HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Aug./Sept. 2015
16. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Passive Sterbehilfe vor dem EGMR im Fall Lambert – Das "Gewissen Europas" vor dem non liquet

Anmerkung zu EGMR HRRS 2015 Nr. 689 (Fall Lambert)

Von Alix Schlüter, Bucerius Law School, Hamburg

I. Einleitung

Entscheidungen über das Lebensende sind für keine moralische oder rechtliche Instanz leicht – offenbar nicht einmal für das "Gewissen Europas", so der Titel eines Sammelbandes, mit dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 2010 sein fünfzigjähriges Bestehen beging: Die Entscheidung über die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen entzweite im Fall Lambert and others v. France nicht nur die Familie von Vincent Lambert, der seit sieben Jahren im Wachkoma lag und künstlich ernährt wurde, sondern auch die entscheidenden Richter. Die Große Kammer entschied am 5. Juni 2015 mit zwölf zu fünf Stimmen, dass die nach einem Urteil des Conseil d’État geplante Einstellung der künstlichen Ernährung von Vincent Lambert keine Verletzung positiver Verpflichtungen Frankreichs aus Art. 2 EMRK darstellen würde. In Lambert v. France hatte der EGMR erstmals über die Konventionskonformität einer Maßnahme der passiven Sterbehilfe zu befinden. Abzuwarten bleibt, wie folgenschwer das Urteil sein wird. Denn in Streit stand nicht eine gängige Konstellation der passiven Sterbehilfe, also eine Entscheidung über die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen für eine Person, deren ausdrücklicher oder mutmaßlicher Wille auf den eigenen Tod gerichtet war, sondern vielmehr ein Dilemma tatsächlicher Ungewissheit – über die Frage nämlich, ob Vincent Lambert eine Fortsetzung der Ernährung gewünscht hätte oder nicht, waren sich Eltern und Geschwister, Ehefrau und Ärzte uneins.

Auch auf Ebene der Zulässigkeit beschritt der Gerichtshof Neuland. Er erkannte eine Beschwerdefähigkeit der Eltern und Geschwister Lamberts aus eigenem Recht unter Art. 2 EMRK an, obschon ihr Sohn bislang nicht verstorben war.

II. Der Sachverhalt

Der Großen Kammer, die nach Verweisung durch die Kammer des EGMR gem. Art. 30 EMRK, Art. 72 Abs. 1 VerfO EGMR mit dem Fall befasst war, lag folgender Sachverhalt vor: Nach einem Motorradunfall im Jahre 2008 lag der 38-jährige Vincent Lambert auf Grund gravierender Kopfverletzungen im Wachkoma, in dem er künstlich mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt wurde, jedoch selbstständig atmen konnte. 2013 glaubte das Pflegepersonal, auf Seiten Lamberts Widerstand gegen die täglichen Versorgungsmaßnahmen wahrzunehmen.[1] In Frankreich besteht auf Basis des erst im März 2015 reformierten (umstrittenen) sog. Leonetti-Gesetzes die Möglichkeit, die medizinische Versorgung unheilbar kranker Personen mit deren Einwilligung einzustellen, wenn sich diese nach medizinischer Einschätzung als unverhältnismäßig, als eine "obstination déraisonnable" darstellt (Article L. 1110-5). Im Fall fehlender Einwilligungsfähigkeit des Patienten ist ein kollektives Verfahren einzuleiten, an dem neben dem behandelnden Arzt zur Konsultation ein weiterer Arzt und, sofern vom Patienten benannt, dessen Vertrauensperson ("personne de confiance"), in Ermangelung einer solchen die Familie und/oder andere dem Patienten nahe stehende Personen zu beteiligen sind (Article L. 1111-4 sowie Code de Déontologie médicale). Herr Lambert hatte keine Vertrauensperson benannt, eine Patientenverfügung fehlte ebenfalls. Im April 2013 entschied der behandelnde Arzt in Absprache einzig mit Lamberts Ehefrau, die Ernährung Lamberts einzustellen. Im Wege eines Eilverfahrens ordnete ein französisches Verwaltungsgericht die Fortsetzung der Ernährung an, indem es den Ausschluss der Eltern Lamberts aus dem Kollektivverfahren als schweren proze-

