HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2016
17. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)

834. BGH 4 StR 149/16 - Beschluss vom 6. Juli 2016 (LG Bielefeld)

BGHSt; Rücknahme des Rechtsmittels durch den Verteidiger (ausdrückliche Ermächtigung: keine Ermächtigung durch den gesetzlichen Vertreter des Angeklagten, selbstständiges Recht des Angeklagten zur Rechtsmitteleinlegung).

§ 302 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB; § 296 Abs. 1 StPO; § 298 Abs. 1 StPO

1. Nach der den Vorschriften der §§ 296 ff. StPO zugrundeliegenden Regelungssystematik kann der gesetzliche Vertreter des Beschuldigten die gemäß § 302 Abs. 2 StPO erforderliche Ermächtigung zur Rücknahme eines vom Verteidiger für den Beschuldigten eingelegten Rechtsmittels nicht wirksam für den Beschuldigten erteilen. (BGHSt)

2. Die eigenständige Rechtsmittelbefugnis des gesetzlichen Vertreters lässt das sich aus § 296 Abs. 1 StPO ergebende Recht des Beschuldigten, selbst unabhängig vom Willen des gesetzlichen Vertreters Rechtsmittel einzulegen, unberührt. Die Befugnisse des Beschuldigten aus § 296 Abs. 1 StPO und des gesetzlichen Vertreters aus § 298 Abs. 1 StPO stehen selbständig nebeneinander, so dass Erklärungen des Beschuldigten und des gesetzlichen Vertreters jeweils nur für das eigene Rechtsmittel Wirkungen entfalten. (Bearbeiter)

749. BGH 3 StR 358/15 - Beschluss vom 4. Mai 2016 (LG Düsseldorf)

Gesetzlicher Richter (nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung; anhängige Verfahren; Aneinanderreihung von Einzelzuweisungen; Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs; Beschleunigungsgrundsatz); Einschleusen von Ausländern (Beendigungszeitpunkt bei den Einreisedelikten; psychische Beihilfe; Bandenabrede; Deliktsserie; uneigentliches Organisationsdelikt; Handlungseinheit; Handlungsmehrheit; Straflosigkeit der Unterstützung von Ausländern bei der Ausreise).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 21e GVG; § 95 AufenthG; § 96 AufenthG; § 52 StGB; § 53 StGB

1. Eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung (vgl. § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG) kann nicht nur zulässig, sondern verfassungsrechtlich geboten sein, wenn nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, insbesondere eine beschleunigte Behandlung von Strafsachen, erreicht werden kann. Das Beschleunigungsgebot lässt jedoch das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht vollständig zurücktreten. Vielmehr besteht Anspruch auf eine zügige Entscheidung durch diesen. Daher muss in derartigen Fällen das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden (vgl. BGH HRRS 2015 Nr. 716).

2. Gleichgültig, ob ausschließlich anhängige Verfahren oder daneben auch zukünftig eingehende Verfahren umverteilt werden, muss jede Umverteilung während des laufenden Geschäftsjahres, die bereits anhängige Verfahren erfasst, geeignet sein, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Daran fehlt es regelmäßig, wenn nach einer Überlastungsanzeige in der Mitte des Geschäftsjahres lediglich ein einziges Verfahren auf eine andere Strafkammer übertragen wird. Da zu einem solchen Zeitpunkt weitere Verfahrenseingänge absehbar sind, trägt eine Einzelzuweisung zur Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs nichts bei. Eine Aneinanderreihung von Einzelzuweisungen zur Bewältigung späterer Verfahrenseingänge ist mit den Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters nicht in Einklang zu bringen.

3. Im Hinblick auf die von § 96 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in Bezug genommenen Einreisedelikte ist zu beachten, dass es sich bei diesen, im Gegensatz zu den von § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfassten Aufenthaltsdelikten, nicht um Dauerstraftaten handelt. Vielmehr tritt mit der Vollendung der Einreise infolge unerlaubten Grenzübertrittes oder Passierens der Grenzübergangsstelle gleichzeitig deren Beendigung ein. Da § 96 Abs. 1 AufenthG eine Beihilfehandlung zur Täterschaft erhebt, ist eine Beteiligung an der Bezugstat nach deren Beendigung nicht mehr möglich.

