HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2015
16. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

"Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – und als einziger!" – Zuständigkeitskonzentrationen durch das europäische ne bis in idem bei beschränkt rechtskräftigen Entscheidungen

Anmerkung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 5. Juni 2014 (EuGH C-398/12, M) = HRRS 2015 Nr. 1

Von Dr. Christoph Burchard, LL.M. (NYU), München

I. Einführung

Die Rechtsprechung des EuGH zum europäischen ne bis in idem (Art. 54 SDÜ, 50 GRC) ist "der"[1] Motor der Europäisierung der Strafrechtspflege. Während der EuGH 2013 mit Åkerberg Fransson Furore machte[2] und 2014 in Spasic das umstrittene Verhältnis des einfachrechtlichen Art. 54 SDÜ zum unionsgrundrechtlichen Art. 50 GRC klarstellte,[3] bezog der Gerichtshof in M zu einer weiteren Frage Stellung: In welchem Umfang lösen verfahrensbeendende Entscheidungen, die im Entscheidungsmitgliedstaat lediglich in beschränkte Rechtskraft erwachsen,[4] das europäische Doppelverfolgungsverbot aus? In welchem Umfang stehen also beschränkt rechtskräftige Entscheidungen einer weiteren Strafverfolgung in anderen Mitgliedstaaten entgegen? Während bislang im Schrifttum angenommen wurde, dass der durch Art. 54 SDÜ, 50 GRC vermittelte europaweite Strafklageverbrauch grundsätzlich nicht weitergehen könne als jener im Entscheidungsmitgliedstaat (hier sog. enge Auslegung),[5] hat der EuGH – so deute ich dieses Urteil – in M eine Gegen-, also eine hier sog. weite Auslegung geprägt: Auch lediglich beschränkt rechtskräftige Entscheidungen lassen dem Betroffenen den Schutz der Art. 54 SDÜ, 50 GRC vollumfänglich zuteilwerden. Auch lediglich beschränkt rechtskräftige Entscheidungen lösen mit anderen Worten ein vollumfängliches europaweites Weiterverfolgungsverbot in anderen Mitgliedstaaten aus.[6] Allein dem Erstentscheidungsmitgliedstaat steht es frei, die beschränkte Rechtskraft seiner Entscheidung unter den nach seinem Strafprozessrecht geltenden Voraussetzungen zu durchbrechen.[7] In M hat der EuGH damit das faktische Prioritäts- (oder flapsiger: das Windhund‑)Prinzip auf die Spitze getrieben, das bereits seiner Leitentscheidung Gözütok/Brügge[8] zugrunde lag:[9] Das europäische ne bis in idem der Art. 54 SDÜ, 50 GRC bewirkt eine faktische Zuständigkeitskonzentration[10] in jenem Mitgliedstaat, der die erste beschränkt rechtskräftige Entscheidung trifft. Nach geltendem Recht (bzw. seiner Handhabung durch den EuGH) gilt also der Satz: "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – und als einziger!" D.h.: Der Mitgliedstaat, der zuerst eine (beschränkt oder unbeschränkt) rechtskräftige Entscheidung trifft, wird für die zugrundeliegende Strafsache allein zuständig, selbst wenn in anderen Mitgliedstaaten das