duralen Fehler einordnete. Im daraufhin angestrengten zweiten kollektiven Verfahren befand eine nunmehr aus sieben Ärzten, Eltern, Ehefrau und acht Geschwistern zusammengesetzte Kommission ebenfalls für einen Behandlungsabbruch. Dagegen sprachen sich im Verfahren einzig Lamberts Eltern und zwei seiner Geschwister aus; deren beim Verwaltungsgericht eingelegter Beschwerde wurde wiederum stattgegeben. Lediglich auf Basis der vereinzelten Äußerungen Lamberts seiner Frau gegenüber könne nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Lambert einen Versorgungsabbruch gewünscht habe. Im französischen Verfahren in letzter Instanz mit der Sache befasst, entschied schließlich das oberste Verwaltungsgericht, der Conseil d’État, nach erneuter Hinzuziehung eines medizinischen Expertenteams für den Behandlungsabbruch. Vincents Lamberts Hirnschädigung sei irreversibel und eine Besserung seines Zustands so gut wie ausgeschlossen. Das Verfahren, auf Basis dessen auf eine Einstellung der Ernährung entschieden worden sei, habe die gesetzlich obligatorischen Voraussetzungen durch die Konsultation von sieben Ärzten sogar übererfüllt. Des Weiteren hätte die Ehefrau des Patienten glaubwürdig versichert, ihr Ehemann, wie sie selbst in einem Pflegeberuf tätig und insofern mit vergleichbaren Konstellationen vertraut, hätte, sollte er in einen Zustand erheblicher medizinischer Abhängigkeit geraten, keine künstliche Lebensverlängerung gewünscht. Alle prozeduralen Anforderungen des Leonetti-Gesetzes seien insofern erfüllt und die Entscheidung für einen Behandlungsabbruch sei gut begründet. Gegen das Urteil des Conseil d’État riefen die Eltern Lamberts und zwei seiner Geschwister den EGMR an und rügten eine drohende Verletzung der Rechte Vincent Lamberts in Artt. 2, 3 und 8 EMRK.

III. Entscheidung des EGMR

1. Prozedurale Fragen

Unter prozeduralen Gesichtspunkten stellte sich zunächst die Frage einer Prozessführungsbefugnis der Eltern Lambert für ihren Sohn. Ausweislich Art. 34 EMRK ist prinzipiell nur die Erhebung einer Beschwerde aus eigenem Recht möglich, der Beschwerdeführer muss geltend machen können, selbst Opfer einer Konventionsverletzung zu sein.[2] Art. 45 Abs. 3 der VerfO EGMR sieht darüber hinaus die Möglichkeit einer schriftlichen und ausdrücklichen Bevollmächtigung eines Dritten durch den Beschwerdeführer vor. Von den genannten Grundsätzen hat der EGMR in der Vergangenheit verschiedene, bislang wenig systematisierte Ausnahmen zugelassen, deren Anwendbarkeit auf die Angehörigen Lamberts er detailliert prüfte. Zur etwaigen Entbehrlichkeit einer schriftlichen Bevollmächtigung rekapitulierte der Gerichtshof zunächst die im Fallrecht entwickelten Voraussetzungen: Das Opfer ist, etwa auf Grund seines Alters oder einer Behinderung, besonders "verletzlich"; es besteht die Gefahr, dass dem Opfer ohne Zulassung der Beschwerde des Dritten keinerlei Rechtsschutz vor dem EGMR zu Teil würde und es ist ausgeschlossen, dass zwischen dem Opfer und dem Beschwerdeführer eine Interessendivergenz besteht.[3] Ohne sich zu der wohl positiv zu beantwortenden Frage zu äußern, ob Vincent Lambert ein "verletzliches Individuum" sei, war nach Auffassung des Gerichtshofs zumindest die dritte Voraussetzung nicht mit hinreichender Gewissheit erfüllt. Ob nämlich der von den Eltern Lamberts gewünschte Lebensschutz unter Art. 2 EMRK dem (hypothetischen) Willen ihres Sohnes entsprach, war ungewiss (§ 98).