4. Eine Bandenabrede lässt die allgemeinen Regeln über die Tatbeteiligung unberührt, so dass die Bandenmitgliedschaft und die Beteiligung an Bandentaten unabhängig voneinander zu beurteilen sind. Im Einzelfall kann zwar schon die allgemeine, im Rahmen der Bandenabrede erteilte Zusage, bei späteren (Durch)Schleusungen mitzuwirken, eine die konkrete Tatausführung fördernde psychische Beihilfe darstellen. Jedoch setzt dies voraus, dass die im Vorfeld getätigte allgemeine Unterstützungszusage die Täter bei der späteren Tat psychisch in ihrem Vorhaben bestärkte, die Tathandlung oder den Erfolgseintritt mindestens erleichterte oder förderte und auch die subjektiven Voraussetzungen bei dem Gehilfen vorliegen. Das bedarf genauer Feststellungen im Urteil, insbesondere auch zur fördernden Funktion.

5. Haben bei einer durch mehrere Personen begangenen Deliktsserie einzelne Angeklagte einen Tatbeitrag zum Aufbau oder zur Aufrechterhaltung einer auf die Begehung von Straftaten ausgerichteten Infrastruktur erbracht, so sind die Einzeltaten der Mittäter zu einem sog. uneigentlichen Organisationsdelikt zusammenzufassen, durch welches die Einzelhandlungen rechtlich verbunden und die auf der Grundlage dieser Infrastruktur begangenen Straftaten für die im Hintergrund Tätigen zu einer einheitlichen Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammengeführt werden. Von dieser Handlungseinheit ausgenommen sind diejenigen Einzeldelikte, an denen der Täter individuell mitwirkt; diese sind ihm tatmehrheitlich zuzurechnen.

6. Die bloße Unterstützung eines in Deutschland aufhältigen Ausländers zur Ausreise ist - ungeachtet des Anwendungsbereichs von § 96 Abs. 4 AufenthG - grundsätzlich straflos. Nach seinem Regelungsgehalt erfasst § 96 Abs. 1 AufenthG gleichwohl nicht nur Einschleusungen mit dem Ziel dauerhaften Aufenthalts der Ausländer in Deutschland, sondern auch Durchschleusungen von Ausländern, die sich auf dem Weg in ein Drittland nur vorübergehend ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufhalten und bereits mit dem Ziel der Weiterreise eingereist sind. Als Hilfeleistung kommt aber nur eine Handlung in Betracht, die im Sinne eines Förderns oder Erleichterns gerade dazu beiträgt, dass der Ausländer in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland illegal einreisen oder sich darin aufhalten kann. Hieran fehlt es, wenn die Handlung des Täters allein auf die Weiterreise des Ausländers abzielt, für dessen Einreise oder Aufenthalt in Deutschland jedoch ohne Wirkung ist.

802. BGH 1 StR 627/15 - Beschluss vom 11. Mai 2016 (LG Mannheim)

Europarechtliches Doppelbestrafungsverbot (unionsrechtlich autonome Auslegung); Auslieferung auf Grund eines europäischen Haftbefehls (Grundsatz der Spezialität: Vollstreckungshindernis bei befristeter Übergabe, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung).

Art. 50 GRC; § 54 SDÜ; Art. 24 Abs. 2 RbEuHb; Art. 27 RbEuHb

1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 54 SDÜ ist der dort verwendete Tatbegriff unionsrechtlich autonom auszulegen; es kommt maßgeblich auf die „Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen“ an, der „unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse“ zu verstehen ist. Der Tatbegriff in Art. 50 GRC dürfte nicht abweichend auszulegen sein.

2. Dass eine Verletzung des Spezialitätsgrundsatzes bei Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls lediglich zu einem Vollstreckungshindernis nicht aber zu einem Verfahrenshindernis führt (vgl. BGH NStZ 2014, 590), ändert an der Geltung der Spezialität nichts.

