HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2015
16. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

460. BGH 1 StR 50/15 - Beschluss vom 11. März 2015 (LG Stuttgart)

Natürliche Handlungseinheit bei aufeinanderfolgenden Fällen des Computerbetruges (Anwendung bei fehlgeschlagenem Versuch).

§ 263a StGB; § 52 StGB; § 22 StGB; § 24 StGB

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stehen alle mit derselben Geldkarte in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang an demselben Geldautomaten vorgenommenen Abhebungen in natürlicher Handlungseinheit zueinander (st. Rspr.). Dies gilt, unabhängig von der genauen zeitlichen Reihenfolge, auch für das Zusammentreffen einer erfolgreichen Abhebung mit einem fehlgeschlagenen Versuch. Eine relevante, die Annahme eines neuen Tatentschlusses rechtfertigende Zäsur liegt demgegenüber erst dann vor, wenn der Täter entweder eine andere Karte verwendet und infolgedessen eine neue Geheimnummer eingeben muss oder zu einer anderen Bankfiliale wechselt.


Entscheidung

439. BGH 2 StR 495/13 - Urteil vom 25. Februar 2015 (LG Frankfurt a. M.)

Schuldunfähigkeit (Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt durch wahnhafte Störungen).

§ 20 StGB

Wahnhafte Störungen können sich zwar bei akuten psychotischen Phasen erheblich auf die Schuldfähigkeit auswirken Wenn Tatmotiv und Tathandlung jedoch nicht in einer direkten Beziehung zum Wahnthema standen, ist alleine aus der Diagnose einer wahnhaften Störung regelmäßig noch keine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit herzuleiten.


Entscheidung

454. BGH 4 StR 600/14 - Beschluss vom 25. März 2015 (LG Essen)

Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht (Tatmehrheit bei mehreren Verstößen).

§ 145a StGB; § 53 Abs. 1 StGB

Verstößt ein Täter über einen längeren Zeitraum immer wieder bzw. ständig gegen eine Weisung der Führungsaufsicht, so ist nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen, ob eine oder mehrere Taten des § 145a StGB vorliegen. Mehrere Verstöße gegen dieselbe Weisung stehen regelmäßig in Realkonkurrenz, sofern nicht die Grundsätze über die natürliche oder rechtliche (tatbestandliche) Handlungseinheit eingreifen.

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

490. BGH 3 StR 410/14 - Urteil vom 22. Januar 2015 (LG Koblenz)

Freiheitsberaubung (eingeschränkte Fortbewegungsmöglichkeit; Freiheitsentziehung auf andere Art und Weise; Drohung); Entziehung Minderjähriger (keine Strafbarkeit bei Zustimmung des allein Sorgeberechtigten; anwendbares Recht bzgl. des Rechtsverhältnisses zwischen Kind und Elter; „faktischer Wohnsitz“; Wille des Minderjährigen als Indiz; inländischer Erfolgsort)

§ 235 StGB; § 239 StGB; § 3 StGB; § 9 StGB; Art. 21 EGBGB

1. § 239 StGB schützt lediglich die Fähigkeit, sich überhaupt von einem Ort wegzubewegen, nicht aber auch eine bestimmte Art des Weggehens. Deshalb kommt eine Bestrafung wegen Freiheitsberaubung nicht in Betracht, wenn ein Fortbewegen - wenn auch unter erschwerten Bedingungen (hier: Erlaubnis zum Verlassen des Hauses nur in Begleitung älterer Familienangehöriger) - möglich bleibt.

2. Die Freiheitsberaubung „auf andere Weise“ kann durch eine Drohung jedenfalls dann verwirklicht werden, wenn diese den Grad einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erreicht. Die Drohung mit einem sonst empfindlichen Übel reicht hingegen regelmäßig nicht aus.

3. Zwar erfasst der Schutzzweck des § 239 StGB auch Einschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit,

durch die das Opfer gehindert wird, ein größeres Areal wie etwa das Gelände eines Krankenhauses oder einer geschlossenen Anstalt zu verlassen. Das Gebiet, aus dem sich das Opfer aufgrund der Tathandlung nicht entfernen kann, darf aber nicht beliebig weiträumig sein, weshalb eine vollständige Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit jedenfalls dann nicht anzunehmen ist, wenn sich der verbleibende räumliche Entfaltungsbereich der betroffenen Person auf ein mehrere tausend Quadratkilometer umfassendes Staatsgebiet (hier: Syrien) erstreckt.

4. Erteilt der allein sorgeberechtigte Elternteil zu einem vorübergehenden Aufenthalt einer Minderjährigen im Ausland die Zustimmung, scheidet eine Strafbarkeit wegen der Entziehung Minderjähriger selbst dann aus, wenn die Minderjährige durch eine List ins Ausland gelockt wurde.

5. Nach Art. 21 EGBGB unterliegt das Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieser gewöhnliche Aufenthalt richtet sich danach, an welchem Ort oder in welchem Land der Minderjährige seinen Daseinsmittelpunkt hat („faktischer Wohnsitz“). Das setzt regelmäßig das Vorhandensein von Beziehungen insbesondere familiärer oder beruflicher Art voraus, in denen der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person zu sehen ist.

6. Bei Minderjährigen ist der gewöhnliche Aufenthalt nach diesen Kriterien selbständig auf ihre Person bezogen zu ermitteln; er leitet sich nicht vom gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz des Sorgeberechtigten ab. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch gegen den Willen des Sorgeberechtigten oder des Minderjährigen begründet werden. Allerdings kommt dem Willen des Minderjährigen - dessen Verstandesreife vorausgesetzt - bei der Beurteilung, ob er sich in seine neue Umgebung bereits sozial eingegliedert hat, eine Indizfunktion zu.


Entscheidung

441. BGH 4 StR 11/15 - Beschluss vom 24. Februar 2015 (LG Konstanz)

Misshandlung von Schutzbefohlenen (Quälen durch mehrere Körperverletzungshandlungen: Voraussetzungen, Tateinheit); tatrichterliche Beweiswürdigung.

§ 225 Abs. 1 StGB; § 223 Abs. 1 StGB; § 52 Abs. 1 StGB, § 261 StPO

1. Quälen im Sinne dieser Vorschrift bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender Schmerzen oder Leiden, die über die typischen Auswirkungen der festgestellten einzelnen Körperverletzungshandlungen hinausgehen. Mehrere Körperverletzungshandlungen, die für sich genommen noch nicht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB erfüllen, können als ein Quälen im Sinne dieser Vorschrift zu beurteilen sein, wenn erst die ständige Wiederholung den gegenüber § 223 StGB gesteigerten Unrechtsgehalt ausmacht. In diesem Fall werden die jeweiligen Einzelakte zu einer tatbestandlichen Handlungseinheit und damit einer den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB verwirklichenden Tat zusammengefasst.

2. Ob sich mehrere Körperverletzungen zu einer als Quälen zu bezeichnenden Tathandlung zusammenfügen, ist auf Grund einer Gesamtbetrachtung zu entscheiden. Regelmäßig wird es dabei erforderlich sein, dass sich die festgestellten einzelnen Gewalthandlungen als ein äußerlich und innerlich geschlossenes Geschehen darstellen. Dabei sind räumliche und situative Zusammenhänge, zeitliche Dichte oder eine sämtliche Einzelakte prägende Gesinnung mögliche Indikatoren. In subjektiver Hinsicht ist es erforderlich, dass der Täter bei jeder Einzelhandlung den Vorsatz hat, dem Opfer sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zuzufügen, die über die typischen Verletzungsfolgen hinausgehen, die mit der aktuellen Körperverletzungshandlung verbunden sind (vgl. BGH NStZ 2013, 466, 467).


Entscheidung

463. BGH 2 StR 5/15 - Beschluss vom 5. Februar 2015 (LG Aachen)

Voraussetzungen der sexuellen Nötigung (Vergewaltigung) bei der Gewalt.

§ 177 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB

Beschreiben die Feststellungen des Gerichts letztlich nur den körperlich wirkenden Sexualakt, kann dies nicht schon als Gewalt zur Erzwingung seiner Duldung angesehen werden und die Anwendung des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB begründen.


Entscheidung

495. BGH 3 StR 595/14 - Beschluss vom 3. März 2015 (LG Aurich)

Schwere räuberische Erpressung durch Mitglieder einer Bande (keine Erweiterung der auf Diebstähle bezogenen Bandenabrede auf die Begehung von Raubtaten erforderlich); fehlende Erörterung möglicher Aufklärungshilfe (Ermessensausübung durch Tatrichter; innerer oder inhaltlicher Bezug zwischen aufgedeckter und abgeurteilter Tat).

§ 249 StGB; § 250 StGB; § 253 StGB; § 255 StGB; § 46b StGB

Zur Verwirklichung des § 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB genügt es, dass der Raub oder - aufgrund der Verweisung des § 255 StGB - die räuberische Erpressung durch Mitglieder einer Bande begangen werden, die sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstahl verbunden hat. Einer Erweiterung der Bandenabrede auf die zukünftig wiederholte Begehung von Raub- bzw. räuberischen Erpressungstaten bedarf es nicht.


Entscheidung

452. BGH 4 StR 538/14 - Urteil vom 12. März 2015 (LG Arnsberg)

Besonders schwerer Raub (Zueignungsabsicht: reiner Schädigungswille; Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs: Parallele zur gefährlichen Körperverletzung); gefährliche Körperverletzung (Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs: potentielle Gefährlichkeit des konkreten Gebrauchs).

§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB

1. Täter – auch Mittäter – beim Raub kann nur sein, wer bei der Wegnahme die Absicht hat, sich oder einem Dritten die fremde Sache rechtswidrig zuzueignen. Hierfür

genügt, dass der Täter die fremde Sache unter Ausschließung des Eigentümers oder bisherigen Gewahrsaminhabers körperlich oder wirtschaftlich für sich oder den Dritten haben und sie der Substanz oder dem Sachwert nach seinem Vermögen oder dem des Dritten „einverleiben“ oder zuführen will. Dagegen ist nicht erforderlich, dass der Täter oder der Dritte die Sache auf Dauer behalten soll oder will (vgl. BGH NJW 1985, 812).

2. An der Voraussetzung, dass der Wille des Täters auf eine Änderung des Bestands seines Vermögens oder das des Dritten gerichtet sein muss, fehlt es in Fällen, in denen er die fremde Sache nur wegnimmt, um sie „zu zerstören“, „zu vernichten“, „preiszugeben“, „wegzuwerfen“, „beiseitezuschaffen“ oder „zu beschädigen“. Der etwa auf Hass- oder Rachegefühlen beruhende Schädigungswille ist zur Begründung der Zueignungsabsicht ebenso wenig geeignet wie der Wille, den Eigentümer durch bloßen Sachentzug zu ärgern. In solchen Fällen genügt es auch nicht, dass der Täter – was grundsätzlich ausreichen könnte für eine kurze Zeit den Besitz an der Sache erlangt (vgl. BGH NStZ 2011, 699, 701).

3. Ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 ist jeder Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (vgl. NStZ 2002, 86). Das ist nicht nur dann der Fall, wenn der Täter ein generell gefährliches Tatmittel einsetzt, sondern auch, wenn sich die objektive Gefährlichkeit des eingesetzten Gegenstandes erst aus der konkreten Art seiner Verwendung ergibt, welche geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Die Gefährlichkeit des Tatmittels kann sich gerade daraus ergeben, dass ein Gegenstand bestimmungswidrig gebraucht wird (vgl. BGH StV 2011, 366).

4. Für die Tatbestandserfüllung maßgebend ist nicht (allein) die eingetretene Verletzungsfolge, sondern die potentielle Gefährlichkeit der konkreten Benutzung des Werkzeugs (vgl. BGH StV 2002, 21).


Entscheidung

437. BGH 2 StR 400/14 - Urteil vom 4. März 2015 (LG Mühlhausen)

Körperverletzung (körperliche Misshandlung: kurzzeitige Beeinträchtigung des Wohlbefindens des Geschädigten).

§ 223 Abs. 1 StGB

Verursacht der Angeklagte mit einem Griff an den entblößten Penis des Geschädigten einen „leichten Schmerz“, ist das körperliche Wohlbefinden des Geschädigten nicht nur ganz unerheblich beeinträchtigt. Dies genügt grundsätzlich für eine Körperverletzung ausreichen auch wenn Verletzungsfolgen nicht festgestellt werden konnten.


Entscheidung

478. BGH 4 StR 612/14 - Beschluss vom 25. März 2015 (LG Bielefeld)

Verhältnis zwischen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung und vollendeter schwerer räuberischer Erpressung (Gesetzeseinheit; Konsumtion).

§ 255 StGB; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB; § 250 Abs. 1 Nr. 1a, Nr. 1b StGB; § 52 StGB

In Fällen, in denen sich der Angriff nur gegen ein Opfer richtet, tritt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die versuchte besonders schwere räuberische Erpressung nach §§ 255, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB hinter die vollendete schwere räuberische Erpressung gemäß §§ 255, 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB zurück. Gleiches gilt im Verhältnis zur vollendeten schweren räuberischen Erpressung gemäß §§ 255, 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB.


Entscheidung

433. BGH 2 StR 323/14 - Urteil vom 11. März 2015 (LG Bonn)

Räuberische Erpressung (Voraussetzungen einer konkludenten Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben).

§ 253 StGB; § 255 StGB

Grundsätzlich kann eine Drohung auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen. Erforderlich ist insoweit, dass der Täter die Gefahr für Leib oder Leben deutlich in Aussicht stellt, sie also durch ein bestimmtes Verhalten genügend erkennbar macht. Es genügt dagegen nicht, wenn das Opfer nur erwartet, der Täter werde es an Leib oder Leben schädigen. Das bloße Ausnutzen der Angst eines Opfers vor einer Gewaltanwendung enthält für sich genommen noch keine Drohung (vgl. BGH NStZ 2013, 648).