Von der Frage der Bevollmächtigung zu trennen ist die Geltendmachung fremder Rechte in eigenem Namen, die der EGMR bislang nur unter engen Voraussetzungen gestattete, nämlich für Angehörige verschwundener oder in staatlicher Kontrolle ums Leben gekommener Personen – Konstellationen, die auf Vincent Lambert ersichtlich nicht zutrafen (§ 97). Prinzipiell sind die Rechte aus Artt. 2, 3, 5, 8, 9 und 14 EMRK nach der Grundsatzentscheidung in Sanles Sanles v. Spain[4] unübertragbar. Der EGMR lehnte daher im Ergebnis eine Prozessführungsbefugnis von Eltern und Geschwistern Lamberts für Vincent Lambert ab (§ 106).

Unter dem topos der "mittelbaren Betroffenheit" hat der EGMR darüber hinaus Angehörigen oder sonstigen nahestehenden Personen direkter Opfer eines staatlichen Übergriffs eine Beschwerde in eigenem Namen gestattet, wenn die Konventionsverletzung, die das direkte Opfer erlitten hat, mit erheblichen, zumeist psychischen Belastungen für das mittelbare Opfer verbunden war.[5] In Koch v. Germany – Gegenstand der Beschwerde auch dort eine Konstellation der (beantragten) Sterbehilfe - nahm der EGMR zudem eine Beschwerdeberechtigung des Ehemanns der mittlerweile verstorbenen Patientin aus eigenem Recht unter Art. 8 EMRK auf Grund der engen persönlichen Nähebeziehung der Eheleute und des nachgewiesenen persönlichen Interesses des Ehemannes am Ausgang des Verfahrens an, das dieser bereits vor den deutschen Gerichten bekundet hatte.[6]

Auch in Lambert and others v. France konstruierte der EGMR die Beschwerdeberechtigung von Eltern und Geschwistern Lamberts schließlich über die Figur der mittelbaren Betroffenheit. Insoweit scheinen für den Gerichtshof am ehesten die Koch-Kriterien leitend gewesen zu sein. Gleichwohl bleibt die Argumentation des Gerichtshofs intransparent; es scheint, als seien die Voraussetzungen für eine mittelbare Betroffenheit in Lambert and others v. France weiter ausgeweitet worden. Erstaunlich ist die Zuerkennung der Beschwerdeberechtigung für die Angehörigen aus eigenem Recht zunächst insofern, als deren Beschwerdeanträge, zumindest der Dokumentation im Urteil selbst zur Folge, nur auf eine Feststellung der Verletzung der Rechte ihres Sohnes, nicht auf die Verletzung eigener Rechte gerichtet waren. Auch ist Lambert and others v. France, soweit ersichtlich, der erste Fall, in dem der EGMR eine mögliche eigene Verletzung von Angehörigen in Art. 2 EMRK durch den bloß drohenden, künftigen Tod des direkten Opfers angenommen hat. In § 115 skizziert der Gerichtshof kurz, es könne für die Beschwerdebefugnis von Angehörigen keinen Unterschied machen, ob, wie in Fällen der Ermordung in staatlicher Gewalt, das direkte Opfer bereits verstorben sei oder dessen Tod mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft bevorstehe. Dass die drohende Verletzung des Lebens von Vincent Lambert eine Verletzung seiner Angehörigen in deren Recht auf Leben darstellen sollte – ungeachtet ihrer mit der Situation verbundenen psychischen Belastung, die allerdings unter Art. 8 EMRK, ggf. Art. 3 EMRK zu verorten gewesen wäre, – hätte zumindest näherer Begründung bedurft.

2. Materiellrechtliche Würdigung durch den EGMR

In Pretty v. the United Kingdom, der Grundsatzentscheidung des EGMR zur Sterbehilfe, hatte der Gerichtshof ein Recht auf einen (selbstbestimmten) Tod aus Art. 2 EMRK als gleichsam negative Kehrseite des positiven Rechts auf Leben aus Art. 2 EMRK auf Grund von Wortlaut und Schutzzweck abgelehnt.[7] In den Folgeentscheidungen beleuchtete der EGMR Konstellationen um (aktive) Sterbehilfe daher unter Art. 8 EMRK, verstanden als Recht auf selbstbestimmte Entfaltung der Persönlichkeit.[8] Die auf Ebene der Zulässigkeit der Beschwerde getroffene Entscheidung für eine Beschwerdebefugnis der Angehörigen Lamberts, die einen Sterbewillen des Patienten gerade ablehnten, verschloss der Großen Kammer freilich den Weg über Art. 8 EMRK unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf freie Persönlichkeitsentfaltung; den Ansatzpunkt der rechtlichen Würdigung durch die Große Kammer bildete mithin Art. 2 EMRK. Dieser zählt nach ständiger Rechtsprechung[9] zu den wichtigsten, prinzipiell notstands- und derogationsfesten Garantien der EMRK.[10] Die Parteien waren sich einig, dass zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, letztere verstanden als – auch nach Auffassung der Eltern Lamberts – möglicherweise legitime Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen, klar zu trennen war (§§ 119 ff.). Über die Einordnung der Situation Lamberts in diese Kategorien gingen die Auffassungen der Parteien allerdings konträr auseinander; die Angehörigen sahen die Voraussetzungen für die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen anders als die Regierung als nicht gegeben an, aus ihrer Sicht komme eine Einstellung der Nahrungsversorgung einem Akt der Euthanasie gleich (§ 119). Auf Basis der vergleichsweise schlichten Begründung, das Leonetti-Gesetz verbiete Maßnahmen der Euthanasie und der aktiven Sterbehilfe (§§ 120, 124), kategorisierte die Große Kammer das geplante Einstellen der Ernährung Lamberts als mögliche Verletzung positiver Konventionspflichten (§ 124), womit entscheidende Weichen für die weitere Prüfung gestellt waren. Zwar gewährt der EGMR Staaten im Bereich von Schutzpflichten nicht prinzipiell einen größeren Einschätzungsspielraum (margin of appreciation) als im Bereich abwehrrechtlicher Konstellationen.[11] Konstruiert als Eingriff in Art. 2 EMRK wäre die Einstellung der Nahrungsversorgung aber unter den engen Ausnahmen des Art. 2 Abs. 1 S. 2 und Art. 2 Abs. 2 EMRK zumindest nicht zu rechtfertigen gewesen.

Die Große Kammer rekapitulierte das case-law zu Konstellationen der (aktiven) Sterbehilfe (§§ 137 ff.) – in denen freilich nicht Art. 2 EMRK, sondern Art. 8 EMRK Ausgangspunkt der rechtlichen Bewertung gewesen war[12] – und schloss mit der opaken Bemerkung, abgesehen von der Feststellung einer prozeduralen Verletzung des Art. 8 EMRK in Koch v. Germany habe er in keinem dieser Fälle auf einen Konventionsverstoß erkannt (§ 139). Leitend für die Frage, ob die Einstellung der medizinischen Versorgung mit der Konvention vereinbar sei, müssten die bislang in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sein.

Der EGMR umriss sodann zunächst in abstracto den Staaten in Fällen von Eingriffen in Art. 2 EMRK zukommenden margin of appreciation (§§ 144 ff.). Von Bedeutung sei neben der besonderen Wichtigkeit des Rechts auf Leben und der Komplexität und Sensibilität der Fragestellung der Umstand, dass eine mögliche Verletzung von positiven Konventionspflichten, nicht eine Eingriffskonstellation, in Rede stehe. Maßgeblich sei ferner, dass zwischen den Konventionsstaaten in der Frage um Beginn und Ende des Lebens kein Konsens herrsche (§ 145). Im Ergebnis müsse Frankreich ein Beurteilungsspielraum zugestanden werden. Der Gerichtshof behalte sich gleichwohl vor, dessen Einhaltung im Einzelfall zu überprüfen (§ 148). Vom Beurteilungsspielraum umfasst sei nicht

nur die Frage, ob passive Sterbehilfe grundsätzlich erlaubt sei, sondern auch, wie der in Fragen der Sterbehilfe virulente Widerstreit zwischen dem von Art. 2 EMRK gebotenen Lebensschutz und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 8 EMRK, konkret aufzulösen sei (§ 148).

Im nächsten Schritt prüfte der EGMR, inwiefern Verfahren und Rechtsgrundlage, die zur Entscheidung des Conseil d’État geführt hatten, den zuvor aus dem case-law entwickelten Voraussetzungen entsprachen (§§ 150-181). Diese umfassten das Vorhandensein einer hinreichend bestimmten, mit den Anforderungen von Art. 2 EMRK kompatiblen Rechtsgrundlage, die Einbeziehung von zuvor geäußerten Wünschen und Vorstellungen des Patienten und der Angehörigen in die Entscheidung über die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen, und schließlich, bei insoweit verbleibenden Zweifeln, die Möglichkeit, ein Gericht mit der Angelegenheit zu befassen (§ 143). Die erste Bedingung, die von den Beschwerdeführern bestrittene hinreichende Rechtssicherheit und Bestimmtheit des Leonetti-Gesetzes, sah der EGMR als erfüllt an. Das Verfahren vor dem Conseil d’État habe zur Klärung des Anwendungsbereichs des Leonetti-Gesetzes beigetragen, das demnach auch dann auf Vincent Lambert anwendbar sei, wenn er sich, wie die Beschwerdeführer argumentierten, nicht in einer "end of life situation" befinde. Ferner könne angesichts des fehlenden Konsenses zwischen den Mitgliedstaaten über den Begriff der "(medizinischen) Behandlung" auch die Subsumtion der Einstellung der Nahrungsversorgung unter den Begriff des "Behandlungsabbruchs" im Leonetti-Gesetz nicht beanstandet werden (§§ 152 ff). Zur zweiten Bedingung merkte der EGMR an, weder Art. 2 EMRK selbst noch dem case-law ließen sich konkrete Vorgaben entnehmen, wie der Patientenwille zu berücksichtigen sei. Abstrakt fehle es zwischen den Konventionsstaaten an einem Konsens in der Frage, wie das Verfahren zur Ermittlung des Patientenwillens auszugestalten sei (§ 165). Zumindest aber seien die Anforderungen, die das Leonetti-Gesetz an das kollektive Entscheidungsverfahren stelle, in der Entscheidung, die zur geplanten Einstellung der Ernährung für Vincent Lambert geführt habe, sogar übererfüllt gewesen, indem, unter anderem, nicht nur ein, sondern sechs Ärzte zu Rate gezogen worden seien (§§ 166 – 168). Schließlich hatte auch das gerichtliche (Eilschutz-)Verfahren, mit dem die Beschwerdeführer den Ausgang des Kollektivverfahrens hatten angreifen können, den Anforderungen von Art. 2 EMRK genügt (§§ 169-180), indem es einen detaillierten Expertenbericht eingefordert und dem an Hand der (glaubwürdigen) Aussagen von Lamberts Ehefrau ermittelten hypothetischen Willen Lamberts hinreichendes Gewicht beigemessen habe (§§ 177-179). Im Ergebnis würde der Vollzug des Conseil d’État-Urteils keine Verletzung der den französischen Staat treffenden positiven Verpflichtungen aus Art. 2 EMRK darstellen (§ 181); eine Untersuchung von Artt. 6 und 8 EMRK hielt der EGMR für entbehrlich (§§ 183-187).

IV. Fazit

In Lambert and others v. France war der EGMR mit einem doppelten non liquet konfrontiert: Einem moralischen – und einem faktischen. Denn über einen für die Frage der Konventionskonformität des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen ganz entscheidenden Gesichtspunkt, nämlich den Willen Lamberts zu leben oder zu sterben, war keine Gewissheit zu erlangen. Letztendlich löste der EGMR beide Pattsituationen, wie so oft, einerseits über eine "Prozeduralisierung" der Fragestellung und andererseits über den margin of appreciation, den leeway, innerhalb dessen er die Entscheidung einer nationalen Instanz als (noch) mit der Konvention im Einklang sieht: Die Gerichte und Behörden vor Ort sind better placed, das Schutzsystem der Konvention nur subsidiär und die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Würdigungen der nationalen Instanzen daher vorrangig zu berücksichtigen. Zweifelsohne ist der margin of appreciation ein legitimes Instrument zur Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen übernationaler Instanz EGMR und den nationalen Autoritäten; möglicherweise ist der den Staaten zugestandene Beurteilungsspielraum gar der entscheidende Erfolgsfaktor des EMRK-Systems.[13] Gleichwohl ist nicht nur der z. T. als inflationär wahr genommene Gebrauch der Figur des Beurteilungsspielraums,[14] sondern darüber hinaus insbesondere die Bestimmung des margin of appreciation in die Kritik geraten.[15] Zum Ausgangspunkt nimmt der EGMR insoweit neben dem in Rede stehenden Konventionsrecht und dem existierenden soft law zu der aufgeworfenen Rechtsfrage eine Analyse des Bestehens oder Nichtbestehens eines Konsenses zwischen den Konventionsstaaten in der zu beantwortenden Frage.[16] Auch in Lambert and others v. France war das Fehlen einer zwischen den Konventionsstaaten einheitlichen Herangehensweise an die Zulässigkeit von Maßnahmen passiver Sterbehilfe entscheidend für die Zuerkennung eines weiten Beurteilungsspielraums durch den EGMR. Abgesehen von grundsätzlicheren Bedenken hinsichtlich der Tauglichkeit von Mehrheitsanalysen für die Beantwortung von Rechtsfragen und hinsichtlich der Legitimität von Schlussfolgerungen aus dem rechtlichen status quo in den Konventionsstaaten auf das Sollen, d. h. die Verpflichtungen aus der Konvention, gibt konkret die Bestimmung des margin of appreciation im Fall Lambert auf Grund ihrer weitgehend einseitigen Konzentration auf die Konsensanalyse Anlass zu Kritik. So betont der EGMR zwar zu Beginn die fundamentale Bedeutung des Lebensschutzes, doch scheint dieser Aspekt für die Entscheidung der Mehrheit am Ende ebenso wenig eine Rolle gespielt zu haben wie die nur auf Ebene der Zulässigkeit anklingende Frage, ob Vincent Lambert ein "particularly vulnerable individual" sei.

Die Kategorisierung eines Individuums als "vulnerable" verstärkt nach Rechtsprechung des Gerichtshofs nämlich staatliche Schutzpflichten[17] und wäre daher auch im Fall Lambert and others v. France in die Bestimmung des Beurteilungsspielraums einzustellen gewesen. Für eine rechtsvergleichende Konsensanalyse wäre im Übrigen angesichts der Faktenlage im Fall Lambert primär ein spezieller Bezugspunkt interessant gewesen, wie Konventionsstaaten nämlich Situationen handhaben, in denen sich über den Lebenswillen der sterbenskranken Person nur mutmaßen lässt. Dieser Problematik widmet sich der Gerichtshof aber nur am Rande (§§ 74 f.). Ferner stellt sich die Frage, welche Argumente in der Abwägung von Für und Wider der Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen überhaupt zugunsten einer Beendigung der Nahrungszufuhr ins Gewicht fielen: Weder war Vincent Lamberts dahingehender Wille bekannt noch litt der Patient in der gegenwärtigen Situation nachweislich Schmerzen.

Die "prozedurale Lösung", die der EGMR in Lambert and others v. France wie bereits in anderen Urteilen zur Sterbehilfe[18] wählte, der Umstand nämlich, dass der Gerichtshof lediglich das nationale Entscheidungsverfahren und die Bestimmtheit des französischen Gesetzes überprüft, erlaubt judicial self-restraint par excellence. Solange die skizzierten Verfahrensvoraussetzungen eingehalten sind, sind die Konventionsstaaten also frei hinsichtlich der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen sogar für Personen, über deren Lebenswillen Unklarheit herrscht. Für die die Mehrheitsentscheidung tragenden Richter war das sorgfältig durchgeführte nationale Verfahren Garantie genug dafür, dass der Wille Vincent Lamberts im Ergebnis die notwendige Berücksichtigung gefunden hatte. Für nicht ausreichend befanden die dissenters diese im Wesentlichen prozedurale Absicherung. Ihrer Auffassung nach hätte Grundlage einer derart gravierenden Entscheidung nur ein bis an die Grenze der Gewissheit – "nothing short of absolute certainty" – ermittelter Willen Lamberts bilden dürfen. Das Urteil scheint ferner nicht alle Zweifel der behandelnden Ärzte zerstreut zu haben: Sie wollen nun, wie die französische Presse berichtet, die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters für Vincent Lambert erreichen, bevor die Nahrungsversorgung – möglicherweise – tatsächlich eingestellt wird.[19]

So bleibt schließlich der Eindruck, dass der EGMR, zum ersten Mal dazu berufen, zur Zulässigkeit passiver Sterbehilfe Stellung zu beziehen, eine wichtige Gelegenheit versäumt hat, sich zum Kern des Problems im Fall Lambert and others v. France zu äußern. Ob nämlich die Antwort auf eine dauerhaft verbleibende Ungewissheit über den Lebenswillen einer Person jemals mehr als eine Vermutung sein kann – und was sich daraus ergibt: Ob vor dem Hintergrund des Wertesystems der EMRK insofern nicht ausschließlich "in dubio pro vita" folgen kann.


[1] Allerdings stellte eine in einem späteren Verfahrensschritt hinzugezogene Ärztekommission fest, dass Vincent Lambert zu derartigen (Willens-)Äußerungen physiologisch nicht mehr in der Lage war.

[2] EGMR Lambert und andere v. Frankreich, Urteil vom 5. Juni 2015, HRRS 2015 Nr. 689, application no. 46043/14, § 89. Zur sog. "Opfereigenschaft” Meyer-Ladewig, EMKR Handkommentar, 3. Aufl. (2011), Art. 34 EMRK Rn. 14; Rogge, The "Victim" Requirement in Article 25 of the European Convention on Human Rights, in: Matscher/Petzold (Hrsg.), Protecting Human Rights: The European Dimension: Studies in honour of Gérard J. Wiarda (1988), S. 539 – 545; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, Ein Studienbuch (2012), § 13 Rn. 16.

[3] Vgl. EGMR Lambert und andere v. Frankreich (Fn. 2), §§ 93 ff., mit Nachweisen aus der Rechtsprechung.

[4] EGMR Sanles Sanles v. Spanien, Entscheidung vom 26. Oktober 2000, application no. 48335/99 (die Entscheidung enthält keine Randziffern). Bestätigt in EGMR Koch v. Deutschland, Urteil vom 19. Juli 2012, application no. 497/09, § 78 = HRRS 2012 Nr. 720 = NJW 2013, 2953; EGMR Centre for Legal Resources on Behalf of Valentin Câmpeanu v. Rumänien, Urteil vom 17. Juli 2014, application no. 47848/08, § 100.

[5] Zur "mittelbaren Betroffenheit" vgl. Grabenwarter/Pabel (Fn. 2), § 13 Rn. 20; Rogge (Fn. 2), S. 539, 541 ff.; Jötten, Enforced Disappearances und EMRK (2012), S. 60 ff., zur Ausweitung des Kreises möglicher Beschwerdeführer auf Angehörige insbesondere in Fällen des sog. "Verschwindenlassens".

[6] EGMR Koch v. Deutschland (Fn. 4), HRRS 2012 Nr. 720, § 44.

[7] EGMR Pretty v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 29. April 2002, application no. 2346/02, § 39.

[8] Vgl. EGMR Haas v. Schweiz, Urteil vom 20. Januar 2011; EGMR Koch v. Deutschland (Fn. 4), HRRS 2012 Nr. 720; EGMR Gross v. Schweiz, Entscheidung vom 14. Mai 2013, application no. 67810/10.

[9] Vgl. nur EGMR McCann und andere v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 27. September 1995, application no. 18984/91, § 147.

[10] Zu den Ausnahmen, unter denen Eingriffe in Art. 2 EMRK gerechtfertigt sein können, vgl. Alleweldt, Recht auf Leben, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl. (2013), Kap. 10 Rn. 57 ff.

[11] Brems ZaÖRV 1996, 240, 246.

[12] Abgesehen von der Entscheidung in EGMR Burke v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 11. Juli 2006, application no. 19807/06, in der der EGMR die Beschwerde unter den Artikeln 2, 3 und 8 EMRK für "manifestly ill-founded" befand.

[13] Vgl. dahingehend etwa Shany EJIL 2006, Vol. 16, No. 5, 907 - 940, 908 f.

[14] Vgl. Kratchovíl Netherlands Quarterly of Human Rights, Vol. 29 (3) 2011, 324 – 357.

[15] Vgl. etwa v. Ungern-Sternberg Archiv des Völkerrechts (2013) Bd. 51, 312 – 338; kritisch speziell zur Referenz auf ein Urteil des Kanadischen Supreme Court zur Herleitung des margin of appreciation in Pretty v. Vereinigtes Königreich Zoethout ZaÖRV 2011, 787 – 806, 799 ff.

[16] Vgl. nur Grabenwarter/Pabel (Fn. 2), § 18 Rn. 20 ff. Dies sind nur einige der vom EGMR zur Bestimmung des Beurteilungsspielraums herangezogenen Faktoren. Berücksichtigt wird darüber hinaus z. B. die Existenz von verfahrensrechtlichen Überprüfungsmechanismen auf nationaler Ebene, auf Grund derer Beschwerdeführern u.U. die Möglichkeit offen steht, die ihrer Auffassung nach konventionswidrige Maßnahme anzugreifen.

[17] Dieser Umstand ist im Schrifttum bislang nur selten thematisiert worden, vgl. etwa Timmer, A Quiet Revolution: Vulnerability in the European Court of Human Rights, in: Albertson Fineman/Grear (Hrsg.), Gender in Law, Culture, and Society: Vulnerability: Reflections on a New Ethical Foundation for Law and Politics (2013), S. 147 -170, S. 165 ff.; umfassend jetzt Ippolito/Sánchez (Hrsg.), Protecting Vulnerable Groups, The European Human Rights Framework (2015).

[18] So etwa in EGMR Koch v. Deutschland (Fn. 4), HRRS 2012 Nr. 720, §§ 43 ff.; EGMR Gross v. Schweiz, Entscheidung vom 14. Mai 2013, application no. 67810/10, §§ 63 ff.

[19] Siehe http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2015/07/24/01016-20150724ARTFIG00317-le-role-difficile-du-futur-tuteur-de-vincent-lambert.php (abgerufen am 5.8.2015).