3. Den Umfang der Spezialitätsbindung bestimmt grundsätzlich der ersuchte Staat (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 251, 252). Bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gilt insoweit nichts anderes. Der Rahmenbeschluss eröffnet nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 auch die Möglichkeit einer im Hinblick auf die Durchführung eines Strafverfahrens im Vollstreckungs-

staat lediglich befristeten Übergabe. Hat der Vollstreckungsstaat von dieser Möglichkeit nach der Entscheidung über die Vollstreckung Gebrauch gemacht, entfällt die bis dahin gültige Rechtsgrundlage für die Übergabe, wenn der Vollstreckungsstaat entscheidet, die nur befristete Überstellung nicht aufrechtzuerhalten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn im Zeitpunkt dieser Entscheidung die Voraussetzungen für die Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls vorliegen.

4. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat bereits entschieden, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in der Systematik des Rahmenbeschlusses die grundsätzliche Pflicht der Mitgliedstaaten gebietet, einen solchen zu vollstrecken. Das „hohe Maß an Vertrauen“ zwischen den Mitgliedstaaten wirkt aber nicht nur in Richtung einer – außerhalb der im Rahmenbeschluss eröffneten Ausnahmen – Pflicht zur Vollstreckung des im Ausstellungsstaat erlassenen Haftbefehls. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erfordert auch Vertrauen des Ausstellungsstaates in die rechtmäßige Handhabung der Ausnahmen von der Vollstreckungspflicht oder der Vorschriften über Abweichungen von der Übergabe des Betroffenen (Art. 24 Abs. 2 des RbEuHb) seitens des Vollstreckungsstaates.

820. BGH 2 StR 539/15 - Urteil vom 8. Juni 2016 (LG Köln)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Zeuge, der mit Aussage zugleich strafrechtliche Vorteile erstrebt: besondere Anforderungen an Beweiswürdigung; Zeuge vom Hörensagen; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit: Lückenhaftigkeit, einzelne Lücken nicht ausreichend); Auskunftsverweigerungsrecht (Verfolgungsgefahr: mittelbare Begründung eines Tatverdachts als Teilstück ausreichend); Antrag auf Aussetzung des Verfahrens (tatrichterliche Ermessensentscheidung: erforderliche Berücksichtigung des Interesse des Angeklagten an einem beschleunigten Abschluss des Verfahrens).

Art. 6 Abs. 1 Satz EMRK; § 261 StPO; § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 46b StGB; § 55 Abs. 1 StPO; § 228 Abs. 1 StPO

1. Die begrenzte Zuverlässigkeit eines Zeugnisses und die Beschränkung der Nachprüfungsmöglichkeiten besondere Anforderungen an die Würdigung. Dies gilt nicht nur in Fällen, in denen die vom Gericht unmittelbar vernommenen Zeugen über Angaben einer anonymen Gewährsperson berichten (Zeuge vom Hörensagen). Dies muss erst recht gelten, wenn ein unmittelbarer Tatzeuge mit seinen Angaben, die einen anderen belasten, zugleich Vorteile im Sinne von § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG oder § 46b StGB, einschließlich der Verschonung von Untersuchungshaft, erstrebt (vgl. BGH StV 2004, 578, 579). Dann besteht eine erhöhte Gefahr dafür, dass dieser Belastungszeuge den Angeklagten insgesamt zu Unrecht oder jedenfalls zu stark belastet haben könnte, ohne dass dies durch ergänzende Befragung in der Hauptverhandlung überprüft werden kann.

2. Allein durch sorgfältige Analyse des Aussageinhalts und Überprüfung der Aussagekonstanz kann in einer solchen Konstellation eine möglicherweise zu Unrecht erfolgende oder zu weit gehende Belastung eines anderen nicht ausreichend ausgeschlossen werden. Die allgemeinen Glaubwürdigkeitskriterien erweisen sich in derartigen Fällen, etwa im Hinblick auf die Möglichkeit des „Kronzeugen“, nur die Person eines weiteren Beteiligten im Rahmen der Schilderung eines im Übrigen selbst erlebten Geschehens falsch zu bezeichnen, um dadurch seine eigene größere Tatbeteiligung oder die Beteiligung eines Dritten zu vertuschen, als unzureichend. Der Aufklärungsgehilfe kann in dieser Situation ein schlüssiges Gesamtbild auch dann erzeugen, wenn er nur einen Personentausch vornimmt.