normativ "bessere" Forum für die Durchbrechung der beschränkten Rechtskraft anzusiedeln wäre. Selbst wenn also im Erstentscheidungsmitgliedstaat die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der beschränkten Rechtskraft vorliegen sollten, beginnt das Spiel ("Wer zuerst kommt, und als erster diese beschränkte Rechtskraft mit einer seinerseits rechtskräftigen Entscheidung durchbricht, …") nicht wieder von neuem. Wie im Folgenden aufgezeigt werden soll, verdient das durchaus Zustimmung (unten III.), und sei es auch nur, weil der Druck auf die europäische Kriminalpolitik steigt, eine rationale(re) europäische Zuständigkeitsordnung in Strafsachen auf den Weg zu bringen. Ungeklärt ist freilich, ob und unter welchen Voraussetzungen die durch M unionsgrundrechtlich fundierte faktische Zuständigkeitskonzentration im Erstentscheidungsmitgliedstaat vom Unionsgesetzgeber rückgängig gemacht werden kann und sollte (Stichwort: Ausschluss von Missbrauchskonstellationen; Verfahrenstransfers nach Zuständigkeitskonzentration; unten IV.). Zunächst gilt aber nochmals kurz den Sachverhalt und den Urteilsspruch in der Rechtssache M in Erinnerung zu rufen, um diese einordnen zu können (dazu nun unten II.).

II. Darstellung und Einordnung

Dem EuGH lag folgender Sachverhalt vor:[11] Der in Belgien wohnhafte italienische Staatsangehörige M wurde von der belgischen Justiz verdächtigt, seine im Jahre 1999 geborene Enkeltochter im Zeitraum von Mai 2001 bis Februar 2004 mehrfach sexuell missbraucht zu haben. Nach einem Ermittlungsverfahren, in dessen Zuge verschiedene Beweismittel zusammengetragen und geprüft wurden, erließ die Ratskammer des Tribunal de Première Instance de Mons (Belgien) mit Beschluss vom 15. Dezember 2008 eine Einstellungsentscheidung ohne Verweisung an das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht aus Mangel an Beweisen. Dieser Einstellungsbeschluss wurde in der Folgezeit durch die Anklagekammer der Cour D’Appel de Mons (Belgien) bestätigt und das dagegen eingelegte Rechtsmittel letztinstanzlich von der belgischen Cour de Cassation am 2. Dezember 2009 zurückgewiesen. Nach belgischem Strafprozessrecht in der Auslegung durch die Cour de Cassation erstarkte dieser Einstellungsbeschluss spätestens nach der Zurückweisung des Rechtsmittels am 2. Dezember 2009 nach Art. 246 und 247 belg. StPO in beschränkte Rechtskraft, weil der Beschuldigte wegen derselben Straftat nicht länger vor Gericht gebracht werden kann, es sei denn, es tauchen neue Belas-

tungstatsachen auf. Nach belgischem Recht war so gesehen das Wiederaufgreifen des Ermittlungsverfahrens materiell an neue Belastungstatsachen gebunden; formell konnte dies nur auf Antrag der belgischen Staatsanwaltschaft geschehen.

Parallel zu dem – wohl auf das strafanwendungsrechtliche Territorialitätsprinzip gestützten – belgischen Strafverfahren war seit 2006 – wohl auf der Grundlage des strafanwendungsrechtlichen aktiven Personalitätsprinzips – auch ein Ermittlungsverfahren in Italien gegen M anhängig, das im Wesentlichen dieselben Vorgänge betraf, derentwegen in Belgien ermittelt worden war. Am 19. Dezember 2008, also kurioserweise nur vier Tage nach dem belgischen Einstellungsbeschluss, verfügte der zuständige italienische Untersuchungsrichter nach Abschluss der Ermittlungen die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen M vor dem zuständigen italienischen Gericht. In der mündlichen Verhandlung vom 9. Dezember 2009, also sieben Tage nach der Zurückweisung des letzten ordentlichen Rechtsbehelfs gegen den Einstellungsbeschluss durch die belgische Cour de Cassation am 2. Dezember 2009, berief sich M auf den belgischen Einstellungsbeschluss und machte einen Verstoß gegen das europäische Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 54 SDÜ geltend.

