HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2015
16. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Dokumentationspflicht in der Hauptverhandlung – Warum eigentlich? *

Von Prof. Dr. Endrik Wilhelm, Dresden

Einleitung

Wie die meisten von Ihnen habe ich leider keine Zeit, Vorträge wie diesen während gewöhnlicher Arbeitszeiten zu verfassen. Es bleiben die Wochenenden, was regelmäßig zu Diskussionen in der Familie führt. Alle wollen wissen, warum es jetzt schon wieder notwendig ist, ins Büro zu fahren oder zu Hause am Schreibtisch zu sitzen, statt Zeit für die Familie zu haben.

Sie kennen vermutlich die Diskussionen am Frühstückstisch, in denen sich ein/e Vater/Mutter und Ehemann/Ehefrau den Angriffen der übrigen Familienmitglieder ausgesetzt sieht. Während meine leidgeprüfte Ehefrau ihre Alternativpläne noch relativ vorsichtig darlegt, werden meine pubertierenden Kinder zunehmend aufmüpfiger. Sie stellen ihre Fragen immer unverblümter. Das geschieht natürlich nur noch, um mich in die Ecke zu drängen. Denn in Wirklichkeit sind sie heilfroh, dass ich keine Zeit habe. Schließlich bewahrt sie das vor berüchtigten Museumsbesuchen oder gar Wanderungen. Sie leben einfach nur ihre Lust daran aus, mich in die Ecke zu drängen. Das macht ihre Fragen leider umso gefährlicher. Konkret lautete sie in diesem Fall: "Papa, wofür opferst Du Deine Zeit denn jetzt schon wieder?"

Ein souveräner Vater hat darauf natürlich eine ebenso souveräne Antwort. Ich sagte, es ginge um Dokumentationspflichten in der Hauptverhandlung. Das sei eine der wichtigsten Fragen im Strafprozess überhaupt. Es ginge darum, dass die Strafverteidiger dieses Landes seit gefühlten Ewigkeiten – es kann auch sein, dass ich "übelst lange" gesagt habe, um verständlicher zu sein – fordern würden, z.B. die Aussagen von Zeugen in einem Strafprozess mitzuschreiben und ich einen Vortrag dazu halten wolle, dass diese Forderung berechtigt sei.

Diese Antwort machte meine 15 und 17 Jahre alten Kinder – und das kommt nicht oft vor – sprachlos. Sie schauten erst sich und dann mich verdutzt an und wussten ersichtlich nicht mehr, was sie sagen sollten. Nach längerem Zögern sagte eins von beiden: "Hä, das verstehe ich nicht. Wird das denn nicht sowieso gemacht. Und wenn nicht. Warum eigentlich nicht?"

Nun weiß ich nicht, ob die Organisatoren dieses Strafverteidigertages Kontakt zu meinen Kindern hatten, bevor sie das Thema auf die Agenda gesetzt haben. Jedenfalls haben sie es ebenso treffend auf den Punkt gebracht wie meine Kinder in unserer Diskussion am Frühstückstisch. Denn die Frage lautet bei unbefangener Betrachtung in der Tat:

"Dokumentationspflicht in der Hauptverhandlung – warum eigentlich nicht?"

I.

Die Antwort auf dieses "Warum?" findet sich auf den ersten Blick im Gesetz. § 273 Abs. 2 StPO verlangt so etwas Ähnliches wie ein Wortprotokoll nur für Verhandlungen vor dem Amtsgericht, für die Hauptverhandlung vor dem Landgericht gilt hingegen § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dort steht:

"Kommt es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung an, so hat der Vorsitzende von Amts wegen oder auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person die vollständige Niederschreibung und Verlesung anzuordnen."

Wir wissen alle: Aus der Sicht der Richter kommt es so gut wie nie auf die Feststellung eines Vorgangs oder gar den Wortlaut einer Aussage oder Äußerung an. Das führt dazu, dass wir nur Protokolle kennen, die Abläufe, aber keine Inhalte wiedergeben.

Nun hat sich in der Rechtspraxis gezeigt, dass die unterbleibende Protokollierung des Inhalts der Hauptverhandlung zu Urteilen führen kann, die Unrecht erzeugen, ohne dass das von dem mit der Überprüfung des Urteils befassten Revisionsgericht erkannt wird. Das geschieht immer dann, wenn in der Hauptverhandlung etwas

geschah, was nicht dem entsprach, was das Urteil darüber berichtet. Dazu ein paar Beispiele:[1]

1.

Wenn ein (Alibi-)Zeuge sagt, der Angeklagte habe sich ab zwei Uhr in seiner Gaststätte befunden, dann hat der Angeklagte Pech gehabt, wenn das Gericht den Zeugen falsch verstanden hat und im Urteil steht, er sei ab drei Uhr dort gewesen. Ob ein Zeuge sagte, die Jacke des Täters sei grau oder blau gewesen, hängt allein von der Wahrnehmung des Richters ab bzw. davon, was er dazu in sein Urteil schreibt. Kein Revisionsgericht würde sich jemals mit der Rüge befassen, das Gericht habe den Zeugen falsch wahrgenommen.

2.