3. Besteht in der Hauptverhandlung in einer solchen Situation auch keine Möglichkeit für das Gericht und die Verteidigung, durch Befragung des Tatzeugen, der erhebliche Eigeninteressen verfolgt, die Glaubhaftigkeit der Fremdbelastung zu überprüfen, ist die Verurteilung nur gerechtfertigt, wenn die belastenden Angaben durch weitere aussagekräftige Indizien unterstützt werden

4. Aus einzelnen Lücken der tatrichterlichen Beweiswürdigung in den Urteilsgründen kann nicht ohne weiteres abgeleitet werden, der Tatrichter habe wesentliche Wertungsgesichtspunkte nicht bedacht. Lückenhaft ist eine Beweiswürdigung dann, wenn sie wesentliche Feststellungen nicht erörtert. Bei der Prüfung, ob eine solche Lücke vorliegt, ist es nicht Sache des Revisionsgerichts, aufgrund der Sachrüge der Staatsanwaltschaft Mutmaßungen darüber anzustellen, ob weitere Beweise zur Aufklärung der Tatvorwürfe zur Verfügung gestanden hätten, aber nicht erhoben, oder zwar erhoben, aber nicht im Urteil gewürdigt wurden (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 88 f.).

5. Für das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO genügt es, wenn der Angeklagte über Fragen eine Auskunft geben müsste, die den Verdacht als Teilstück in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude mittelbar begründen. Eine Verfolgungsgefahr besteht zwar im Allgemeinen nicht mehr, wenn ein rechtskräftiges Urteil gegen den Zeugen in derselben Sache vorliegt (vgl. BVerfG NStZ 1985, 277). Das gilt aber nicht, wenn zwischen der abgeurteilten Tat und weiteren Straftaten, deretwegen der Zeuge noch verfolgt werden kann, ein so enger Zusammenhang besteht, dass die Beantwortung von Fragen zu der abgeurteilten Tat die Gefahr der Verfolgung wegen anderer Taten mit sich bringt (vgl. BVerfG NJW 2002, 1411, 1412). Stets kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.

6. Bei der Beurteilung eines Aussetzungsantrags ist neben der Aufklärungspflicht des Gerichts unter anderem auch das Interesse des Angeklagten an einem beschleunigten Abschluss des Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zu berücksichtigen. Zur Prüfung dieser Rüge reicht das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht aus.

798. BGH 1 StR 352/15 - Beschluss vom 11. Mai 2016 (LG Mannheim)

Absetzung des Urteils (Unterschrift der mitwirkenden Richter; urlaubsbedingte Verhinderung eines Beisitzers: Einschätzungsspielraum des Vorsitzenden Richters, revisionsrechtliche Kontrolle, Begründungsanfor-

derungen, keine Pflicht zu organisatorischen Vorkehrungen); Geldwäsche (Begriff des aus der Tat herrührenden Gegenstands: ersparte Aufwendungen).

§ 275 Abs. 2 StPO; § 261 Abs. 1 StGB

1. Dem Vorsitzenden Richter steht ein Spielraum hinsichtlich der Annahme der Verhinderung eines Beisitzers aus tatsächlichen Gründen zu. Der im Verhinderungsvermerk genannte Grund muss generell geeignet sein, den Richter von der im Gesetz als Grundsatz vorgesehenen Unterschriftsleistung (§ 275 Abs. 2 Satz 1 StPO) abzuhalten. Durch Urlaub eines Richters bedingte Abwesenheit stellt einen solchen Grund dar. Ob im konkreten Fall ein generell geeigneter Grund zur Verhinderung eines an der Urteilsfindung beteiligten Richters führt, obliegt der Beurteilung des Vorsitzenden (vgl. BGHSt 31, 212, 215).

2. Stützt sich der Vermerk auf einen generell die Verhinderung tragenden Grund, bedarf es keiner näheren Ausführungen des Vorsitzenden zu den Umständen der Verhinderung.

