzt" würde, mögen ungeschickt gewesen sein, weisen jedoch stark in die Richtung einer engen Verbindung zwischen der Justiz und diesem Advokaten. Schließlich fällt auf, dass dem Gericht eine schriftliche Zusicherung, die von den vom Angeklagten vorgeschlagenen Rechtsanwälten gefordert wurde, von Seiten des Rechtsanwalts E zu keinem Zeitpunkt vorlag. Offensichtlich bestand in diesem Fall von Seiten des Vorsitzenden ein großes Vertrauen in die Integrität, oder besser: Verlässlichkeit des im Vorfeld ausgewählten Beistands.

Es bleibt festzuhalten, dass der Weg des Vorsitzenden dem Gebot der Transparenz offenkundig entgegenstand.[19] Es bleibt mehr als nur ein Geschmäckle, dass es bei der Vorgehensweise des Richters nicht darum ging, dem Angeklagten einen möglichst geeigneten oder gar einen Verteidiger seines Vertrauens beizuordnen.[20] Stattdessen war das Vorgehen des Vorsitzenden von Beginn an darauf gerichtet, unter allen Umständen die Verfahrenssicherung in den Vordergrund zu stellen. Dies zeigt sich auch in der inhaltlichen Vorgehensweise.

b) Die Zusicherung des Pflichtverteidigers

Es sollte unbestritten sein, dass die Aufforderung, vor der Entscheidung über eine Beiordnung auf gewisse Rechte zu verzichten, einen äußerst starken Eingriff von Seiten des Gerichts in die Verteidigung eines Angeklagten darstellt. Weil dem so ist, sollte es aufgrund der Fürsorgepflicht des Vorsitzenden erforderlich sein, mit diesem und seinen bisherigen Verteidigern in ein Gespräch zu kommen, wie man diese für das Verfahren prekäre Situation löst. Der Eingriff ohne vorherige Konsultation mittels einer Absprache mit einem potentiellen Kandidaten, der noch niemals zuvor mit diesem Verfahren, geschweige denn mit diesem Angeklagten zu tun hatte, ist dagegen schon für sich ein Verstoß gegen die Fürsorgepflicht und gegen den Grundsatz des fair trial.

Das Verhalten des Vorsitzenden zeigte, dass es sich – wie der GBA in einer späteren Stellungnahme hervorhob – um eine "Beiordnung zur Verfahrenssicherung" handelte, ein "anerkanntes, sowohl der wirkungsvollen Strafrechtspflege als auch der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen dienende Rechtsinstitut". Weil es ihm vor allem darum ging, das Verfahren zu sichern, stellte er den vom Angeklagten benannten Rechtsanwälten ganz konkrete Bedingungen, deren Einhaltung zugesichert werden mussten, wenn sie denn beigeordnet werden wollten. Die ganz entscheidende Zusicherung bestand dabei darin, dass sich die Kandidaten bereit erklären, "sich während der bevorstehenden Sommerunterbrechung vom 16. August bis 14. September 2014 in das Verfahren einzuarbeiten und daher keinen Aussetzungs- oder Unterbrechungsantrag zur Einarbeitung in das Verfahren zu stellen." Wie auch die Vertreter des Generalbundesanwalts später explizit ausführten, war dieser Aspekt "im Hinblick auf die Verfahrenssicherung und die gebotene Beschleunigung in Haftsachen (…) evident von erheblicher Bedeutung."

Gemäß § 145 Abs.3 StPO ist die Verhandlung zu unterbrechen oder auszusetzen, wenn der neu bestellte Verteidiger erklärt, dass ihm die zur Vorbereitung erforderliche Zeit nicht verbleiben würde. Aus Sicht des Vorsitzenden ging es somit darum, diese Regelung insoweit außer Kraft zu setzen, als er vor einer Beiordnung von den Kandidaten die Zusicherung verlangte, gerade keinen Gebrauch von diesem gesetzlichen Recht zu machen. Die Kandidaten wurden daher aufgefordert zu erklären, dass sie sich in knapp vier Wochen in den Verfahrensstoff einarbeiten können, so dass ein Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag ausbleiben kann.[21] In dem Moment, in dem eine solche Zusicherung abgegeben wird, wäre die Gefahr einer Aussetzung der Hauptverhandlung gebannt. Es stellt sich die Frage, ob ein Vorsitzender Richter eine solche Zusicherung überhaupt von potentiellen Pflichtverteidigern verlangen darf.

aa) Rechtmäßigkeit des Verlangens einer Zusicherung

Dass diese Frage nicht problemlos mit einem nüchternen Ja beantwortet werden kann, zeigt bereits der Umstand, dass der Vorsitzende Richter im vorliegenden Fall auf Grundlage eines eigenen Verstoßes gegen die Dokumentationspflicht seiner richterlichen Handlungsweisen ausdrücklich bestritt, dies überhaupt getan zu haben. Auch weder seine Senatskollegen noch die Vertreter des General-

bundesanwalts haben jemals den Standpunkt vertreten, dass ein Vorsitzender in einer solch schwierigen Situation generell eine solche Zusicherung zur Bedingung für eine Beiordnung machen dürfe. Dies sei nur dann unproblematisch, wenn ein Verteidiger (von sich aus!) diese Zusicherung abgebe und daher gegenüber den anderen Kandidaten dasselbe verlangt würde.

Zwar stellt sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit, nicht aber nach der Zweckmäßigkeit dieses Vorgehens des Vorsitzenden, denn sein Verhalten war ohne Frage zweckmäßig.[22] Durch dieses Vorgehen konnte er einen Antrag auf Unterbrechung oder gar Aussetzung des Verfahrens, zu dem der neu bestellte Verteidiger das Recht – bzw. die Pflicht? – gehabt hätte, im Vorfeld der Beiordnung ausschließen und so den ungestörten Fortgang des Verfahrens sichern.

Für die Rechtmäßigkeit dieser Bedingung spricht, dass nur so die Unterbrechung oder gar Aussetzung des Verfahrens sicher abgewendet werden konnte. Die Aussetzung der Hauptverhandlung wäre sowohl für die Strafjustiz (und die Staatskasse) als auch für den Angeklagten ein großes Übel, denn eine Wiederholung einer schon sehr lange währenden Verhandlung würde mit einer Verlängerung des großen psychischen Drucks für alle Beteiligte in Einklang gehen. Der neue Pflichtverteidiger würde auch nicht der alleinige Verteidiger des Angeklagten sein, weil "der Angeklagte bereits über zwei Pflichtverteidiger seines Vertrauens verfügt." Dieser Aspekt blendet zwar bewusst aus, dass einer der beiden Verteidiger seit Monaten nicht mehr am Verfahren teilgenommen hatte und auf unabsehbare Zeit auch nicht mehr zurückkehren sollte.[23] Aber auch so war neben dem neu bestellten Rechtsanwalt immer noch eine Pflichtverteidigerin vorhanden, die seit Beginn des Verfahrens für den Angeklagten tätig gewesen ist. Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass der Angeklagte auch trotz der zugegebenermaßen verminderten Effektivität der Verteidigungsleistung seines neuen Anwalts noch immer effektiv genug verteidigt werden kann. Dieses Argument wirft ein Blick auf die Gesamtverteidigung anstatt auf den einzelnen Verteidiger. Allerdings findet sich für diese Sicht der Dinge kein Anhaltspunkt im Gesetz, das nirgends die Verteidigung als Gesamtheit anspricht, sondern stets den einzelnen Verteidiger und seine Rechte und Pflichten. Schließlich könnte man die Auffassung vertreten, dass ein Vorsitzenden Richter eine solche Bedingung durchaus aufstellen könne, es liege schließlich an den angesprochenen Rechtsanwälten, nach ihrem Berufsethos darüber zu entscheiden, ob sie dieses Angebot annehmen oder eben nicht. Der Ball liege im Spielfeld der angesprochenen Rechtsanwälte.