Es handelt sich hier nicht um Fantasiebeispiele. In meiner Praxis – und ich vermute, Sie machen keine anderen Erfahrungen – sind die Abweichungen zumindest zwischen meinen – natürlich ebenfalls gefärbten – Wahrnehmungen von der Beweisaufnahme und dem, was ich im Urteil darüber lese, zwar selten so frappierend wie in den Beispielsfällen. In einer Vielzahl von Fällen erlebe ich es jedoch, dass im Urteil gewisse Details verschwiegen und andere hervorgehoben werden, um das gewonnene Ergebnis besser darstellen zu können. Leider geht das meist zu Lasten des Angeklagten. Freisprüche werden so gut wie nie damit angereichert. Im Gegenteil, Widersprüche in Aussagen, die die Verteidigung mühsam herausgearbeitet hat, finden im Urteil keinerlei Erwähnung. Fehlende Aussagekonstanz wird kaschiert, indem nur die Aussage

in der Hauptverhandlung wiedergegeben wird, obwohl frühere – anderslautende – Aussagen ausführlich mit dem Zeugen erörtert wurden etc. Ein Jeder von Ihnen wird weitere Beispiele dazu benennen können. Da habe ich nicht den geringsten Zweifel. Das Phänomen ist nicht hinweg zu denkender Bestandteil unseres beruflichen Alltags. Eine Aufhebung des Urteils kommt leider in keinem der Fälle in Betracht, weil sich der BGH nicht dafür interessiert, was wirklich geschah in der Hauptverhandlung.[2]

3.

Um den womöglich bei einigen von Ihnen immer noch bestehenden Verdacht auszuräumen, ausschließlich subjektiv gefärbte Erinnerungen zu referieren, will ich Ihnen auch nicht das Schulbeispiel schlechthin vorenthalten, das es dazu gibt. Gemeint ist die berühmte Schusskanalentscheidung aus dem Jahr 1991.[3] In ihr ging es darum, dass der Angeklagte einen tödlichen Schuss in den Kopf des Verstorbenen abgegeben hatte. Die Frage war: Hatte er zum Zeitpunkt der Schussabgabe gestanden oder hatte er gelegen? Letzteres hätte eine Notwehrsituation nahegelegt, ersterenfalls wäre eine Notwehrlage ziemlich unwahrscheinlich gewesen. Es existierte dazu in den Akten ein Sachverständigengutachten, das den Schusskanal so beschrieb, dass die Kugel in den Unterkiefer eingedrungen und aus der Schädeldecke ausgetreten war. Das legte den Schluss nahe, dass der Angeklagte gelegen hatte (=Notwehr). Das Gericht verurteilte ihn jedoch wegen Totschlags, weil es aus welchen Gründen auch immer annahm, die Kugel sei in die Schädeldecke eingetreten und habe den Kopf von oben nach unten durchschlagen. Das widersprach zwar dem schriftlichen Gutachten und es war wenig wahrscheinlich, dass der Gutachter in der Verhandlung etwas anderes gesagt hatte. Revisionsrechtlich war das jedoch unbedeutend. Denn nach der "reinen Lehre" hatte der Gutachter in der Verhandlung das gesagt, was im Urteil stand. Was er in Wirklichkeit gesagt hatte, war vollkommen egal. Zum Glück traf der Angeklagte im 2. Senat des BGH damals auf einen weisen Pragmatiker namens Herdegen, der die reine Lehre reine Lehre sein ließ und die Sache in einer überaus umstrittenen Entscheidung an den Tatrichter zurückverwies. Ersparen sie mir, die Begründung dafür zu referieren. Sie bedeutete einen Bruch mit dem Rekonstruktionsverbot und wurde von den im 1. und 5. Senat sitzenden Hohepriestern der reinen Lehre damals – aus ihrer Sicht durchaus zu Recht – scharf kritisiert.[4]

II.

Für das Thema unserer Diskussion sind die Beispielsfälle zunächst natürlich insoweit wichtig, als dass sie aus sich heraus beschreiben, wie bedeutsam und sinnvoll eine Protokollierung des Geschehens in der Hauptverhandlung wäre. Das hilft nur leider nicht weiter, denn es ist in unseren Strafprozessen alles andere als ausgemacht, dass etwas Sinnvolles und dem gesunden Menschenverstand Entsprechendes auch gemacht wird. Die Eigenschaften "sinnvoll" und "dem gesunden Menschenverstand entsprechend" sind nicht einmal notwendige Bedingungen, geschweige denn hinreichende, um die Praxis des Strafverfahrens zu beeinflussen. Mehr noch, es hilft ja nicht einmal der Nachweis, dass eine Dokumentation oder zumindest ein wie auch immer geartetes Instrument zur Vermeidung des oben beschriebenen Unrechts von Gesetzes wegen zwingend geboten wären. Dieser Nachweis ist nämlich längst geführt, ohne dass sich etwas geändert hätte.[5]

Dazu möchte ich Sie zunächst auf eine Erkenntnis hinweisen, die sich aus den Beispielsfällen bei der Betrachtung von § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO ergibt. Sie lautet, dass es entgegen der dem Gesetzeswortlaut zu entnehmenden Prognose des Gesetzgebers nicht möglich ist, in der laufenden Hauptverhandlung zu entscheiden, ob es "auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung" ankommt. Die Beispielsfälle zeigen im Gegenteil, dass sich in der Hauptverhandlung eine zuverlässige Aussage über die Protokollierungsbedürftigkeit einer Äußerung schlechterdings nicht treffen lässt. Das ist erst möglich, wenn das Urteil vorliegt und es zum Streit kommt darüber, was in der Hauptverhandlung wirklich geschah. Denn erst aus dem Urteil wird erkennbar, ob das Gericht eine Beweiserhebung zutreffend wahrgenommen und den Wortlaut einer Aussage richtig verstanden hat. Und in der Rückschau gilt natürlich: Wenn das Gericht der Beweiserhebung im Urteil einen anderen Inhalt gibt, wäre sie in der Hauptverhandlung protokollierungsbedürftig gewesen. Denn es wäre auf die vom Gericht in der Apperzeption (=Wahrnehmung) der Beweiserhebung nicht geleistete exakte Feststellung des Vorgangs bzw. den Wortlaut der Aussage angekommen.

1.

Diese relativ simple Erkenntnis führt zunächst zu der Frage, aus welchem Grund der Gesetzgeber § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO nicht anders fasste. Die Antwort darauf lautet, dass der historische Gesetzgeber eine ziemlich platonische Vorstellung vom Ablauf eines Strafprozesses hatte. Er meinte insbesondere, Tat- und Rechtsfragen voneinander trennen zu können. Die Vorstellung war, dass Tatsachenfeststellungen gar nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens sein könnten. § 337 Abs. 1 StPO, wonach eine Revision nur auf eine Gesetzesverletzung gestützt werden kann, diente lange Zeit als Beleg für diese These.[6] Die Vorschrift wurde so interpretiert, dass nur Rechtsfragen revisibel seien, während Tatsachenfeststellungen gar keine Rechtsfragen seien.[7] Darauf aufbauend konstruierte der historische Gesetzgeber das gesamte Revisionsverfahren. Ergebnis war, dass es keine Regeln zu einer Beweisaufnahme über den Ablauf der Hauptverhandlung und insbesondere den Inhalt der dortigen Beweiserhebungen enthält. Umgekehrt verlieh der historische Gesetzgeber dem Protokoll – ebenso platonisch – absolute Beweiskraft, soweit es wesentliche Förmlichkeiten dokumentiert.[8]

2.

Das Problem daran war und ist, dass die Annahmen falsch waren[9]. Protokolle sind nicht zwingend richtig und Tatsachenfeststellungen, die auf fehlerhafter Wahrnehmung beruhen, verletzen sehr wohl das Gesetz, und zwar § 261 StPO, manchmal auch § 267 StPO. § 261 StPO ist bei sämtlichen oben beschriebenen Beispielen verletzt. Denn die in § 261 StPO dem Richter zugebilligte "freie Beweiswürdigung" meint nicht etwa Willkür, sondern gibt dem Tatrichter einen Spielraum nur auf zutreffender Wahrnehmungsgrundlage. Das steht inzwischen außer Frage.[10] Und daraus folgt, dass das Problem nicht darin besteht, dass Wahrnehmungsfehler bzw. fehlerhafte Tatsachenfeststellungen nicht unter § 337 StPO subsumierbar sind. Das Problem ist, dass Wahrnehmungsfehler bzw. fehlerhafte Tatsachenfeststellungen im Revisionsverfahren unsichtbar bleiben.

3.

Die sich danach stellende Frage lautet, ob es tatsächlich der Wille des historischen Gesetzgebers war oder des aktuellen sein kann, derart "versteckte" Gesetzesverstöße als irreversibel hinzunehmen. Grundsätzlich wissen wir dazu heute, dass dem historischen Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts durchaus der ein oder andere Lapsus unterlaufen ist. Das beste Beispiel ist das Versäumnis im etwas jüngeren BGB, die Schlechtleistung im Schuldrecht zu regeln. Der Gesetzgeber hatte zwar Unmöglichkeit, Verzug und Mangelhaftigkeit im BGB geregelt, nicht aber die Schlechtleistung. Das wurde schon kurze Zeit nach Inkrafttreten des BGB sichtbar. Das Reichsgericht reagierte darauf sofort. Es erkannte, dass der Gesetzgeber einen Fehler begangen und ein regelungsbedürftiges Problem ungeregelt gelassen hatte. Er schlussfolgerte daraus eine Regelungslücke. Die Lücke füllte er aus mit einem Regelwerk, das sich an das Gesetz anlehnte, ohne sich dort zu finden.[11] Die juristische Methodenlehre nennt das eine Analogie.[12] Sie erhielt im konkreten Fall den Namen positive Forderungs- oder Vertragsverletzung, abgekürzt p.F.V. oder p.V.V. Wer vor der großen Zivilrechtsreform studiert hat, die uns Älteren dieses Instrument – und damit im Grunde unser ganzes Wissen über das Schuldrecht – geraubt hat, der weiß, wie sehr diese Analogie das Schuldrecht beherrscht hat. Die Herrschaft hatte hundert Jahre angedauert, bis die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin entschied, die bis dahin ausgebildeten Juristen unendlichen Qualen auszusetzen, indem sie ihnen abverlangte, für selbstverständlich Gehaltenes neu zu lernen. Ich habe ihr das bis heute nicht verziehen. Neulich habe ich gelesen, dass der Schauspieler Ulrich Matthes, Sie wissen, der Bösewicht aus dem Tatort aus Wiesbaden mit den 50 Leichen, sie für das Dschungelcamp vorgeschlagen hat.[13] Ich unterstütze diesen Vorschlag!

III.