3. Wurde eine Verhinderung fristgerecht beurkundet und auf einen diese grundsätzlich tragenden Grund gestützt, kann das Revisionsgericht die Entscheidung des Vorsitzenden lediglich daraufhin überprüfen, ob dabei der eingeräumte Spielraum in rechtsfehlerhafter Weise überschritten ist oder die Annahme der Verhinderung auf sachfremden Erwägungen beruht und sie sich deshalb als willkürlich erweist (vgl. BGHSt 31, 212, 214).

4. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat eine Plicht, ausreichende organisatorische Vorkehrungen zu treffen, um die Unterzeichnung des Urteils durch den abwesenden Beisitzer zu ermöglichen, bislang für den Fall „zulässiger Ausschöpfung“ der Frist aus § 275 Abs. 1 StPO angenommen (vgl. BGH NStZ 2006, 586 f). Die für eine derartige Pflicht in den Fällen der Abordnung oder Versetzung angeführten Gründe lassen sich auf die Inanspruchnahme von Urlaub durch den betroffenen Richter nicht übertragen.

5. Im Übrigen darf das Aufstellen einer Pflicht des Vorsitzenden, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, die eine Unterschriftleistung durch sämtliche an der Entscheidung mitwirkenden Berufsrichter ermöglichen, nicht zu einer Veränderung des zuvor dargelegten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs hinsichtlich der Annahme tatsächlicher Verhinderung führen. Ist das Revisionsgericht insoweit auf eine Willkürkontrolle beschränkt, kann es nicht berechtigt sein, mittels bis ins Einzelne gehender Kontrolle ergriffener (oder unterlassener) organisatorischer Maßnahmen die angenommene Verhinderung unterhalb der Schwelle sachfremder Erwägungen oder einer rechtsfehlerhaften Überschreitung des Spielraums des Vorsitzenden zu überprüfen.

848. BGH 4 StR 253/16 - Beschluss vom 6. Juli 2016 (LG Verden)

Zustellung des Urteils an die Staatsanwaltschaft (Zustellungszeitpunkt: Eingang bei der Behörde; Form).

§ 41 StPO

Bei einer Zustellung an die Staatsanwaltschaft gemäß § 41 StPO kommt es allein auf den Eingang bei der Behörde, nicht aber auf den bei der zuständigen Abteilung oder gar dem das Verfahren bearbeitenden Staatsanwalt an.

817. BGH 2 StR 492/15 - Beschluss vom 29. Juni 2016 (LG Darmstadt)

Unmittelbarkeitsgrundsatz (Verlesung des Extraktionsberichts über ausgelesene Daten ohne Anhörung des Sachverständigen

§ 250 StPO; § 102 StPO

Liest ein Sachverständiger mit Hilfe eines Anwendungsprogramms (gelöschte) Daten aus einem Handy oder einer SIM-Karte aus, die ansonsten nicht zu ermitteln gewesen wären, verstößt die Verlesung allein des die Datengewinnung dokumentierenden Extraktionsberichts und der einzelnen aufgefundenen Daten nicht gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO), auch wenn der Sachverständige selbst nicht angehört worden ist.

819. BGH 2 StR 539/15 - Beschluss vom 8. Juni 2016 (LG Köln)

Sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung (keine Sachdienlichkeit neben der Einlegung der Revision).

§ 464 Abs. 3 StPO; § 467 Abs. 1 StPO

Hat die Revision Erfolg und führt sie zur Urteilsaufhebung, ist die sofortige Beschwerde gegen die auf § 467 Abs. 1 StPO beruhende Nebenentscheidung gegenstandslos. Ist die Revision unbegründet, so ist auch die sofortige Beschwerde unbegründet. Eine Praxis der Staatsanwaltschaft, neben der Revision „vorsorglich“ sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung einzulegen, ist danach nicht sachdienlich.

812. BGH 2 StR 89/16 - Urteil vom 29. Juni 2016 (LG Frankfurt a. M.)

Gegenstand des Verfahrens (in der Anklage bezeichnete Taten: personenbezogene Bestimmung).