Gegen die Rechtmäßigkeit spricht bereits der Umstand, dass das Vorgehen des Vorsitzenden explizit darauf ausgerichtet ist, eine gesetzliche Bestimmung, die dem Beschuldigten und seiner effektiven Verteidigung dient, ins Leere laufen zu lassen, denn wenn auch ohne diese Bedingung die Hauptverhandlung problemlos fortgesetzt werden könnte, bräuchte eine Zusicherung erst gar nicht eingefordert werden. Im konkreten Fall war es unter den gegebenen Umständen – 199 Aktenordner Gerichtsakte und 247 vergangene Hauptverhandlungstage – für jeden seriösen Strafverteidiger praktisch unmöglich, in ein Verfahren einzutreten und effektiv zu verteidigen, weil eine vierwöchige Sommerpause nicht ausreicht, um sich in einen solchen Verfahrensstoff einzuarbeiten. Auf jeden Fall kann ein seriöser Verteidiger diese Frage erst dann beantworten, wenn er begonnen hat, sich einzuarbeiten, aber nicht im Vorfeld. Dieser Umstand ist so offensichtlich, dass es keinen Zweifel daran gibt, dass auch der Vorsitzende Richter dies erkannt hat.[24] Eine Zusicherung zu verlangen, die praktisch Unmögliches beinhaltet, nämlich die vorzeitige Beurteilung der Einarbeitungszeit in den Prozessstoff einer laufenden Hauptverhandlung ist daher rechtsstaatlich höchst bedenklich, vor allem wenn hinzukommt, dass über zweihundert Hauptverhandlungstage bereits hinten den Verfahrensbeteiligten lagen.

Es gibt somit Argumente für beide Vorgehensweisen, so dass man zu dem Ergebnis kommen muss, dass das Aufstellen einer solchen Bedingung zwar rechtlich hochproblematisch, aber nicht schlechthin unmöglich ist.

bb) Die Zusicherung im konkreten Fall

Es ist unstreitig, dass der Vorsitzende diese Zusicherung von den beiden vom Angeklagten benannten Verteidigern verlangt hat, denn seine dementsprechenden Schreiben liegen vor. Es war aber umstritten, ob er dies auch von Rechtsanwalt E verlangt hatte. Dieser Punkt konnte nicht restlos aufgeklärt werden, weil keine schriftliche Kontaktaufnahme erfolgt ist, sondern alles informell erörtert wurde.

Es besteht aufgrund der evident erheblichen Bedeutung dieses Punktes zunächst einmal kein Grund für die Annahme, dass der Vorsitzende bei einem der Kandidaten gerade dies nicht verlangt haben könnte. Allerdings wurde gerade dies zunächst vom Rechtsanwalt E in Abrede gestellt: "Dem Unterzeichner gegenüber wurde eine Beiordnung nicht davon abhängig gemacht, dass er die Zusicherung abgibt, keinen Aussetzungsantrag zu stellen." Auf diese Textpassage berief sich auch der Vorsitzende Richter, als er später ausführte, er habe "gegenüber Rechtsanwalt E nicht die Erklärung, keinen Aussetzungsantrag zu stellen, zur Bedingung für eine Beiordnung" gemacht…"

Allerdings behauptete der Vorsitzende in seinen Schreiben an die beiden vom Angeklagten gewünschten Verteidiger, dass in diesem Telefonat eine solche Zusicherung abgegeben worden ist ("Da ein Stuttgarter Strafverteidiger, der für den Fall, dass der Angeklagte keinen Verteidiger seiner Wahl benennen würde, als weiterer Pflichtverteidiger vorgesehen war, diese Zusicherungen bereits abgegeben hat,…"). Es bestehen somit nur die Alternativen, dass entweder der Vor-

sitzende von einer Zusicherung gesprochen hat, die in Wahrheit gar nicht abgegeben worden war, oder Rechtsanwalt E eine verbindliche Zusicherung abgegeben hatte, obwohl dies vom Vorsitzenden nicht als Bedingung für eine mögliche Beiordnung genannt worden ist.

- Dass die erste Alternative einen schweren Verstoß des Vorsitzenden gegen das Prinzip des fair trials darstellen würde, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Er hätte dadurch den Angeklagten und alle Verfahrensbeteiligten bewusst getäuscht. Dafür spricht allerdings die spätere Einschätzung des Rechtsanwalts E, wonach das Telefonat mit dem Vorsitzenden "nur eine unverbindliche Anfrage" von dessen Seite gewesen sei. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass aus einer unverbindlichen Anfrage keine verbindliche Zusicherung folgt.

- Die zweite Alternative liefe allerdings genau darauf hinaus. In seiner Sachverhaltsschilderung hatte Rechtsanwalt E folgendes diktiert: "Er (= Der Vorsitzende) sei jetzt auf der Suche nach einem dritten Pflichtverteidiger und frage an, ob ich bereit wäre, mich in der 30-tägigen Sommerpause, beginnend nach dem 15.08.2014 bis zum 16.09.2014 in das Verfahren einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zu stellen. Ich sagte zu …" Insofern erinnerte sich der Anwalt, dass der Vorsitzende einen dritten Pflichtverteidiger benötigte, der bereit ist, sich innerhalb einer bestimmten Zeitspanne einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zu stellen. Wie man bei einer solchen Zusammenfassung des Gesprächs einerseits von einer unverbindlichen Anfrage und andererseits im selben Schriftsatz davon sprechen kann, dass "dem Unterzeichner gegenüber eine Beiordnung nicht davon abhängig gemacht wurde, dass er die Zusicherung abgibt, keinen Aussetzungsantrag zu stellen", erschließt sich nicht.

Man könnte nun zugrunde legen, dass in dem informellen und nicht in einem Vermerk niedergelegten Gespräch zwischen einem Vorsitzenden Richter und einem kompetenten Rechtsanwalt die beiden Gesprächspartner in diesem evident wichtigen Punkt aneinander vorbei geredet hätten und dass der Vorsitzende von einer verbindlichen Zusage des Anwalts und der Anwalt von einer unverbindlichen Anfrage des Richters ausging. Oder man könnte zugrunde legen, dass das nach dem Telefonat bestehende Vorliegen der Zusage von Rechtsanwalt E nicht den Schluss zulassen könnte, dass der Vorsitzende gegenüber diesem von Anfang an ausdrücklich den Verzicht auf einen Aussetzungsantrag zur Bedingung einer Beiordnung gemacht hätte.[25] Beide Alternativen machen jedoch wenig Sinn, denn es ist selbst nach den Schilderungen des beigeordneten Rechtsanwalts offensichtlich so, dass er nur als Kandidat in Betracht gekommen war, weil er den vom Vorsitzenden gemachten Bedingungen zugestimmt hatte.

Die beiden Gesprächsteilnehmer hatten sich demnach ganz genau verstanden. Jeder wusste, unter welchen Bedingungen bei diesem Sachstand eine Beiordnung nur infrage kommen würde und warum sich der Vorsitzende noch vor dem Anschreiben des Angeklagten an gerade diesen Rechtsanwalt wandte. Aufgrund der langjährigen Erfahrung des Rechtsanwalts, den nach den Worten des Vorsitzenden Richters in einem späteren Schriftsatz "viele Kollegen der Stuttgarter Justiz in ihren Verfahren häufig als Pflichtverteidiger bestellen" – man beachte die Kombination der Worte "viele" und "häufig" im selben Satz – war Rechtsanwalt E die ihm zugedachte Rolle mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sofort bewusst, auch ohne dass der Vorsitzende ausdrücklich diesen Punkt klarstellen musste. Wer etwas anderes behauptet, der hat einen bestimmten Grund für diese Behauptung.

Der Vorsitzende hat also ausdrücklich oder konkludent von allen infrage kommenden Verteidigern die Zusicherung verlangt, im Falle der Beiordnung keinen Aussetzungsantrag zu stellen, obwohl offenkundig war, dass dies offensichtlich unmöglich war und dadurch die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten stark eingeschränkt werden würden.

c) Die Auswahl des Pflichtverteidigers

Der Vorsitzende wählte Rechtsanwalt E als denjenigen geeigneten Kandidaten aus, der zukünftig als weiterer Pflichtverteidiger tätig werden sollte.

(1) Es stellt sich die Frage, ob der Vorsitzende dem Wunsch des Angeklagten, ihm einen bestimmten Verteidiger beizuordnen, nachkommen musste. Gemäß § 142 Abs.1 Satz 2 StPO und dem Grundsatz des fairen Verfahrens ist in der Regel der vom Angeklagten benannte Verteidiger seiner Wahl zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht. Auch das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass auf ein bestehendes oder angestrebtes Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem Verteidiger möglichst Rücksicht zu nehmen ist.[26]

- Es standen insgesamt drei Verteidiger zur Auswahl. Die Rechtsanwälte R und N waren vom Angeklagten benannt, der Rechtsanwalt E vom Vorsitzenden angesprochen worden. Nach der Rechtsprechung waren die beiden benannten Verteidiger insoweit bevorteilt.

- Zum Zeitpunkt der Entscheidung waren alle drei Rechtsanwälte nicht in den Prozessstoff der über 200 Hauptverhandlungstage eingearbeitet. Wegen seiner vorherigen Arbeit als Wahlverteidiger im Ermittlungsverfahren hatte Rechtsanwalt N die größte Nähe zum Angeklagten und dem Verfahrensgegenstand, aber auch Rechtsanwalt R kannte den allgemeinen Verfahrensstoff wegen seiner Vertretung eines früheren Mitangeklagten. Rechtsanwalt E hatte mit dieser Sache bislang keinerlei Berührungspunkte. Konzentriert man sich auf diesen Gesichtspunkt, so ist eine Beiordnung von Rechtsanwalt E am unwahrscheinlichsten, zumal seine Einarbeitung aufgrund der bislang nicht vorhandenen Beschäftigung mit diesem Thema automatisch mehr Zeit in Anspruch nehmen würde.

- Die Rechtsanwälte R und N hatten bereits umfangreiche Erfahrung mit Staatsschutzverfahren und mehrere erstinstanzliche Verfahren vor Oberlandesgerichten als Verteidiger geführt. Rechtsanwalt E konnte diese Erfahrung bislang nicht vorweisen.

Trotz dieser Argumente, die entweder für Rechtsanwalt R oder (hilfsweise) Rechtsanwalt N sprachen, entschied sich der Vorsitzende Richter gegen eine Beiordnung dieser beiden Strafverteidiger. In seinem Beschluss grenzt der Vorsitzende das Recht auf Auswahl durch den Angeklagten und das Beschleunigungsgebot in Haftsachen gegeneinander ab und kommt zu dem Ergebnis, dass "Letzterem bei dem seit über 4 ½ Jahren in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten eine besonders hohe Bedeutung" zukommt. Es stellte aus seiner Sicht daher "in diesem Verfahrensstadium einen wichtigen Grund dar, um von der Bestellung eines der für den Angeklagten benannten Verteidiger abzusehen." Weil Rechtsanwalt E – im Gegensatz zu seinen beiden "Mitkonkurrenten" – als einziger (wenn auch nicht schriftlich) die drei eingeforderten Zusicherungen abgegeben hatte, wurde er beigeordnet, da so eine weitere mögliche Verzögerung durch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung zur Einarbeitung eines neuen Verteidigers ausgeschlossen war.

Diese Begründung belegt, dass der Vorsitzende der Verfahrenssicherung überragende Bedeutung beigemessen hat, infolgedessen die Interessen des Angeklagten zurückstehen mussten.

(2) Der Vorsitzende gibt jedoch ausdrücklich vor, dass das Beschleunigungsgebot "bei dem seit über 4 ½ Jahren in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten eine besonders hohe Bedeutung" zukommt. Er verweist dabei also auf die Fürsorgepflicht, die ihm gegenüber dem Angeklagten zukommt. Hier hätte er aber in Betracht ziehen müssen, dass gerade der Angeklagte eine andere Position eingenommen hat, indem er zwei andere Verteidiger benannt hatte, deren Position eine effektive Verteidigung eher gesichert hätte. Dass er dies nicht getan hat, zeigt sein eigentliches Anliegen der Verfahrenssicherung ohne Rücksicht auf das Interesse des Angeklagten.

(3) Entscheidend ist jedoch, dass ein Vorsitzender Richter, der sich dazu entschieden hat, einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen, dafür Sorge zu tragen hat, dass dieser Rechtsanwalt in der Lage ist, den Angeklagten effektiv zu verteidigen. Jeder Pflichtverteidiger muss in seiner Person die Gewähr genau dafür bieten, unabhängig davon, ob der Angeklagte ihn ausgewählt hat oder nicht. Gerade dies steht hier jedoch infrage. Die beiden gewählten Strafverteidiger setzten sich in Schriftsätzen mit diesem Erfordernis auseinander und kamen zu dem Ergebnis, dass erst am Ende der Frist sicher gesagt werden könne, ob die Zeit ausreiche (Rechtsanwalt R) bzw. dass eine Einarbeitung in dieser Zeit bei diesem Aktenumfang ausgeschlossen sei (Rechtsanwalt N). Von Rechtsanwalt E war hingegen kein Schriftsatz in der Akte. Der Vorsitzende Richter hatte nur in seiner mündlichen dienstlichen Erklärung am 247. Hauptverhandlungstag zumindest einen Teil dessen verkündet, was zwischen ihm und Rechtsanwalt E in dem Telefonat besprochen bzw. nicht besprochen wurde. Dort wurde zumindest mitgeteilt, dass der Anwalt die Dauer der bisherigen Hauptverhandlung gewusst habe, als er sich bereiterklärt hat, die Verteidigung zu übernehmen, aber keine Kenntnis vom Aktenumfang hatte. Dass es außer diesem Gespräch bis zur Beiordnung noch weitere Kontakte zwischen dem Vorsitzenden und dem Rechtsanwalt gegeben hat, ist weder aktenkundig noch mündlich mitgeteilt worden.

Es war Aufgabe des Gerichts, den neuen Pflichtverteidiger über den bisherigen Gang der Hauptverhandlung zu informieren, denn dies kann nach unserer Rechtsordnung nicht die Aufgabe des Angeklagten sein, der sich schließlich überhaupt nicht an dem Geschehen beteiligen braucht. Auch seine Verteidigerin des Vertrauens hat in einem solchen Verfahren andere wichtige Aufgaben, als einen neuen Kollegen auf den Stand zu bringen, in dem ihm die effektive Verteidigung des Mandanten möglich ist. Dies hätte nämlich zur Folge, dass weitere Arbeit zurückgestellt werden müsste. Die Übersendung der Akten sowie des Hauptverhandlungsprotokolls samt Anlagen kann – selbst unter der Prämisse, dass dies vom neuen Verteidiger durchgearbeitet worden ist – für sich genommen nicht ausreichen, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen, da in Deutschland noch immer kein Wortprotokoll geführt wird und deshalb die Aussageinhalte der Zeugen unbekannt bleiben müssen. Allerdings stellte das Oberlandesgericht Stuttgart in einem Beschluss auf einen Ablehnungsantrag überraschenderweise kategorisch fest: "Die von der Verteidigung behauptete Verpflichtung "des Senats, den neuen Pflichtverteidiger in das Verfahren einzuarbeiten", besteht nicht."[27]

(4) Dass aber eine Einarbeitung in eine aus fast 200 Ordnern bestehenden Akte und zugleich 247 Hauptverhandlungstagen in dreißig Tagen schlicht unmöglich ist, ist jedem objektiven Betrachter klar.[28] Dies führte zu dem – aus Sicht des Vorsitzenden absehbaren – Ergebnis, dass die beiden vom Angeklagten gewählten Kandidaten vor den gestellten Bedingungen mit guten Gründen kapitulierten, während der örtliche Rechtsanwalt ohne Wissen vom Umfang des Aktenmaterials dem Wunsch des Vorsitzenden während eines ersten kurzen Telefonats entsprach, ihm in dieser schwierigen Situation beizustehen.

Es kann aufgrund dieser Gesamtsituation keinen wichtigen Grund gegen die vom Angeklagten gewählten potentiellen Pflichtverteidiger darstellen, dass diese – erkennbar im Interesse einer effektiven Verteidigung ihres möglichen Mandanten verhaltend – keine Bedingung zusichern wollten, die sie nicht einhalten konnten.

Im nächsten Schritt war die Beiordnung des Rechtsanwalts E offensichtlich rechtswidrig, weil dieser – erkennbar ohne einen Gedanken an die effektiven Verteidigung ihres möglichen Mandanten verschwendend – etwas zusicherte, ohne im Besitz der nötigen Basisinformationen zu sein, um dies überhaupt bewerten zu können.

3. Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten: der "weitere" Pflichtverteidiger

Der Vorsitzende Richter hatte Rechtsanwalt E angerufen, als es darum ging, einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen. Noch vor dem Angeklagten wusste dieser Rechtsanwalt von dem Vorhaben des Vorsitzenden. Wie bereits oben erwähnt, war Grund hierfür, dass der "sehr erfahrene" E von vielen "Kollegen der Stuttgarter Justiz in ihren Verfahren häufig als Pflichtverteidiger" beigeordnet wird.[29] Es ist daher ein kritischer Blick auf das Verhalten des beigeordneten weiteren Pflichtverteidigers E zu werfen, dem der Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts Stuttgart die Verfahrenssituation erklärte und fragte, "ob ich bereit wäre, mich in der 30-tägigen Sommerpause, beginnend nach dem 15.08.2014 bis zum 16.09.2014 in das Verfahren einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zu stellen." Der nächste Satz in seinem Schriftsatz vom 08.09.2014 beginnt mit den drei Worten "Ich sagte zu …".[30]

a) Unwissenheit als Grundvoraussetzung

Das Verhalten des Rechtsanwalts ist unmöglich separat zu beleuchten, sondern stets im Zusammenhang mit dem Vorgehen des Vorsitzenden.

(1) Rechtsanwalt E hat nach seiner Beiordnung mehrfach schriftlich ausgeführt, wie es zu seiner Beiordnung gekommen ist und unter welchen Voraussetzungen er seine Zusicherungen abgegeben hatte. In seiner Wiedergabe des Gesprächs mit dem Vorsitzenden erwähnte er nicht eine einzige eigene Nachfrage, sondern nur Ausführungen des Herrn Vorsitzenden. Rechtsanwalt E erläuterte, von welchen Voraussetzungen er bei seiner Zusage "ausging", d.h. er formulierte seine damaligen Überlegungen über das ihm gemachte und von ihm unverzüglich angenommene Angebot. Er "nahm an", dass das Verfahren "einen Umfang im üblichen Maße von Großverfahren hat, der es ermöglicht, mir innerhalb der Unterbrechung den wesentlichen Inhalt des Verfahrens zu erarbeiten und Schwerpunkte zu setzen."[31] Die nichtssagende Redewendung – den "wesentlichen Inhalt zu erarbeiten und dabei Schwerpunkte zu setzen" – taucht in seinen Schriftsätzen mehrfach auf. Man erfährt jedoch, was der Rechtsanwalt E aufgrund seiner fehlenden Nachfrage beim Vorsitzenden nach Abschluss des Gesprächs alles nicht wusste: "Der tatsächliche Umfang des Verfahrens – 199 Leitz-Ordner – war mir nicht bekannt" heißt es da und auch die genaue Dauer der Hauptverhandlung war dem Rechtsanwalt E unbekannt: "Mir war nur bekannt, dass das Verfahren schon längere Zeit dauert." Rechtsanwalt E konnte also allenfalls Spekulationen anstellen, wozu er sich gerade verpflichtet hatte, ohne sich aufdrängende Nachfragen zu stellen. Es scheint bei ihm die feste Überzeugung vorhanden gewesen zu sein, dass der Vorsitzende ihm sicher nicht eine Aufgabe zugedacht hätte, die objektiv unmöglich zu erfüllen ist.

Wenn er weiterhin davon ausging, "dass ich von den beiden bislang tätigen Verteidigern und auch vom Mandanten Informationen über den bisherigen Lauf der Hauptverhandlung erhalte, damit eine konstruktive, kollegiale Zusammenarbeit und Verteidigung zum Nutzen des Mandanten zustande kommt", widerspricht dies nicht nur seinen vorherigen Ausführungen, wonach er "davon ausging, dass das Mandat nicht zustande kommt", sondern auch der Einschätzung des Vorsitzenden, einen "erfahrenen Verteidiger" angesprochen zu haben, denn laut dem Vorsitzenden in einem späteren Beschluss muss "ein nicht vom Angeklagten benannter Pflichtverteidiger grundsätzlich mit einer solchen Reaktion rechnen". Und dass Rechtsanwalt E ein erfahrener Pflichtverteidiger ist, macht er selbst in diesem Zusammenhang deutlich: "Ich selbst habe in anderen Großverfahren Kollegen, die als zusätzliche Verteidiger verpflichtet wurden, in den Verfahrensstand und die Hauptverhandlung eingearbeitet, oder ich wurde selbst in anderen Verfahren von Kollegen in den Verfahrensstand eingearbeitet. Solch ein Verhalten ist auch dem kollegialen Umgang unter den Verteidigern geschuldet und bislang in Stuttgart auch so gehandhabt."

(2) Es lässt sich somit zusammenfassen, dass der als weiterer Pflichtverteidiger in Betracht kommende Rechtsanwalt E auf die Anfrage des Vorsitzenden keine Nachfragen bezüglich der Dauer der Hauptverhandlung, des Umfangs des Akteninhalts oder der Person des Angeklagten und seiner Verteidiger stellte. Trotz dieser immensen Wissenslücken erklärte er umgehend, sich während der bevorstehenden Sommerpause in das Verfahren einzuarbeiten und keinen Aussetzungsantrag zur Einarbeitung in das Verfahren zu stellen.

Wenn Rechtsanwalt E genau gewusst hat, dass die Anfrage des Vorsitzenden nicht unverbindlich und seine Antwort daher verbindlich gewesen ist, dann hat er ohne näheres Wissen vom Verfahren absichtlich auf ein Recht verzichtet, das im Gesetz deswegen statuiert ist, um einen Verteidiger in die Lage zu versetzen, effektiv zu verteidigen. Wenn er die Zusammenarbeit mit dem Angeklagten und der Verteidigerin als entscheidend für das Erfüllen seiner Aufgabe angesehen hatte, dann wäre es seine Pflicht gewesen, sich vor einer Zusicherung mit diesen in Verbindung zu setzen, um zu eruieren, was im besten Sinne seines zukünftigen Mandanten gewesen wäre.

b) Interessenkollision

Bei einem solchen Sachverhalt stellt sich die Frage, ob sich der Rechtsanwalt nicht in einem latenten Interessenkonflikt befunden hat, der zwangsläufig mit dem Beiordnungsbeschluss ausbrechen musste. Einerseits hatte er gegenüber dem Vorsitzenden Richter verbindlich

zugesagt, keinen Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag zu stellen und fühlte sich an sein Wort gebunden.[32] Andererseits war es seine Aufgabe als beigeordneter Vertreter des Angeklagten, ihn ordnungsgemäß zu verteidigen, was eine Einarbeitung in den Verfahrensstoff erforderlich gemacht hätte, die ohne Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag nicht möglich war. Es ist ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, dass ein konkret manifestierter Interessenkonflikt ein Grund ist, von der Verteidigerbestellung abzusehen.[33] Ein absehbarer Interessenkonflikt in der Person eines als Verteidiger in Betracht kommenden Rechtsanwalts kann dessen Bestellung im Einzelfall entgegenstehen, wenn deshalb geringe Effektivität seines Einsatzes als Strafverteidiger zu befürchten ist.[34]

So wie dem Vorsitzenden dieser Konflikt bewusst gewesen sein muss – weil er es ja schließlich gerade darauf abzielte –, so muss der Konflikt auch dem Verteidiger klar gewesen sein, so dass er dem Vorsitzenden noch vor der Beiordnungsentscheidung hätte mitteilen müssen, dass er dieses potentielle Pflichtmandat nicht annehmen könne.

c) Fazit

Die Verhaltensweise des Rechtsanwalts war – sehr zurückhaltend formuliert – der Situation alles andere als angemessen.

4. Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten: der Angeklagte

Zum guten Schluss soll der Blick kurz auf diejenige Person gerichtet werden, die bislang kaum vorgekommen ist, aber schlussendlich im Zentrum der Problematik steht – der Angeklagte.

Dieser hatte aufgrund des offensichtlichen Umfangs des Verfahrens vor Beginn der Hauptverhandlung einen Antrag gestellt, ihm noch zwei weitere Pflichtverteidiger beizuordnen, was vom Vorsitzenden abgelehnt wurde. Die Beiordnung eines "Sicherungsverteidigers" hätte die behandelte Problematik aber von vornherein ausgeschlossen.[35]

Zunächst muss für den konkreten Fall festgestellt werden, dass der Angeklagte völlig unschuldig an den Umständen gewesen ist, die zu den rechtlichen Problemen geführt haben. Er hatte nichts mit der Erkrankung seines Pflichtverteidigers zu tun und stand daher über Wochen mit nur einem Verteidiger an seiner Seite vor Gericht. Er hatte nach dem Anschreiben des Vorsitzenden, dass ihm ein weiterer Pflichtverteidiger beigeordnet werden sollte, über seine verbliebene Verteidigerin Kontakt zu zwei Verteidigern knüpfen lassen, die zumindest in der Vergangenheit bereits mit dieser Materie beschäftigt waren und aus diesem Grund grundsätzlich geeignet schienen. Er hatte zuvor die Ablehnung seiner Bitte auf Fristverlängerung, um mit geeigneten Kandidaten Rücksprache zu halten, akzeptiert. Diese beiden Verteidiger hatten die Bedingungen im ersten Schreiben des Vorsitzenden an den Angeklagten erfüllt; erst an der (anfangs nicht erwähnten) Zusicherung, keinen Aussetzungsantrag zu stellen, scheiterte die Beiordnung eines der gewählten Anwälte.

Man mag vielleicht fragen, ob der Angeklagte gegenüber dem Vorsitzenden seine Bereitschaft bzw. die Bereitschaft der Verteidigung hätte signalisieren sollen, bei der Einarbeitung des zukünftig neuen Verteidigers in den Verfahrensstoff mitzuhelfen. Eine solche Hilfe wäre von großem Nutzen gewesen, auch wenn die Entscheidung darüber, ob eine ordnungsgemäße Verteidigung möglich ist, letztlich beim Verteidiger liegt. Aber das Interesse des Angeklagten an dem Fortgang des Verfahrens wird jeder Verteidiger bei seiner Entscheidung sicherlich zu berücksichtigen haben. Es ist jedoch bereits ausgeführt worden, dass dies nicht die Aufgabe eines Angeklagten oder seines einzig verbliebenen gesunden Pflichtverteidigers ist. Wenn ein Angeklagter sich aber an einem gegen ihn laufenden Verfahren überhaupt nicht beteiligen muss, kann man ihm auch nicht vorhalten, es wäre seine Aufgabe gewesen, dem Vorsitzenden im Vorfeld seine Bereitschaft zur Unterstützung seines neuen Verteidigers bei der Einarbeitung in den Prozessstoff anzuzeigen.

Der Angeklagte hatte sich somit bis zur Beiordnung des Rechtsanwalts E korrekt verhalten.[36]

III. Zusammenfassung

Der Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts Stuttgart stand in einer unvorherzusehenden Krisensituation des ersten VstGB-Verfahrens nach Ausfall eines Pflichtverteidigers vor dem Dilemma, zwei widerstreitende Verfahrensprinzipien (Beschleunigungsgebot – Recht auf effektive Strafverteidigung) miteinander in Einklang bringen zu müssen. Dabei hat er sich für die Verfahrenssicherung und gegen die effektive Strafverteidigung entschieden und im Verlauf dessen gegen die Grundsätze von Aktenvollständigkeit und Transparenz gehandelt.

Der Vorsitzende hat die beiden vom Angeklagten genannten Kandidaten für die Beiordnung nicht bestellt, obwohl diese sich im Einklang mit den Gesetzen und der Berufsordnung verhalten haben, und stattdessen einen anderen Rechtsanwalt beigeordnet, und zwar nicht obwohl sich dieser – auch für den Vorsitzenden erkennbar – offensichtlich berufs- und rechtswidrig verhalten hat, sondern gerade weil er so gehandelt hat.

Der Vorsitzende hat im weiteren Verlauf gegenüber den übrigen Verfahrensbeteiligten falsch gespielt, indem er zu Unrecht ausgeführt hat, er habe die Zusicherung, keinen Aussetzungs- oder Unterbrechungsantrag zu stellen, nicht zur Bedingung für eine mögliche Beiordnung dieses Rechtsanwalts gemacht. Der Rechtsanwalt hat daraufhin diese evident wichtige Zusicherung abgegeben, und zwar ohne vorher über den Stand des Verfahrens, über die Dauer der Hauptverhandlungstage oder die Anzahl der Gerichtsakten informiert worden zu sein. Er hat nicht einmal Nachfragen diesbezüglich gestellt.

Schließlich hat der Vorsitzenden mit der Beiordnung eines nicht eingearbeiteten Pflichtverteidigers das Verfahren buchstäblich vor die Wand gefahren. An zwei Hauptverhandlungstagen trat Rechtsanwalt E in der Folge wegen krankheitsbedingter Abwesenheit der ersten Pflichtverteidigerin als alleiniger Verteidiger des Angeklagten auf, obwohl er zuvor in einem Schriftsatz an das Gericht ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass aufgrund der "Nichtkommunikation" mit dem Angeklagten durch ihn "eine Verteidigung nicht sachgerecht geführt werden kann".[37] Dass der Angeklagte an diesen beiden Tagen ordnungsgemäß verteidigt gewesen ist, kann nicht ernsthaft behauptet werden. Der Bundesgerichtshof wird sich in Zukunft sicherlich mit einer Rüge des Verstoßes gegen das faire Verfahren gem. § 337 Abs.1 StPO beschäftigen müssen[38], auch wenn mit überragenden Argumenten – wenn auch nicht nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung – bei einer solchen Konstellation ein Fall des § 338 Nr. 5 StPO vorliegt, da eine ordnungsgemäße Verteidigung des Angeklagten an diesen beiden Tagen offensichtlich nicht vorlag.

IV. Konsequenzen?

Das Szenario aus Stuttgart mag ein Extrembeispiel sein und man sollte sich daher hüten, anhand dessen allgemein gültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Es sollte aber überlegt werden, ob Konsequenzen notwendig sind und wie ein Vorsitzender eine solche Krisensituation in einem Umfangsverfahren rechtlich korrekt lösen könnte.

1. Der Ausfall eines Pflichtverteidigers

Der krankheitsbedingte Ausfall eines (von zwei) Pflichtverteidigern während eines laufenden Umfangsverfahrens kann jederzeit vor Land- oder Oberlandesgerichten Wirklichkeit werden.

a) Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich bei der Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers um eine reine Sicherung des Verfahrens handelt oder ob ein einzelner Verteidiger aufgrund der Fülle des Stoffes nicht in der Lage wäre, das Verfahren alleine zu stemmen. Im ersten Fall ergibt sich durch den Ausfall kein Problem, weil genau deswegen von Beginn an ein zweiter Pflichtverteidiger bestellt worden war. Das Gericht braucht keinen neuen Pflichtverteidiger bestellen, das Verfahren wäre nur gefährdet, wenn auch der verbliebene Verteidiger ausfällt. Diese Gefahr ist ebenso groß wie der Ausfall von einem oder gar zwei Kammer- oder Senatsmitgliedern oder Schöffen.

Im zweiten Fall ist es dagegen komplizierter, weil die Verteidigung nachhaltig geschwächt ist, wenn nicht mehr die Arbeit auf zwei Personen verteilt werden kann. Ist ein solcher Fall absehbar, so wäre es eine Lösung, im Vorfeld einen weiteren Verteidiger als Sicherungsverteidiger beizuordnen, so wie es zum Beispiel im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München geschehen ist.[39] Diese Lösung mag aus fiskalischen Erwägungen nicht gewünscht sein und auch das Gericht und der zuständige Staats- oder Generalbundesanwalt haben sicherlich Vorbehalte dagegen, sich jeweils drei Pflichtverteidigern des Vertrauens des Angeklagten entgegenzusehen. Wenn es sich um mehrere Angeklagte handelt, so würde dies gar zu einer Manpower auf der Verteidigerbank führen, die vermutlich nicht im Sinne der anderen Verfahrensbeteiligten wäre. Aber dies sind keine rechtsstaatlichen, sondern finanzielle und praktische Gründe. Dass auch in der Rechtsprechung dieser Weg durchaus als praktikabel angesehen wird, zeigt ein aktueller Beschluss des Landgerichts Dessau-Roßlau.[40]

b) Wenn im Vorfeld dieser Weg nicht beschritten wurde und dann eine entsprechende Situation auftritt, so ist zwar nachzuvollziehen, dass ein Vorsitzender Richter unter keinen Umständen dazu gezwungen sein möchte,

das Verfahren platzen zu lassen. Dies kostet nicht nur die Staatskasse mit einem Schlag sehr viel Geld, sondern auch persönliches Ansehen. Insofern mag auch verständlich sein, dass ein Vorsitzender bis an die Grenze des Erlaubten gehen würde, um ein Schreckensszenario zu verhindern. Aber gerade dies birgt die konkrete Gefahr, auch darüber hinaus zu gehen und die Grenze in der Hoffnung zu überschreiten, dass es aus Sicht des Revisionsgerichts darauf nicht ankommen werde. Aber ein bewusster Verstoß gegen das geltende Recht muss auch dann als Willkür angesehen werden, wenn dieses Vorgehen aus der Not geboren worden ist.

Eine Lösung kann nur einheitlich mit allen Verfahrensbeteiligten gefunden werden. Dabei ist jedoch ein Problembewusstsein auch auf Seiten der Staatsanwaltschaft – hier: der Vertreter des Generalbundesanwalts – vonnöten. Dass dies nicht in genügendem Maße vorhanden war und ist, zeigt eine Stellungnahme des damaligen Sitzungsvertreters des GBA und jetzigen Bundesanwalts Ritscher im Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz am 25. April 2016, in der es gerade zu dieser Thematik heißt: "Im Verfahren vor dem OLG Stuttgart war es zu einer ähnlichen Situation gekommen, als einer der Verteidiger, ohne sich ernsthaft um eine Nachfolge zu kümmern oder gar einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin einzuarbeiten, prozessbedingte Dienstunfähigkeit geltend gemacht hatte und der Verhandlung von da an dauerhaft fernblieb. Im Ergebnis begegnete das Oberlandesgericht dem durch die Bestellung eines ortsansässigen Pflichtverteidigers, der in der Lage gewesen wäre, die Rechte des Angeklagten wahr zu nehmen, wenn die weitere, von Anbeginn des Verfahrens anwesende Pflichtverteidigerin ausgefallen wäre. Dies erscheint der einzig gangbare Weg, um die Durchführung der Hauptverhandlung sicher zu stellen, wenn der stillschweigende, aber notwendige Minimalkonsens über die Durchführung des Strafverfahrens aufgekündigt wird und Verfahrensbeteiligte, deren Anwesenheit in der Hauptverhandlung notwendig ist, dieser schlicht – entschuldigt oder nicht – fernbleiben."[41] Die Antwort auf die Frage, inwieweit der neue Pflichtverteidiger tatsächlich in der Lage gewesen wäre/ist, den Angeklagten ordnungsgemäß zu verteidigen, hängt davon ab, wie ernst man die Verteidigungsrechte eines Angeklagten nimmt. Ritscher sieht offensichtlich kein Problem darin, dass ein Verteidiger sich innerhalb von vier Wochen in ein höchst komplexes Verfahren einarbeitet, in dem bereits über 200 Hauptverhandlungstage stattgefunden haben. Er konzentriert sich stattdessen lieber auf die Suche nach dem Schuldigen in Reihen der Verteidigung, wonach der erkrankte Verteidiger den "notwendigen Minimalkonsens aufgekündigt" und sich nicht um eine Nachfolge gekümmert habe.

Dabei sollte aber doch erkannt werden, dass auch für einen Angeklagten jede Verzögerung oder gar die Wiederholung der Beweisaufnahme fast immer negative Folgen hat und deshalb nicht gewünscht wird. Ein respektvoller Dialog auf Augenhöhe wird ein Ergebnis zur Folge haben, mit dem alle Beteiligten leben können. Hier könnte zum Beispiel mit einer Gewährung einer längeren Einbearbeitungszeit des gewählten Verteidigers mitsamt einer Verlangsamung der Terminsfrequenz reagiert werden.[42] Nur mithilfe der Mitarbeit des Angeklagten und seiner übrig gebliebenen Verteidigerin bei der Einarbeitung des neuen Verteidigers lässt sich das Problem soweit lösen, dass trotz einer zwangsläufigen Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten alle Seiten zufrieden sein können.[43]

c) Wenn allerdings ein gemeinsamer Weg aus dem Dilemma nicht gefunden werden kann, ist der Weg des Gesetzes die Beiordnung eines seriösen Strafverteidigers, der seine Arbeit ernst nimmt und sich nicht als Erfüllungsgehilfe des Spruchkörpers versteht. Dieser hat dann nach Gesprächen mit dem Mandanten und dem Erstverteidiger die freie Entscheidung, ob er auf die Situation mit einem Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag reagiert. Dies wird bei einer Hauptverhandlung über einhundert Tage fraglos die Regel sein. Das "Platzen" des Verfahrens mag teuer und umständlich und nervig und vielleicht sogar gefährlich sein, aber Rechtsstaat tut (nicht selten) weh.

2. Die Auswahl eines Pflichtverteidigers

Der beschriebene Fall zeigt darüber hinaus exemplarisch das erschütternde Stadium, in dem sich das Beiordnungssystem derzeit befindet. Da es dafür prädestiniert ist, missbraucht zu werden, geschieht dies auch. Wenn sich Richter und Rechtsanwälte zusammentun, um zulasten des Angeklagten den möglichst reibungslosen Ablauf des Strafverfahrens sicherzustellen, so stellt dies den Sinn des Rechtsinstituts der Pflichtverteidigung auf den Kopf. Kein seriöser Strafverteidiger kann eine Zusicherung abgeben, in Zukunft keinen Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag zu stellen, ohne zuvor ausreichend über die Umstände des Falles informiert worden zu sein oder zunächst ein Gespräch mit dem potentiellen Mandanten und dessen Verteidiger zu führen. Und danach hätte jeder seriöse Verteidiger eine Zusicherung verwei-

gert, wenn ihn dies – für alle offensichtlich – in die peinliche Situation gebracht hätte, den Kampf ums Recht seines Mandanten aufgrund der fehlenden hinreichenden Kenntnis vom Verfahrensstoff und dem Inhalt der Hauptverhandlung ohne das nötige Rüstzeug führen zu müssen. Aber es gibt auch noch einen anderen Schlag Rechtsanwälte, die in exakt diesen Situationen für einen Richter ihren Wert beweisen. Man braucht sich nicht zu wundern, dass gerade diese Rechtsanwälte nicht etwa berufliche Außenseiter sind, sondern von vielen Richtern häufig bestellt werden. Ihnen wird von Richtern so sehr vertraut, dass nicht einmal eine schriftliche Zusicherung verlangt, sondern allein auf ihr Wort vertraut wird.

Der Fall zeigt daher die Tiefen, die im Bereich der Pflichtverteidigerbestellung in Deutschland vorkommen, wenn nicht sogar vorherrschen. Wie der Vorsitzende so schön formulierte, werden Anwälte "benutzt", ein Freud`scher Versprecher, der genau den Kern des Problems trifft. Richter benutzen Rechtsanwälte und Rechtsanwälte lassen sich bereitwillig benutzen. Der Angeklagte kommt in dieser Gleichung wenn überhaupt, dann ganz am Rande vor. Gerade dies darf aber nicht sein, denn wenn Verteidigungsrechte schwinden, schwindet die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Dies kann keiner wollen. Der Berliner Kammervorsitzende Föhrig schrieb, ein Vorsitzender solle "aus ethischen Gründen ja-sagende "Gerichtsnutten"" nicht beiordnen.[44] Es geht aber nicht nur um ethische Gründe, sondern das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass eine solche Möglichkeit generell nicht ergriffen wird.

Unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob § 142 StPO sogar verfassungswidrig sein könnte,[45] ist zu konstatieren, dass selbst die beste Regelung in einem Rechtsstaat in dem Moment zu wanken beginnt, wenn sich die Beteiligten nicht mehr an den Sinn des Gesetzes halten, sprich wenn ein Richter aus ermessensfehlerhaften Gründen beiordnet oder ein Verteidiger nicht mit seiner ganzen Kraft verteidigt, vielleicht nur um in Zukunft weiter bestellt zu werden. Jede Regelung muss aber zwangsläufig dann fallen, wenn sich zwei Beteiligte zusammenschließen, um gegen den ursprünglichen Willen des Gesetzgebers aus Motiven zu handeln, die die fiskalischen vor die rechtsstaatlichen Interessen setzen.

Der Weg aus dem Dilemma ist es, den Richtern die Aufgabe der Auswahl von Pflichtverteidigern aus den Händen zu nehmen und einem anderen unabhängigen Gremium bei den Rechtsanwaltskammern anzuvertrauen, die anhand einer Liste mit seriösen Strafverteidigern unabhängig entscheiden. Ob ein solcher Weg im vorliegenden Fall zu einem Platzen des Verfahrens geführt hätte, kann nicht beurteilt werden, zu einer Verzögerung des Procedere aber mit Sicherheit. Aber immerhin würden sich solche Vorgänge wie vor dem Oberlandesgericht Stuttgart nicht mehr wiederholen können.


[1] Vgl. nur Strate, NJW-aktuell 32/2015, S. 14 ("Kardinalfehler") oder Burhoff, http://blog.burhoff.de/2015/07/nsu-verfahren-vierter-pflichtverteidiger-fuer-b-zschaepe-drei-fragen-drei-anworten/ ("nicht ganz ungefährlich").

[2] Vorliegend waren es über 200 Hauptverhandlungstage.

[3] Über die Hintergründe, gerade zu diesem Zeitpunkt tätig zu werden, lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich wollte der Vorsitzende einerseits die Sommerpause für die Einarbeitung des neuen Verteidigers nutzen und gleichzeitig auch der Möglichkeit begegnen, dass die einzige Pflichtverteidigerin am letzten Tag vor bzw. ersten Tag nach der Unterbrechung ausfällt.

[4] Rechtsanwalt R hatte vor Jahren ein anderes führendes Mitglied der Vereinigung verteidigt, bevor dieses Verfahren gem. § 153 f und c StPO eingestellt wurde. Nachdem jedoch der IStGH in Den Haag die Anklage gegen diesen Mann nicht zur Hauptverhandlung zugelassen hatte, stellte sich der GBA auf den Standpunkt, dass in Zukunft noch über die Wiederaufnahme des Verfahrens entschieden werden müsse und ein Fall der Mehrfachverteidigung vorläge. Rechtsanwalt R erklärte vorsorglich am 31.07.2014, dass er dieses Mandat niederlege.

Ebenfalls vorsorglich hatte die Pflichtverteidigerin mit Schreiben vom 30.07.2014 dem Vorsitzenden einen weiteren Strafverteidiger als weiteren Pflichtverteidiger mitgeteilt, der dann ebenfalls ein Schreiben des Vorsitzenden mit der Bitte um Abgabe der gewünschten Versicherungen und den Hinweis auf den Stuttgarter Kollegen enthielt.

[5] In einer späteren dienstlichen Äußerung (vom 15.09.2014) schrieb der Vorsitzende Richter dazu: "Mir ist nicht mehr erinnerlich, ob ich, wie behauptet, in der Hauptverhandlung tatsächlich geäußert habe, dass Rechtsanwalt E "von vielen Kollegen als Pflichtverteidiger benutzt" werde. Falls dies der Fall gewesen sein sollte, habe ich mich versehentlich in der Wortwahl vergriffen, da ich zum Ausdruck bringen wollte, dass nach meiner Kenntnis viele Kollegen der Stuttgarter Justiz in ihren Verfahren Rechtsanwalt E häufig als Pflichtverteidiger bestellen."

[6] Der ebenfalls angeschriebene Rechtsanwalt N hatte dem Vorsitzenden am 6. August 2014 u.a. wie folgt geantwortet: "Ich bin bereit, mich baldmöglichst in das Verfahren einzuarbeiten. Wie Sie wissen, habe ich Herrn Dr.M vor etwa vier Jahren als Wahlverteidiger betreut, so dass ich eine Vorstellung von Gegenstand und Umfang des Verfahrens habe. Ich müsste mich aber völlig neu einarbeiten.

Von Frau Rechtsanwältin L habe ich gehört, dass der Aktenumfang jetzt 199 Leitzordner beträgt. Ich werde zwar in der von Ihnen angesprochenen Zeit nicht im Urlaub sein, halte es aber aufgrund meiner langjährigen Erfahrung als Strafverteidiger für ausgeschlossen, dass man sich in ein derartiges Aktenvolumen innerhalb von vier Wochen so einarbeiten kann, dass man guten Gewissens eine Verteidigung sachgerecht führen kann.

Hinzu kommt allerdings ein weiteres Problem: Die Hauptverhandlung dauert, wie Sie selbst anführen, nun schon seit drei Jahren an; es hat mehr als 247 Hauptverhandlungstage gegeben. Um die Verteidigung sachgerecht führen zu können, muss ich mich in den bisherigen Gang des Verfahrens einarbeiten. Hinzu benötige ich mindestens den Entwurf des Hauptverhandlungsprotokolls mit sämtlichen Anlagen, deren Zusendung ich mir zuzusagen bitte. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass das Gericht aufgrund seiner Fürsorgepflicht und seiner Verpflichtung, ein faires Verfahren zu gewährleisten, mich selbst über den bisherigen Gang des Verfahrens und die Ergebnisse der Beweisnahme informiert; auch insofern bitte ich um Ihre entsprechende Zusage.

Ergänzend werde ich mich selbstverständlich bei Frau Rechtsanwältin L informieren.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ich jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt die von Ihnen erbetene Zusage nicht abgeben kann, weil sie mit meiner strafprozessualen und berufsrechtlichen Pflicht, die Verteidigung sachgerecht und gewissenhaft zu führen, nicht vereinbar wäre. Bei allem oben Gesagten ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass ich zur Vorbereitung der Verteidigung sicher auch längere Besprechungen mit Herrn Dr. M benötigen würde, deren Zeitaufwand ich im Moment nicht überblicken kann."

[7] Der erste Entpflichtungsantrag stammte von Rechtsanwalt E selbst, der zusammenfassend ausführte: "Mithin ist festzustellen, dass der Angeklagte mit dem Unterzeichner nicht spricht und seine beiden Verteidiger nicht von der anwaltlichen Schweigepflicht entbunden hat, sodaß eine Verteidigung nicht sachgerecht geführt werden kann, nachdem der Unterzeichner von sämtlichen Informationen der Verteidigung ausgeschlossen ist. Das Vertrauensverhältnis ist nicht nur endgültig und nachhaltig erschüttert, es konnte überhaupt keines aufgebaut werden, weshalb eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich ist. Schon deshalb bitte ich, mich von der Verteidigung zu entpflichten und die Beiordnung vom 07.08.2014 aufzuheben."

[8] An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass entweder die Erinnerung des Rechtsanwalts E nicht ganz funktionierte oder aber bewusst falsch vorgetragen wurde, da zum Zeitpunkt des ersten Telefonats mit dem Vorsitzenden weder der Angeklagte noch seine Verteidigerin von dem Vorhaben des Vorsitzenden wussten, einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen. Es war daher unmöglich, dass Vorsitzende ihm in diesem Telefonat bereits von zwei anderen Kandidaten berichtet haben konnte.

[9] Meyer-Goßner/Schmitt , StPO, 59. Aufl., § 140 Rn. 1.

[10] Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 10), § 141 Rn. 1a ; dabei ist die Anzahl der Pflichtverteidiger nicht begrenzt, wie das Beispiel der vier gleichzeitig auftretenden Verteidiger der Hauptangeklagten im NSU-Verfahren vor dem OLG München zeigt.

[11] Vgl. OLG Karlsruhe StraFo 2009, 517: "Dabei kommt unter dem Gesichtspunkt des Umfangs und der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Bestellung eines zweiten Verteidigers insbesondere dann in Betracht, wenn der Verfahrensstoff nur durch ein arbeitsteiliges Vorgehen zweier Verteidiger ausreichend beherrscht werden kann (OLG Hamburg NStZ-RR 1997, 203; StraFo 2000, 383; OLG Brandenburg 20.02.2006 bei JURIS)."

[12] EGMR EuGRZ 80, 662; 85, 234.

[13] EGMR 19.12.1989 "Kamasinski", ÖJZ 1990, 412 Nr 65.

[14] Meyer-Goßner/Schmitt (Fn.10), Einl Rn. 160.

[15] BGH StV 2007, 169 = HRRS 2007 Nr. 137.

[16] So hatte es der hiesige Vorsitzende zunächst fast zwei Monate gehalten, bevor er handelte. Zum einen lässt sich aber nicht absehen, wie lange sich der Ausfall hinziehen wird, was allein schon eine missliche Situation darstellt. Das Problem beim Abwarten besteht zudem einerseits darin, dass der möglicherweise irgendwann gesund zurückkehrende Rechtsanwalt zu diesem Zeitpunkt einen längeren Abschnitt der Hauptverhandlung nicht mitbekommen hat und dadurch möglicherweise nicht mehr in der Lage wäre, den Angeklagten angemessen zu verteidigen. Schließlich konnte er während seiner "Auszeit" nicht auf dem Laufenden bleiben und müsste bei der Rückkehr ggf. eine Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragen, um wieder auf der Höhe des Geschehens zu sein.

Andererseits hängt im Falle des Abwartens das Schicksal des Verfahrens (in Bezug auf diesen Angeklagten) von der Gesundheit der übrig gebliebenen Strafverteidigerin ab. Sollte sie auch längerfristig erkranken, müsste das Verfahren ausgesetzt und neu begonnen werden. Angesichts der doppelten Belastung nach dem Ausfall des Kollegen wäre ein solches Szenario auch nicht undenkbar.

Schließlich ist erneut zu unterscheiden zwischen den Verfahren mit einem reinen "Sicherungsverteidiger" und einem Großverfahren, wo die Zusammenarbeit von zwei Verteidigern notwendig ist. Im ersten Fall ist nichts zu unternehmen, da nun gerade der Fall eingetreten ist, für den man einen zweiten Anwalt beigeordnet hat. Im zweiten Fall wirkt sich aber ein Weiterverhandeln mit nur einem Verteidiger zwangsläufig auf die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten aus, so dass diese Möglichkeit ausscheidet.

[17] Es kann nur vermutet werden, dass es niemals zu einer Äußerung des Vorsitzenden zu dieser dienstlichen Tätigkeit gekommen wäre, hätte die Verteidigerin nicht nachgefragt. Es kann auch nur vermutet werden, dass es kein Zufall gewesen ist, dass der Vorsitzende keinen Vermerk über dieses Telefonat angefertigt hatte.

[18] Die Betonung der Kompetenz eines bestellten Rechtsanwalts durch den Richter macht skeptisch, denn die Beiordnung eines inkompetenten Advokaten darf es schließlich gar nicht geben.

[19] Die fehlende Transparenz ist ein Grundübel bei der Pflichtverteidigerauswahl, vgl. Thielmann HRRS 2009, 452 f.

[20] Nicht umsonst betonte der Vorsitzende später in einer Entscheidung, dass der Angeklagte "bereits über zwei Pflichtverteidiger seines Vertrauens" verfüge, was angesichts der Erkrankung eines Verteidigers nur bedingt richtig war.

[21] Die Formulierung lässt sich auch so verstehen, dass die Rechtsanwälte auf einen solchen Antrag verzichten sollen, selbst wenn sie nach den Sommerferien noch nicht genügend in den Verfahrensstoff eingearbeitet sein würden.

[22] Wie schrieb der amerikanische Harvard-Professor Alan Dershowitz in seinem Buch "Letters to a young lawyer" so schön: "Der Satz Der Zweck heiligt die Mittel sollte über jedem Gerichtsgebäude stehen."

[23] Der Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S ist tatsächlich nicht wieder in den Verhandlungssaal zurückgekehrt und wurde schließlich vom Vorsitzenden entpflichtet.

[24] Für ihn geht es somit nicht darum, die Verteidigungsmöglichkeit des Angeklagten zu sichern, sondern darum, einen Weg zu finden, das Verfahren trotz dieser Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten weiterzuführen.

[25] So die Vertreter des Generalbundesanwalts und die Richterkollegen des Vorsitzenden beim OLG Stuttgart im Rahmen eines Befangenheitsgesuchs des Angeklagten gegen den Vorsitzenden.

[26] BVerfG NJW 2001, 3695, 3696.

[27] Offensichtlich geht das OLG davon aus, dass die Einarbeitung allein dem neuen Verteidiger obliegt. Dazu lässt sich aber einerseits feststellen, dass der Senat den Verteidiger in die Lage versetzen muss, sich überhaupt einarbeiten zu können, und dass ihm dann andererseits auch ganz allein die Beantwortung der Frage obliegt, wie lange er dafür braucht und ob er eine Erklärung nach § 145 Abs.3 StPO abgeben will oder nicht.

[28] Strate (NJW-aktuell 32/2015, 14) schreibt in Bezug auf den 4. Pflichtverteidiger im NSU-Verfahren, "dass dieser Verteidiger sich nach 219 Hauptverhandlungstagen nicht kurzfristig in den Verfahrensstoff einarbeiten kann (allein die Akten umfassen 280.000 Blatt), liegt auf der Hand."

[29] Die jahrzehntelange Erfahrung als Strafverteidiger hatte bei Rechtsanwalt E nicht dazu geführt, dass er den Titel eines Fachanwalts für Strafrecht erworben hatte.

[30] Die Frage, wie diese Zusage zu dem oben zitierten "unverbindlichen Angebot" passte, drängt sich förmlich auf.

[31] Bei dieser Aussage ist man völlig auf die (dem Unterzeichner unbekannte) Vorstellung des Rechtsanwalts E angewiesen, was denn genau der "Umfang im üblichen Maße von Großverfahren" ist.

[32] Wäre das Ansinnen des Vorsitzenden Richters tatsächlich – wie von Rechtsanwalt E einmal so bezeichnet – von ihm als "unverbindliches Angebot" angesehen gewesen, so hätte er sich einfach nicht an seine Zusage halten müssen, denn es wäre eine "unverbindliche Zusage" gewesen. Im Streitfall hätte er dann also sehr wohl Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag stellen können. Es braucht wahrscheinlich nicht näher ausgeführt werden, wie die Reaktion des Vorsitzenden und der gesamten Stuttgarter Justiz auf solch ein Verhalten gewesen wäre.

[33] Vgl. BGHSt 48, 170 (173); BGHR StPO § 24 Abs.2 Verteidigerbestellung 1.

[34] Zuletzt BGH StV 2016, 473 = HRRS 2016 Nr.432.

[35] Dass dieser Weg in extremen Umfangsverfahren jedoch durchaus Sinn macht, zeigt die Entscheidung des Landgerichts Dessau-Roßlau (StV 2016, 488, mit zust. Anm. Rühlmann)

[36] Im Anschluss an die Beiordnung weigerte sich der Angeklagte, mit seinem neuen Verteidiger zu kommunizieren, weil er ihn nicht als seinen Verteidiger betrachtete. Diese Einstellung wird in einem Vorsitzendenbeschluss vom 12.09.2014, mit dem diverse Entpflichtungsanträge abgelehnt wurden, wie folgt angesprochen:

"Auch der Umstand, dass der Angeklagte bislang nicht mit Rechtsanwalt E sprechen will und seine bisherigen Verteidiger nicht von der Schweigepflicht gegenüber dem neu bestellten Pflichtverteidiger entbindet, gebietet keine Rücknahme der Bestellung. Ein nicht vom Angeklagten benannter Pflichtverteidiger muss grundsätzlich mit einer solchen Reaktion rechnen, ohne dass dies einen wichtigen Grund für dessen Entpflichtung darstellen würde, zumal sich diese Einstellung im weiteren Verlauf ändern kann.

Andernfalls hätte es jeder Angeklagte in der Hand, durch sein eigenes Verhalten jederzeit einen Verteidigerwechsel herbeizuführen und damit ggf. das Verfahren zu verzögern oder verfahrensfremde Zwecke zu verfolgen (BGHSt 39,310). Dies gilt auch dann, wenn es der Angeklagte zu verhindern sucht, dass sich durch eine entsprechende Verweigerungshaltung überhaupt ein Vertrauensverhältnis entwickeln kann (OLG Hamm NJW 2006, 2712)." So wurde letztendlich der Angeklagte dafür verantwortlich gemacht, dass kein Vertrauensverhältnis mit Rechtsanwalt E zustande kommt.

[37] Schriftsatz des Rechtsanwalts E vom 08.09.2014.

[38] Nach einer aktuellen Entscheidung des 2. Strafsenats könnte ein relativer Revisionsgrund "im Falle einer Interessenkollision in der Person des zeitweilig alleine anwesenden Verteidigers allerdings dann gegeben sein, wenn die Abwesenheit des anderen Verteidigers dazu geführt hätte, dass die Verteidigung insgesamt nicht wirksam wäre. Dabei hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, ob die Anwesenheit desselben Verteidigers bei allen Teilen der Hauptverhandlung für eine sachgemäße Durchführung der Verteidigung notwendig ist" (BGH StV 2016, 473 = HRRS 2016 Nr.432).

[39] Im NSU-Verfahren wurde dies jedoch nicht hinsichtlich aller Angeklagter getan.

[40] StV 2016, 488 (mit zust. Anm. Rühlmann).

[41] https://www.bundestag.de/blob/419818/5e5763448fabb7dfefd0219ec33c573e/drb-data.pdf unter II. 2. h). Weiter heißt es an dieser Stelle: "Dass die Rolle eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung mit heftigen Anfeindungen seitens der vom Angeklagten gewählten Verteidiger (und seitens des Angeklagten selbst) verbunden ist, lehrt nicht nur die Erfahrung aus dem VStGB-Strafverfahren vor dem OLG Stuttgart, sondern auch ein Blick in die jüngere deutsche Justizgeschichte."

[42] Der Angeklagte und seine Verteidigerin hatten im weiteren Verlauf des Konflikts den Vorschlag gemacht, nach einer Entpflichtung des Rechtsanwalts E und einer Beiordnung eines gewünschten Verteidigers die Hauptverhandlungstage für einen gewissen Zeitraum zu reduzieren, um eine vom Angeklagten unterstützte Einarbeitung möglich zu machen, bevor wieder mit dem normalen Pensum fortgefahren würde. Auch wenn sich im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot dann vor allem die Frage der weiteren Untersuchungshaft des Angeklagten und seines Mitangeklagten gestellt hätte, war dies ein konstruktiver Vorschlag, der die Krise hätte lösen können.

[43] Im vorliegenden Fall war dem Vorsitzenden diese Gefahr durchaus bewusst, wie sich aus der Formulierung, "Ein nicht vom Angeklagten benannter Pflichtverteidiger muss grundsätzlich mit einer solchen Reaktion (= Ablehung der Zusammenarbeit durch bisherige Verteidigung) rechnen", ablesen lässt, denn wenn ein Pflichtverteidiger damit rechnen muss, muss dies auch ein Vorsitzender Richter. Trotzdem machte er keinerlei Versuche, die bisherigen Verteidiger und den Angeklagten bei der Lösung dieser vertrackten Situation mit "ins Boot zu holen".

[44] Friedrich-Karl Föhrig , "Kleines Strafrichter-Brevier" (2008), S.12.

[45] Soweit geht mit beachtlichen Argumenten Leitmeier in StV 2016, 515 f.