Bei der beschriebenen Ausgangslage drängt sich natürlich die Frage auf, ob den Folgen der unterbleibenden Dokumentation der Hauptverhandlung nicht ebenfalls mit einer Analogie oder einem anderen rechtsfortbildenden Instrument begegnet werden muss. Mit anderen Worten: Bedarf es einer rechtsfortbildenden Maßnahme, um versteckte Gesetzesverstöße für das Revisionsgericht sichtbar zu machen? Die Antwort darauf hängt zum einen davon ab, ob es überhaupt erlaubt wäre, eine Analogie zu bilden oder das Recht auf andere Art und Weise zu gestalten. Zum anderen kommt es darauf an, ob es sich tatsächlich um eine ungewollte Regelungslücke handelt. Wenn diese Hürden übersprungen werden können, ist es freilich nicht nur eine Möglichkeit, das Recht fortzubilden. Es ist eine Pflicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

1.

Die erste Frage ist problemlos zu beantworten. Wir müssen keine Angst haben vor dem im Strafrecht immer wieder auftauchenden Analogie- oder Rechtsfortbildungsverbot, denn das gilt nicht im Strafprozessrecht, jedenfalls nicht in dem hier in Rede stehenden Bereich. Es wäre also ohne weiteres möglich, eine Analogie zu bilden oder auf andere Weise rechtsfortbildend aktiv zu werden.

2.

Die zweite Frage lässt sich im Grunde genau so leicht beantworten. Wer wirklich meint, der historische Gesetzgeber habe Urteile vor der Aufhebung bewahren wollen, die auf fehlerhaften Wahrnehmungen der urteilenden Richter beruhen, der möge nach meinem Vortrag a. die Hand heben und b. sogleich begründen, warum er meint, der Gesetzgeber habe das so gewollt. Er wird das nicht können, denn es kann schlechterdings keinen Grund geben, bestimmte Gesetzesverstöße hinzunehmen, von der Überprüfung durch das Revisionsgericht auszuschließen und einen Angeklagten auf diese Weise der Willkür des Wahrnehmungsfilters der über ihn urteilenden Richter auszusetzen. Und selbst wenn der historische Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts das genau so gewollt haben sollte. Sein Wille wäre inzwischen unmaßgeblich.[14] Spätestens seit Inkrafttreten des Grundgesetzes würde es nicht nur gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG verankerten Gleichheitssatz verstoßen, einzelne Gesetzesverstöße für unangreifbar zu erklären, andere aber nicht. Die Entscheidung würde überdies Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Dieses Grundrecht gibt einem Angeklagten einen Anspruch auf die Effektivität des Rechtsmittels. Der Gesetzgeber ist danach zwar nicht verpflichtet, Rechtsmittel gegen jede Entscheidung zuzulassen. Wenn er das aber macht, muss er es effektiv ausgestalten und darf es nicht leerlaufen lassen.[15] Diesem Anspruch wird die Duldung von Verstößen gegen § 261 StPO ohne Überprüfungsmöglichkeit durch das Revisionsgericht ganz sicher nicht gerecht.

3.

Es ist danach unbestreitbar, dass der Gesetzgeber das Revisionsverfahren mit Blick auf die notwendige Überprüfung von Verstößen gegen § 261 StPO unzureichend ausgestaltet hat. Es kann ausgeschlossen werden, dass der Gesetzgeber in Kauf nehmen wollte oder das auch nur dürfte, die beschriebenen Gesetzesverstöße der Überprüfung durch die Revision zu entziehen. Es liegt eine Regelungslücke vor, die der Rechtsanwender mit Hilfe einer Analogie oder auf andere rechtsfortbildende Art und Weise schließen darf und muss, ohne dass dies gegen höherrangiges Recht verstoßen würde. Und um es ganz deutlich zu sagen: Würden der BGH oder das BVerfG z.B. auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung von § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO das Problem dadurch lösen, dass sie vorgeben, Hauptverhandlungen vor den Landgerichten vollständig auf Video aufzuzeichnen; die Diskussion zur Dokumentation der Hauptverhandlung wäre mit einem Federstrich beendet.

IV.

Nun sind die vorbeschriebenen Folgerungen nicht etwa Ergebnis hochkomplizierter Abstraktionen und Deduktionen unter Zuhilfenahme logischer Methoden fremder Wissenschaften wie der Mathematik, die es in unsere Wissenschaft zu übertragen gälte. Nein, sie sind das Ergebnis simpler Überlegungen, die dem gesunden Menschenverstand entspringen und nicht mehr als im ersten Semester eines Jurastudiums vermittelte Grundkenntnisse der juristischen Methodenlehre verlangen. Sie liegen sprichwörtlich auf der Hand. Und dennoch hält der BGH unverrückbar an seiner Rechtsprechung fest. Das erinnert durchaus an die Haltung der katholischen Kirche zum Zölibat, zur Empfängnisverhütung oder zur Unverbrüchlichkeit der Ehe. Und die Frage ist: Warum ist das so?

1.

Der BGH verteidigt den Status quo gegen jeden Angriff mit großer Vehemenz. Er trägt die Aussage, ihn interessiere nicht, was in der Hauptverhandlung geschehen sei, mit dem "Rekonstruktionsverbot" wie eine Monstranz vor sich her. Er behauptet sogar, es sei ihm verboten, in der Revisionsinstanz Beweis zu erheben etwa über den Inhalt einer Aussage. Er postuliert damit nichts Geringeres als die Existenz eines Beweiserhebungsverbotes in der Revisionsinstanz, das es in der Tatsacheninstanz so gut wie nicht gibt, in der Revisionsinstanz der Erforschung der Wahrheit aber unüberwindbar entgegenstehen soll. Freilich findet sich in der StPO nicht nur keine Vorschrift, die ein Beweiserhebungsverbot in der Revisionsinstanz postuliert. Es wäre überdies ein völlig unsinniges Verbot. Mit Blick auf die oben gezogene Parallele zur p.V.V. wäre das in etwa so, als hätte das Reichsgericht damals gesagt: "Der Gesetzgeber hat die Schlechtleistung nicht geregelt. Daraus ergibt sich für Schuldner ein Schlechtleistungsprivileg und die Gläubiger müssen hinnehmen, dass die Gerichte im Falle einer Schlechtleistung keinen Schadensersatz zusprechen können." Sie mögen dieses Beispiel als lächerlich empfinden, aber es beschreibt exakt den Zustand, den wir täglich erleben. Denn uns sagt der BGH – ich formuliere das mal für einen der Beispielsfälle: "Die Frage, ob der Zeuge dem Angeklagten ein Alibi für zwei Uhr oder erst für drei Uhr gab, beantwortet sich abschließend nach den tatrichterlichen Feststellungen, die im Urteil niedergelegt sind. Was der Zeuge wirklich gesagt hat, ist nicht wichtig. Denn es entzieht sich der Überprüfung durch das Revisionsgericht, ob der Zeuge gesagt hat, was im Urteil steht. Das lässt sich mit den `Mitteln des Revisionsrechts´ nicht feststellen. Und außerhalb dieser Mittel verbietet es das Rekonstruktionsverbot, den Inhalt der Aussage im Revisionsverfahren zu überprüfen." Das hört sich vielleicht etwas abgehobener an als ein "Schlechtleistungsprivileg", inhaltlich ist es aber nichts anderes. Und dennoch ist es genau das, was uns der BGH seit Jahr und Tag sagt, wenn wir die Feststellungen eines Urteils angreifen.

2.

Es ist auch nicht etwa so, dass der BGH nicht über diesen untragbaren Zustand informiert wäre. Der leider verstorbene Rechtsgelehrte Fezer führte bereits Anfang der 90er Jahre die Überlegung in die Diskussion ein, dass der Gesetzgeber zwei miteinander unvereinbare Postulate im Revisionsverfahren verankert hatte, und zwar einerseits eine fehlende Beweisaufnahme im Revisionsverfahren und andererseits die konsequente Aufhebung von Urteilen, die auf Gesetzesverstößen beruhen. Daraus leitete er die Forderung nach vollständiger Aufklärung des Geschehens in der Hauptverhandlung durch das Revisionsgericht ab,[16] was in der Endkonsequenz die Dokumentation der Hauptverhandlung verlangen würde. Das wurde vom BGH ignoriert. Ich habe dann 2005 in der ZStW vorgeschlagen, einen Mittelweg zu gehen und für eine zulässige Revisionsrüge eine Glaubhaftmachung der fehlerhaften oder unzureichenden Wiedergabe des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu verlangen. Das entsprach in etwa dem, was der BGH heute beim Protokollberichtigungsverfahren – nahezu ausschließlich zum Nachteil des Angeklagten und, noch schlimmer, ohne mich zu zitieren – macht. Darüber sprach ich anlässlich einer zufälligen Begegnung bei der Verabschiedung meines Doktorvaters aus dem universitären Dienst mit dem damaligen Vorsitzenden des 3. Senats und späteren Präsidenten des BGH, Prof. Tolksdorf. Er ist Honorarprofessor an meiner Alma Mater, der Uni Münster, wir saßen zufällig an einem Tisch. Er sagte zu meiner Überraschung, er habe den Aufsatz gelesen. Mein Lösungsvorschlag sei aber nicht praktikabel. Ich dachte, immerhin scheint die grundsätzliche Kritik nicht ganz falsch zu sein und hätte darüber gern mit ihm diskutiert. Er wechselte aber das Thema und der Respekt vor einem Senatsvorsitzenden beim BGH gebot es, nicht weiter zu insistieren. Sie kennen das, wenn Sie schon einmal beim BGH verhandelt haben, oder? Danach habe ich nur noch von Wenigen gehört, die sich mit den Überlegungen von Fezer oder mir befasst haben.[17]

3.

Nicht erst seit meinem kurzen Gespräch mit Herrn Tolksdorf beschäftige ich mich mit der Frage, warum weder der BGH noch der Gesetzgeber nach einer Lösung für den durch und durch untragbaren Zustand suchen, dass nicht das gesprochene Wort eines Zeugen, sondern das Wahrnehmungsvermögen der Richter über das Schicksal eines Angeklagten entscheiden. Inzwischen glaube ich die Ursache zu kennen und habe mich damit abgefunden, dass auch in der Juristerei die gleichen Kräfte wirken wie im sonstigen Leben auch. Und danach beantwortet sich die Frage ganz einfach: Denen, die es ändern könnten, nutzt es nichts. Wir müssen einfach nur einen Perspektivwechsel vollziehen, um zu begreifen, was – nicht – geschieht. Aus dieser Perspektive lautet die Frage ganz anders, und zwar:

"Dokumentationspflicht in der Hauptverhandlung – warum eigentlich?"

a)

Welches Interesse sollten z.B. Richter an Landgerichten haben, den Zustand zu ändern? Es ist doch wunderbar bequem, sich bei seiner Wahrnehmung leiten zu lassen von dem, was man nach dem Akteninhalt im Grunde sowieso schon weiß, um ausgehend davon der Beweisaufnahme zu folgen und es im Urteil so aufzuschreiben, wie es verstanden wurde. Das muss gar kein böser Wille sein, wenngleich – zumindest nach meiner Wahrnehmung – die meisten Richter geradezu kämpfen für ihre nach Aktenlage gewonnene Überzeugung, statt nach der Wahrheit zu suchen. Es ist auch viel bequemer, und die Gefahr, vom BGH aufgehoben zu werden, reduziert sich ganz erheblich, wenn der Nachvollzug des Geschehens in der Hauptverhandlung unmöglich ist. Kein Richter am LG wird deshalb jemals darauf hinwirken, dass sich am bestehenden Zustand etwas ändert. Warum sollte er?

b)

Für die Richter am BGH – siehe Tolksdorf – wäre es eine Katastrophe, wenn sie sich auch noch mit Rügen befassen müssten, die unrichtige Wiedergaben des Ergebnisses der Beweisaufnahme im Urteil behaupten. Wenn die beim BGH tätigen Richter wirklich alle Urteile, Revisionen und Anträge des GBA lesen und verinnerlichen, die im jeweiligen Senat landen, dann haben sie – und das meine ich wirklich so – bereits jetzt wahrlich genug zu tun. Ich weiß offen gesagt gar nicht, wie die das machen. Wenn ich mich mit einem Urteil eines LG intensiv befasse und eine Revisionsbegründung schreibe, dann beschäftigt es mich Tage. Ich muss das Urteil mehrmals lesen, um es in seiner Architektur zu begreifen und Fehler zu finden. Bisweilen entdecke ich erst beim vierten oder fünften Lesen Details, die ich angesichts der sonstigen Plausibilität der Erzählung zu meiner eigenen Überraschung zunächst überlesen habe. Und das Verfassen der Revisionsbegründung ist noch aufwändiger. Würde ich nur Revisionsrecht machen, könnte ich maximal fünf oder sechs Aufträge im Monat annehmen, das wären unter Berücksichtigung von Urlaub etc. maximal 60 Sachen im Jahr. Bundesrichter bearbeiten hingegen selbst

als Berichterstatter über hundert Sachen im Jahr, müssen die Voten in ihren Sachen schreiben, nehmen an sage und schreibe 500 Urteilsberatungen teil, veröffentlichen sehr rege und bringen sich rechtspolitisch ein. Mehr als eine Plausibilitätsprüfung dürfte da kaum möglich sein. Warum also sollten BGH-Richter daran interessiert sein, die – ich nenne das mal so – Apperzeptionsrüge zuzulassen, die vor allem zusätzliche Arbeit bedeuten würde?

c)

Vom Bundesverfassungsgericht ist leider auch nichts zu erwarten. Die Zeiten, in denen ein Professor Hassemer sich darum bemühte, Rechte von Angeklagten zu stärken, sind lange vorbei. Ich habe mir die Mühe erspart, die letzte die Rechte eines Angeklagten stärkende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu eruieren. Erst vor einigen Wochen hat er sich gegen den EGMR gestellt, indem er es für zulässig erklärte, von verdeckten Ermittlern angestiftete Straftaten zu bestrafen.[18]

d)

Es bliebe noch der Gesetzgeber. Ihn betreffend möchte ich zunächst auf den Beitrag des Vorsitzenden des 2. Senats beim BGH, Thomas Fischer, in der ZEIT verweisen. In seiner dortigen Kolumne berichtete er unlängst über eine Expertenanhörung in einem Bundestagsausschuss.[19] Es ist herrlich zu lesen, wie ahnungslos die Abgeordneten (= unsere Gesetzgeber) offenbar sind, um ebenso selbstbewusst wie frei von Sachkenntnis möglichst populistische Entscheidungen zu treffen. Sie beschäftigen sich lieber mit scheinbaren Lücken im Sexualstrafrecht, weil das eher geeignet scheint, den mutmaßlichen Wählerwillen zu bedienen. Daneben gilt: Reformen gegen den BGH, wenn sie von Strafverteidigern gefordert werden, scheitern schon daran, dass die Falschen sie fordern. Unser Verlangen, eine Dokumentation der Hauptverhandlung einzuführen, wird schon deshalb ungehört bleiben. Dabei bin ich mir sicher, dass – spontan befragt – 100 % der Abgeordneten sofort zustimmen würden, wenn sie gefragt würden, ob sie eine Dokumentation der Hauptverhandlung sinnvoll fänden. Es fragt sie nur keiner, weil auf dem Weg zur Frage so viele interessengesteuerte Einflüsse die Fragestellung verhindern. Das ist die traurige Realität.

V.

Abstrahiert bedeutet das, dass die in einem System der Gewaltenteilung notwendigen Kontrollmechanismen in der Strafjustiz schlicht versagen. Nicht nur die Rechtsprechung des BGH zur Dokumentation der Hauptverhandlung unterliegt in Wirklichkeit keiner Kontrolle, weder durch die Legislative, noch durch die Exekutive. Die Strafjustiz hat sich vielmehr längst verselbstständigt. Es haben sich dort Strukturen entwickelt, die man im politischen Bereich Filz und gegenseitige Protektion nennen würde. Eine wirksame Kontrolle findet schlicht nicht statt. Der BGH entscheidet vielmehr selbst, maximal noch im Einvernehmen mit der Abteilung Strafrecht im Bundesjustizministerium, wie der Strafprozess auszugestalten ist. Wer das nicht glaubt, sollte neben der unterbleibenden Dokumentation der Hauptverhandlung § 257 c StPO in den Blick nehmen. Der BGH hat dem Gesetzgeber die Vorschrift nachgerade in die Feder diktiert. Dabei gab der Gesetzgeber grundlegende Prinzipien unseres Strafprozesses auf, ohne auch nur ansatzweise zu begreifen, was das eigentlich bedeutet. Und das führt schlussendlich zum Kern des Problems: Die Strafjustiz setzt ihr eigenes Recht, das sich nicht ausrichtet an Gerechtigkeit oder wenigstens gesundem Menschenverstand, sondern an den Bedürfnissen der Richter. Die fehlende Dokumentation der Hauptverhandlung ist leider nur ein Beispiel. Um das zu unterstreichen, noch ganz kurz was folgt:

1.

Haben Sie schon einmal einen Richter wegen Befangenheit abgelehnt? Vermutlich haben Sie das schon einmal getan. Sie wissen deshalb: Nirgends wirken Filz und gegenseitige Protektion in der Strafjustiz so sehr wie nach einem Ablehnungsantrag. Es geht schon damit los, dass ausgerechnet die abgelehnten Richter – erneut in Ermangelung der Dokumentation der Ereignisse in einer Hauptverhandlung – die Deutungshoheit über das haben, was gerade geschehen ist. Sie schreiben – oftmals neben der völlig unsinnigen Bemerkung, sie hielten sich nicht für befangen – in ihrer dienstlichen Erklärung auf, was sich aus ihrer Sicht zugetragen hat. Und egal, wie es wirklich war: Wer die Redlichkeit der Richter bei der Rekonstruktion des Geschehenen auch nur in Frage stellt, muss damit rechnen, selbst vor Gericht gezerrt zu werden, wie das Beispiel Stefan Lucas aus Augsburg zeigt – wenn auch in anderem Zusammenhang.[20] Richter und Staatsanwälte stehen dabei stets in einer Front geschlossen zusammen, schließlich will keiner beim nächsten Betriebsausflug oder in der Kantine allein am Tisch sitzen. Entschieden wird über das Gesuch ausgerechnet von den sonstigen Mitgliedern der Kammer, der der abgelehnte Richter angehört. Sie arbeiten den ganzen Tag mit ihm zusammen, sind oftmals per Du, werden womöglich demnächst wieder vom abgelehnten Vorsitzenden beurteilt und sind schon deshalb Teil der Front gegen den Befangenheitsantrag. Es nutzt dann auch nichts, alle Mitglieder der Kammer abzulehnen. Denn reicht die Anzahl der Kammermitglieder nicht aus, sind – den "Zufälligkeiten" von Geschäftsverteilungsplänen geschuldet – gewöhnlich ausgerechnet die jüngsten Richter der Vertreterkammern zuständig. Besondere Tapferkeit ist von denen nicht zu erwarten. Dabei wäre nichts naheliegender, als mit einer derartigen Aufgabe erfahrene und am Ende ihrer Karriere angelangte Richter zu befassen, am besten aus einem anderen Gericht, noch besser aus einem anderen Bundesland oder einer anderen Gerichtsbarkeit. Gedeckt und gestützt wird das Ganze vom BGH, der das Erwiesensein der die Ablehnung begründenden Umstände verlangt,[21] einen Richter nicht einmal dann für

befangen hält, wenn er ein Urteil von ihm aufgehoben hat und derselbe Richter an dem erforderlich gewordenen Verfahren erneut teilnehmen soll[22] und den Rest über § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erledigt. Das ist alles so lächerlich, dass es fast schon Unterhaltungswert hat. Mit gesundem Menschenverstand hat das nicht mehr das Geringste zu tun.

2.

Ich könnte noch eine Vielzahl weiterer Beispiele benennen, in denen sich die Strafjustiz verselbstständigt und meilenweit vom gesunden Menschenverstand entfernt hat. Als Stichworte benenne ich das Beweisantragsrecht, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, Beschlüsse nach § 349 Abs. 2 StPO, die Praxis bei der Beiordnung von Pflichtverteidigern, die Entwicklung der Verfahrensrügen und den Ablauf von Hauptverhandlungen beim BGH. Letztere haben mit dem Begriff "Verhandlung" nicht sonderlich viel zu tun, sondern sind – so jedenfalls habe ich das in meinen bislang 10-15 Besuchen dort erlebt – Pflichtveranstaltungen, die nur durchgeführt werden, weil sie nach dem Gesetz unerlässlich sind. Ich könnte darüber einen ähnlichen Beitrag schreiben wie Thomas Fischer über die Expertenanhörung im Bundestagsausschuss. Das kennen Sie aber alles bestens und ich will Sie damit nicht weiter behelligen.

3.

Was Sie aber noch nicht wissen, ist, wie die Diskussion an unserem Frühstückstisch ausging. Ich will es Ihnen verraten: Natürlich habe ich versucht, die durch und durch vertrackte Situation zu erläutern. Meine Familie war danach mit mir versöhnt. Doch dann stellte mir mein Sohn die Frage aller Fragen, die ein Sohn seinem Vater stellen kann. Er wollte wissen, ob ich ihm zu einem Jura-Studium raten könne. Er sei naturwissenschaftlich weder interessiert noch begabt und wisse nicht, was er sonst studieren solle. Ich hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen und wusste zunächst nicht, was ich sagen sollte. Sie werden wissen oder zumindest erahnen, welche Konflikte diese Frage in mir auslöste. Wie will man einem 15-jährigen begreiflich machen, welche Höhen und Tiefen das Berufsleben eines Juristen mit sich bringt, noch dazu eines Strafverteidigers? Schlussendlich entschied ich mich, meinen Lieblingsdichter und –philosophen Goethe zu zitieren und meinem Sohn dessen Meinung zur Juristerei, die sich der gelernte Jurist vor mehr als 200 Jahren gebildet hat, kund zu tun. Bei unserem großen Dichterfürsten wenig verwunderlich: Sie ist noch heute zutreffend. Goethe ließ seinen Mephisto sagen, was er von der Juristerei hielt. Er tat das im ersten Teil des Faust, in dem ein angehender Student den Gelehrten Faust fragen will, was er studieren soll. Mephisto verkleidet sich in dieser Szene als Faust und erklärt dem ahnungslosen jungen Mann in diabolischen Worten, was von der Juristerei zu halten sei. Das kleine Gedicht passt so hervorragend zur fehlenden Dokumentation der Hauptverhandlung, dass ich mit ihm meine Ausführungen beschließen will. Mephisto sprach:[23]

Es erben sich Gesetz und Rechte,

wie eine ew´ge Krankheit fort;

sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte

und rücken sacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage:

Weh´ Dir, dass Du ein Enkel bist!

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

von dem ist leider nie die Frage.


* Der Text ist das Manuskript eines Referats, das zum 39. Strafverteidigertag in Lübeck gehalten wurde.Ausführlich zum Thema Wilhelm ZStW 2005 (117), 143 ff.; vgl. dazu auch das Co-Referat von Altenhain, Dokumentationspflicht im Ermittlungsverfahren Warum eigentlich nicht? ZIS 2015, S. 269.

[1] Zahlreiche Beispiele bei Schlothauer StV 1992, 134, 138.

[2] Vgl. nur BGHSt 2, 63, 66; 7, 363, 370; 15, 347; 21, 149; 21, 371; 29, 21; 43, 12; BGH NStZ 1996, 326; 2004, 392. Zahlreiche weitere Nachweise bei Sander, in: Löwe-Rosenberg, Kommentar zur StPO, 26. Aufl. (2013), § 261, Rn. 173 ff.

[3] BGH StV 1991, 500.

[4] BGH NJW 1991, 2840 (1. Senat); NJW 1992, 2838 (5. Senat).

[5] Ausführlich Wilhelm ZStW 2005 (117), 143 ff.; vgl. auch ders. StV 2012, 74.

[6] Vgl. dazu Rieß GA 1978, 257.

[7] So noch Foth NStZ 1992, 444, 446.

[8] § 274 StPO.

[9] Vgl. Maul, FS Pfeiffer, 1985, 409, 420.

[10] Fezer StV 1995, 95.

[11] RGZ 57, 105, 113; vgl. dazu Weid, Antizipierter Vertragsbruch (2008), S. 93 ff.

[12] Zippelius , Juristische Methodenlehre, 8. Aufl. (2003), S. 68 f.

[13] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/schauspieler-ulrich-matthes-im-interview-zum-dschungelcamp-13363270-p2.html.

[14] Vgl. dazu Wilhelm ZStW 2005 (117), 143.

[15] Beschluss vom 15. Juli 2010 - 2 BvR 1023/08 = HRRS 2010 Nr. 651.

[16] Fezer , in: Udo Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, 1991, S. 94, 95.

[17] Vgl. aber auch Krehl ZIS 2006, 168, 170, Ventzke HRRS 2010, 461, Malek StV 2011, 559, 563 und Geipel, StraFo 2010, 272, 273. Etwas ausführlicher befasst sich die inzwischen dem 2. Strafsenat angehörige Richterin am BGH Bartel in ihrer Dissertation "Das Verbot der Rekonstruktion der Hauptverhandlung", 2014, S. 122 ff. damit. Ihre Kritik (S. 124 f.), es sei dem Revisionsführer mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht abzuverlangen, Fehler bei der Abbildung des Beweisergebnisses glaubhaft zu machen, verbessert den Grundrechtsschutz des Revisionsführers allerdings nicht wirklich; denn es ist mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG ganz sicher besser für den Betroffenen, die Rekonstruktion der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren zu ermöglichen, als Beweiserhebungen darüber wegen eines von der Rechtsprechung erfundenen Rechtssatzes generell zu versagen. Im Übrigen unterliegt Bartel einem Missverständnis, wenn sie meint, die Glaubhaftmachung reiche nach meiner Auffassung aus, um ein Urteil zu Fall zu bringen. Sie soll das Revisionsgericht lediglich verpflichten, jede aus seiner Sicht notwendige Beweiserhebung zur Aufklärung durchzuführen. Die Dokumentation der Hauptverhandlung würde damit einher gehende Probleme ohnehin im Wesentlichen erledigen.

[18] Beschluss vom 18. Dezember 2014 - 2 BvR 209/14, 2 BvR 240/14, 2 BvR 262/14 = HRRS 2015 Nr. 85.

[19] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/sexuelle-gewalt-sexualstrafrecht.

[20] http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/anwalt-freigesprochen-kein-hau-den-lucas-in-augsburg/

[21] BGH, Beschluss vom 30.01.2001, 3 StR 514/00.

[22] BGH NStZ 1981, 298.

[23] Faust: Der Tragödie erster Teil, Studierzimmer (Mephistopheles).