§ 264 Abs. 1 StPO

Verfahrensgegenstand sind nur Taten einer bestimmten Person. Daher bleibt die Tat im prozessualen Sinn stets auf die in der Anklageschrift als Angeschuldigter bezeichnete Person bezogen (vgl. BGHSt 32, 215, 217). Taten eines Angeschuldigten, die nicht vom Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasst sind, können daher vom Gericht nicht abgeurteilt werden, selbst wenn sie in Bezug auf einen Mitangeschuldigten zum Gegenstand der Anklage gemacht wurden.

811. BGH 2 StR 88/16 - Urteil vom 8. Juni 2016 (LG Gera)

Statthaftes Rechtsmittel (Bestimmung nach der verfahrensrechtlich zulässigen Entscheidung; hier: Rechtsmittel gegen die Anordnung der Sicherungsverwahrung).

§ 333 StPO; § 300 StPO; § 66 StGB

Maßgebend für die Frage, welches Rechtsmittel statthaft ist, ist das Verfahrensrecht. Danach sind Urteile solche Entscheidungen, die eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung voraussetzen. Ohne Bedeu-

tung ist, ob eine mündliche Verhandlung und eine öffentliche Verkündung wirklich stattgefunden haben. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die betreffende Entscheidung nach dem Gesetz nur aufgrund mündlicher Verhandlung und im Wege öffentlicher Verkündung hätte ergehen dürfen. Sind Verhandlung und Verkündung entgegen dem Gesetz unterblieben, handelt es sich für die Frage der Anfechtbarkeit dennoch um ein Urteil (vgl. BGHSt 50, 180, 186).

807. BGH 2 StR 7/16 - Urteil vom 18. Mai 2016 (LG Stralsund)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (Anforderungen an ein freisprechendes Urteil; revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 4 StPO

Kann sich ein Gericht nicht von der Täterschaft eines Angeklagten überzeugen, ist zunächst der Anklagevorwurf aufzuzeigen (vgl. BGHSt 37, 22). Sodann muss in einer geschlossenen Darstellung dargelegt werden, welchen Sachverhalt das Gericht als festgestellt erachtet. Erst danach ist zu erörtern, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können (vgl. BGH NJW 2013, 1106). Dies hat nach der Aufgabe, welche die Urteilsgründe erfüllen sollen, so vollständig und genau zu geschehen, dass das Revisionsgericht in der Lage ist nachzuprüfen, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht.

800. BGH 1 StR 571/15 - Beschluss vom 10. Mai 2016 (LG Hamburg)

Mitteilung über außerhalb der Hauptverhandlung geführte Verständigungsgespräche (Gespräch über Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO; fehlendes Beruhen auf unterlassener Mitteilung).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

Auch Gespräche über eine vollständige Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO sind mitteilungsbedürftig nach § 243 Abs. 4 StPO.

782. BGH StB 21/16 - Beschluss vom 14. Juli 2016 (OLG Stuttgart)

Dringender Tatverdacht der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung; Schwerkriminalität (Beurteilung des dringenden Tatverdachts während laufender Hauptverhandlung; Umfang der Überprüfung durch das Beschwerdegericht); Fluchtgefahr; Fortdauer der Untersuchungshaft nach einem Jahr und neun Monaten (Verhältnismäßigkeit; Beschleunigungsgrundsatz; effektive Strafverfolgung; persönliche Freiheit; Unschuldsvermutung; erhebliche vermeidbare Verfahrensverzögerungen).

§ 129a StGB; § 129b StGB; § 112 StPO; § 116 StPO; § 120 StPO; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK

1. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft (hier: seit einem Jahr und neun Monaten) von Bedeutung und verlangt, dass diese nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht; er setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. zuletzt BGH HRRS 2016 Nr. 561 m.w.N.). Gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig mit zunehmender Länge der Untersuchungshaft. Daraus folgt, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zudem nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu.

2. Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen sowie eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und einer Sicherstellung der etwaigen späteren Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft deshalb nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist daher stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Planung und Durchführung der Hauptverhandlung mit im Grundsatz durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.

3. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen. Bei der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann.