HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2015
16. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Neue strafrechtliche Antworten auf den Kampf um das gemeinsame Kind

Anmerkung zu BGH, Beschl. vom 17. September 2014, Az.: 1 StR 387/14 = HRRS 2014 Nr. 1087

Von Priv.-Doz. Dr. Lutz Eidam, LL.M., Tübingen/Frankfurt am Main

I. Ein Vater beschließt nach jahrelangen Ehestreitigkeiten, die Mutter seiner beiden Kinder in die Türkei zurück zu ihrer Familie zu "entsorgen", während die beiden gemeinsamen Kinder bei ihm in Deutschland bleiben sollen. Als er dieses Vorhaben seiner (Noch-)Frau eröffnet, ist diese – zurückhaltend gesagt – "not amused" und weigert sich, seinen Plänen Folge zu leisten. Daraufhin bedroht sie der Vater für den Fall ihres Verweilens in Deutschland mit dem Tode. Die Mutter nimmt diese Drohung ernst und besteigt aufgrund dessen und gegen ihren ausdrücklichen Willen ein Flugzeug in die Türkei. Sie kehrt erst Monate später wieder nach Deutschland zurück.

Diese Verfahrenstatsachen hinterlassen beim Leser eine aufgerüttelte Stimmung. Man empfindet zunächst Empörung, was sich nach abermaligem Nachdenken dann in großes Mitleid für die betroffene Frau, aber auch für die Kinder wandelt. Auch wenn oftmals und mit gutem Grund die Tendenz vertreten wird, das Strafrecht sollte eher zurückhaltend mit innerfamiliären Konflikten umgehen, sollte sich so weit wie möglich raushalten, so handelt es sich hier doch zweifelsohne um einen Fall, in den sich das Strafrecht einmischen muss.

II. Die rechtlichen Probleme des Falles kreisen um einen Tatbestand, der aufgrund seiner geringen praktischen Relevanz eher selten[1] Gegenstand der obergerichtlichen Revisionsrechtsprechung ist: § 235 StGB, die Entziehung Minderjähriger.

1. Zunächst aber einige Worte zu all dem, was hier unproblematisch ist. Unproblematisch ist es sicherlich, den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) zu bejahen. Die ausgesprochene (Todes-)Drohung gegenüber der Mutter und der daraufhin erzielte Nötigungserfolg der Ausreise erfüllen den Tatbestand der Nötigung ohne Wenn und Aber. Auch hinsichtlich der Verwerflichkeitsregelung des § 240 Abs. 2 StGB besteht keinerlei Diskussionsbedarf, so dass dem BGH hier beizupflichten ist, wenn er die Ausführungen zur Nötigung mit nur einem feststellenden Satz angenehm kurz hält.

2. Dreh- und Angelpunkt des Beschlusses sind deswegen und mit einiger Berechtigung die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB.

a) Der BGH thematisiert kurz die Frage, inwieweit § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB überhaupt auf eine Auseinandersetzung zwischen zwei sorgeberechtigten Elternteilen (über leichte Unsicherheiten bzgl. des Sorgerechts des Angeklagten konnte der BGH getrost hinweggehen) anwendbar sein kann. Anlass hierfür bietet der Umstand, dass der "eigentliche" Anwendungsbereich von § 235 StGB erst einmal die Fälle umfassen sollte, in denen Außenstehende in das Personensorgerecht der Erziehungsberechtigten eingreifen.[2] Allerdings sind solche Fragen nur scheinbar problematisch. Es entspricht vielmehr – worauf der BGH zutreffend hinweist – der überwiegenden Meinung, dass § 235 StGB im Verhältnis zwischen zwei (mit-)sorge-berechtigten Elternteilen anwendbar ist.[3] Das

ergibt sich nicht nur aufgrund des mittlerweile geänderten Wortlauts der Vorschrift ("einem Elternteil")[4], sondern auch aufgrund der Schutzbedürftigkeit des Sorgerechts eines jeden Berechtigten, was als primär geschütztes Rechtsgut bei § 235 StGB im Vordergrund steht (zu Letzterem sogleich noch einmal). Einer solchen Sicht der Dinge pflichtete übrigens auch schon das Reichsgericht bei, wenn es für § 235 StGB die folgende – aus heutiger Sicht freilich in der Sprache gewöhnungsbedürftige – Grundregel betont: "Wer mit einem anderen nur gemeinschaftlichen Besitz hat, macht sich der widerrechtlichen Besitzentziehung auch dann schuldig, wenn er den Mitbesitz des anderen verdrängt."[5]

b) Man gerät bei der Frage nach dem Tatobjekt, also der Frage, gegen wen sich die Tat eigentlich richten muss, dann aber erstmalig ins Stocken. Anerkannt ist für § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB, dass Tatobjekt bzw. Tatopfer[6] hier ein Minderjähriger unter 18 Jahren ist.[7] So meint man zumindest den Gesetzestext lesen zu müssen. Die natürliche Lesart des Gesetzes legt es dann irgendwie auch nahe, dass das tatbestandliche Szenario von § 235 StGB davon ausgeht, man würde Hand an das Kind legen und es an einen anderen Aufenthaltsort oder dergleichen bringen. Das war im hiesigen Fall aber gerade nicht so. Hier wurde vielmehr die Mutter als sorgeberechtigter Elternteil durch Einwirkungen des Täters an einen anderen Ort verbracht. Allerdings erweist sich der genaue dogmatische Zuschnitt der hier an die Oberfläche kommenden Unstimmigkeit bei genauerem Hinsehen nicht als ein Problem des Tatobjektes bzw. des Tatopfers. Das eigentliche Problem liegt vielmehr bei der Tathandlung.

c) Einschlägige Tathandlung ist im konkreten Fall das Merkmal des Entziehens. Führt man das zum Tatobjekt Gesagte nun weiter, so ist zu konstatieren, dass der Tatbestand des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB in seiner Tatvariante des Entziehens nach herkömmlicher Lesart all die Fälle erfasst, in denen ein Minderjähriger von einem (oder beiden) Elternteilen entfernt wird.[8] Hier haben wir aber nun – wie schon beim Tatobjekt erkannt wurde – den entgegengesetzten Fall: Ein Elternteil wird von dem bzw. den Minderjährigen entfernt. Lässt sich eine solche Tat unter § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB subsumieren, ohne dabei die Grenzen von Wortlaut und Telos der Vorschrift zu verletzten?

Der BGH meint, dies sei möglich. Und um eine Bewertung hier gleich einmal vorwegzunehmen: Der Entscheidung ist zuzustimmen, auch wenn sie sich doch eher im äußeren Grenzbereich von § 235 StGB bewegt.

aa) Zunächst: Dass jedwede grammatikalische Auslegung eines Tatbestandsmerkmals neben der Terminologie des Gesetzes zumeist auch einen gewissen Kontext zu berücksichtigen hat, in dem die entsprechende Strafnorm ihr Dasein fristet, ist unbestreitbar.[9] Das wird beim Merkmal des Entziehens überdeutlich, wenn man sich einmal vergegenwärtigt, wie die ganz herrschende Ansicht und allen voran die Rechtsprechung des BGH dieses Merkmal seit jeher verstanden wissen will. Ein Entziehen soll immer dann zu bejahen sein, wenn das Personensorgerecht (d.i. das Recht zur Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung des Minderjährigen; vgl. § 1631 BGB) durch räumliche Trennung für eine gewisse, nicht nur ganz vorübergehende Dauer derart beeinträchtigt wird, dass es nicht mehr ausgeübt werden kann[10] (so auch der BGH im hier zu besprechenden Beschluss). Aus alledem resultiert, dass eine Definition des Entziehens eigentlich nicht existiert.[11] Stattdessen soll die Tathandlung stark rechtsgutsbezogen zu verstehen sein, was sich daran zeigt, dass jedwedes Entziehen im Sinne der Vorschrift alleine und für sich betrachtet an der Beeinträchtigung des Personensorgerechts zu messen ist.[12] So schließt sich also der Kreis zum primär für § 235 StGB relevanten Rechtsgut[13], das damit im Kern die "strafrechtliche Flankierung des Kampfs um das Kind"[14] zusammen mit dem grammatikalischen Verständnis des Wortes "Entziehen" für die hier einschlägige erste Variante des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB ausmacht.

bb) Der BGH gibt nun in seinem aktuellen Beschluss zu verstehen, dass sich das "Entziehen eines Elternteils" durch die Nötigung desselben zur Ausreise unproblematisch in das dargelegte Verständnis des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB einfügt und mit dem Entfernen eines Kindes vom Elternteil gleichzusetzen sei. Hierzu verweist der Senat auf eine Auswahl von Literaturstellen. Geht man diesen Zitaten nach, findet man allerdings keineswegs die hier entschiedene Konstellation, so wie man es zunächst vermuten würde. Auffindbar ist aber eine der Sache nach weiterführende Konstellation. So heißt es in den aufgeführten Literaturstellen, es sei für das Merkmal des Entziehens gleichgültig, ob der Minderjährige an einen Ort verbracht werde, an dem er dem Einfluss der Eltern entzogen ist, oder ob der Erziehungsberechtigte (etwa durch Einsperren) von einem Zutritt zum Kind ausgeschlossen werde.[15] Anders ausgedrückt: Für ein Entziehen soll es unerheblich sein, ob die erforderliche räumliche Tren-

nung durch das Entfernen des Kindes erfolgt oder umgekehrt ein Personensorgeberechtigter daran gehindert wird, zu seinem Kind zurück zu kommen.[16] An diesem Punkt der Überlegung angelangt ist es dann nur noch eine kurze Wegstrecke hin zur Überlegung, dass der Ausschluss eines Zutritts zum eigenen Kind bzw. die Hinderung, das Kind räumlich aufzusuchen, qualitativ mit einem Verbringen eines Sorgeberechtigten an einen anderen Ort, etwa durch Nötigung zur Ausreise, vergleichbar ist. Erleichtert wird diese Argumentation zusätzlich noch durch den Umstand, dass es bei § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB seit jeher unerheblich ist, ob die Nötigungsmittel Gewalt, Drohung oder List gegenüber dem Kind, gegenüber einem Sorgerechtsberechtigten oder gegenüber Dritten angewandt werden.[17] Im Ergebnis fügt sich die Line des BGH deshalb in die für § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgegebene rechtsgutsorientierte Betrachtung ein und beachtet zudem auch (noch) die grammatikalischen Grenzen der Wendung des Entziehens.

3. Den zweiten amtlichen Leitsatz der Entscheidung hat schließlich noch das Konkurrenzverhältnis zwischen § 235 StGB und § 240 StGB hervorgebracht, zu dem sich der BGH abschließend äußert. An dieser Stelle kommt das zutreffende Verständnis zum Ausdruck, dass es Frage des Einzelfalls sein sollte, in welches Konkurrenzverhältnis die Nötigung zur Entziehung Minderjähriger tritt. Erschöpft sich der Nötigungserfolg in der Entziehung, tritt § 240 StGB zurück. Tateinheit ist hingegen immer dann möglich, wenn der Nötigungserfolg über die Entziehung hinausgeht.[18] Weil das Landgericht hier in der Sache unzutreffend Tatmehrheit angenommen hat, greift der BGH an dieser Stelle noch einmal korrigierend ein und plädiert für den aktuellen Fall für Tateinheit (§ 52 StGB) und gegen Gesetzeskonkurrenz. Der Senat meint, der Nötigungszweck gehe deshalb über die Kindesentziehung hinaus, weil der Angeklagte noch das zusätzliche Ziel verfolgte, sich seiner Frau "gänzlich zu entledigen". Diese Sicht der Dinge erscheint jedenfalls vertretbar, gibt aber andererseits auch Anlass zu einer kritischen Bemerkung im Hinblick auf zukünftige Fälle.

III. Zum Abschluss und bei aller Zustimmung nun also doch noch ein mahnender Fingerzeig. Die dieser Entscheidung zweifelsohne zugrundeliegende "Weitung" des § 235 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann und darf – auch im Verhältnis zu § 240 StGB – zukünftig nicht dazu führen, jedwede erzwungene Ortsveränderung eines erziehungsberechtigen Partners nahezu automatisch an § 235 StGB zu messen. Die strafrechtliche Perspektive darf natürlich nur dann über § 235 StGB das Verhältnis zu einem oder mehreren Kindern mit einbeziehen, wenn der Zugang zum Kind in der Auseinandersetzung tatsächlich auch eine Rolle spielt und diese gleichsam dominiert. In allen anderen Fällen wird es bei einer Strafbarkeit wegen § 240 StGB bleiben müssen, für die der Gesetzgeber – aus gutem Grund – einen geringeren Strafrahmen vorgesehen hat, der nicht mit einer windigen Anknüpfung an in einer Beziehung vorhandene Kinder unterlaufen werden darf. Allerdings ergibt sich anhand der Feststellungen, die dem hier zu besprechenden Beschluss zugrunde liegen, ein so deutlicher Bezug der Auseinandersetzung zu den Kindern des (ehemaligen) Paares, dass diese Versuchung für den BGH keine Rolle gespielt haben dürfte.


[1] Vgl. etwa Matt/Renzikowski/Eidam, 1. Aufl. (2013), § 235 Rn. 1; Hüneke FPR 2012, 427, 429 ("marginalisiertes Delikt") aber auch schon Geppert, GS H. Kaufmann (1986), S. 759, 760 f.

[2] Geppert , a.a.O. (Fn. 1), S. 759, 763.

[3] BGHSt 44, 355, 358; Baier JA 1999, 835, 835 f.; Geppert, a.a.O. (Fn. 1), S. 759, 773 ("daran ist de lege lata kein Zweifel möglich"); Schramm JA 2013, 881, 885; MünchKomm/Wieck-Noodt, 2. Aufl. (2012), § 235 Rn. 28; Lackner/Kühl, 28. Aufl. (2014), § 235 Rn. 2; Matt/Renzikowski/Eidam, a.a.O. (Fn. 1), Rn.; Sallum, Die strafrechtlichen Probleme der internationalen Kindesentziehung beim Streit um das gemeinsame Kind (2008), S. 30. Vgl. auch BT-Drs. 13/8587, S. 38.

[4] Wessels/Hettinger, BT 1, 38. Aufl. (2014), Rn. 438.

[5] RGSt 48, 427, 429 (Hervorhebungen im Original).

[6] Zu beachten ist, dass der Opferbegriff bei § 235 StGB mehrdeutig verwendet wird. So wird in der Literatur etwa auch der Sorgeberechtige, zu dessen Lasten die Tat begangen wird, als Tatopfer bezeichnet. Vgl. nur Geppert, a.a.O. (Fn. 1), S. 759.

[7] MünchKomm/Wieck-Noodt, a.a.O. (Fn. 3), § 235 Rn. 22; NK/Sonnen, 4. Aufl. (2013), Rn. 13; Schönke/Schröder/Eser/Eisele, 29. Aufl. (2014), § 235 Rn. 3; Matt/Renzikowski/Eidam, a.a.O. (Fn. 1) Rn. 5; Wessels/Hettinger, a.a.O. (Fn. 4), Rn. 439.

[8] Vgl. Leipold/Beukelmann NJW-Spezial 2014, 729.

[9] Siehe etwa AnwK/Gaede, 2. Aufl. (2015), § 1 Rn. 34.

[10] BGHSt 1, 199, 200; 16, 58, 61; BGH NStZ 1996, 333; Wessels/Hettinger, a.a.O. (Fn. 4), Rn. 439; Caspary FPR 2001, 215, 216; Leipold/Beukelmann NJW-Spezial 2014, 729; BeckOK/Valerius § 235 Rn. 6[Edition 26]; MünchKomm/Wieck-Noodt, a.a.O. (Fn. 3) Rn. 37; Matt/Renzikowski/Eidam, a.a.O. (Fn. 1). Rn. 6.

[11] Vgl. Baier JA 1999, 836 ("nicht definiert").

[12] Vgl. Sallum, a.a.O. (Fn. 3), S. 72.

[13] Matt/Renzikowski/Eidam, a.a.O. (Fn. 1), Rn. 1 m.w.N.

[14] Hüneke FPR 2012, 427, 429.

[15] Schönke/Schröder/Eser/Eisele, a.a.O. (Fn. 7), Rn. 6. Vgl. auch MünchKomm/Wieck-Noodt, a.a.O. (Fn. 3), Rn. 38: "Ein Entziehen ist sowohl bei Einsperren des Minderjährigen als auch des Sorgeberechtigten gegeben."

[16] Geppert, a.a.O. (Fn. 1), S. 759, 780.

[17] Geppert, a.a.O. (Fn.1), S. 759, 784. Vgl. auch SSW/Schluckebier, 2. Aufl. (2014), § 235 Rn. 8.

[18] Matt/Renzikowski/Eidam, a.a.O. (Fn. 1), Rn. 19. Ebenso MünchKomm/Wieck-Noodt, a.a.O. (Fn. 3). Rn. 105; SSW/Schluckebier, a.a.O. (Fn. 17), Rn. 18.