Gute drei Jahr später (sic), namentlich am 29. August 2012, wurde vom italienischen Gericht dem EuGH alsdann die Vorlagefrage gestellt, ob ein rechtskräftiges Einstellungsurteil, das in einem EU-Mitglied- und Vertragsstaat des SDÜ nach umfassenden Ermittlungen im Rahmen eines Verfahrens erlassen wurde, das beim Auftauchen neuer Beweise wieder aufgenommen werden könnte, der Einleitung oder der Durchführung eines Verfahrens wegen derselben Tat und gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat entgegensteht. Der EuGH antwortete darauf, um seinen Leitsatz in die indirekte Rede zu setzen, wie folgt: Art. 54 SDÜ sei dahingehend auszulegen, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letztere auftauchen, als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat ausschließt.

Was das auf Deutsch bedeuten soll, d.h. wie dieser Urteilsspruch meines Erachtens dogmatisch einzuordnen und zu verallgemeinern ist, wurde bereits in der Einführung vorangestellt: Beschränkt rechtskräftige Entscheidungen lösen das Doppelverfolgungsverbot des Art. 54 SDÜ vollumfänglich aus und führen faktisch zu einer Zuständigkeitskonzentration im Entscheidungsmitgliedstaat. Beschränkt rechtskräftige Entscheidungen sind von anderen (verfolgungsbereiten und -willigen) Mitgliedstaaten anzuerkennen und bewirken im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einen umfänglichen Strafklageverbrauch außerhalb des Entscheidungsmitgliedstaats. In der Folge kann der Beschuldigte darauf vertrauen, dass er – in institutioneller Hinsicht – fürderhin allein und ausschließlich im Entscheidungsmitgliedstaat sowie – in materiell- wie verfahrensrechtlicher Hinsicht – allein und ausschließlich nach dortigem Recht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. Nach M ist eine Durchbrechung der beschränkten Rechtskraft nur von den Organen der entscheidungsmitgliedstaatlichen Strafrechtspflege vornehmbar, und das nur auf der Grundlage der entscheidungsmitgliedstaatlichen Strafrechtsordnung.

Dieser Verallgemeinerung steht zwar die Einschränkung im Urteilsspruch des EuGH entgegen, dass das europäische ne bis in idem nur gelte, "sofern keine neuen Belastungstatsachen" gegen den Beschuldigten auftauchten. Die Gründe, die der EuGH für sein Urteil anführt, insbesondere die Qualifikation des belgischen Einstellungsbeschlusses als endgültige rechtskräftige Aburteilung im Sinne des Art. 54 SDÜ (dazu sogleich), wie auch die Schlussanträge von GA Sharpston lassen jedoch erkennen, dass das europäische ne bis in idem nicht durch das Auftauchen neuer Belastungsbeweismittel wieder zurückgenommen wird. Wie GA Sharpston explizit ausführte:

"[E]in erneutes Verfahren gegen einen Beschuldigten, zu dessen Gunsten ein endgültiger Einstellungsbeschluss ergangen ist,[muss]in dem Mitgliedstaat, in dem dieser Beschluss erlassen wurde (d.h. im ersten Mitgliedstaat), eingeleitet werden. Den Gerichten des zweiten Mitgliedstaats ist es verwehrt, diesen Verfahrensgang (und die Verfahrensgarantien, die dem Beschuldigten nach dem nationalen Recht des ersten Mitgliedstaats zustehen) dadurch zu umgehen, dass sie durch Heranziehung von Belastungstatsachen, die "neu" sein mögen (oder auch nicht), einen Strafprozess gegen den Beschuldigten führen." [12]

Und nichts anderes sagt auch der EuGH, wenn er anführt:

"Da geprüft werden muss, ob die zur Rechtfertigung einer Wiederaufnahme angeführten Tatsachen tatsächlich neuartig sind, kann im Übrigen jedes neue Verfahren gegen die gleiche Person auf Grund der gleichen Tatsachen, das sich auf eine solche Möglichkeit der Wiederaufnahme stützt, nur in dem Vertragsstaat eingeleitet werden, in dem dieser Beschluss erlassen wurde." [13]

III. Bewertung

Im Ergebnis überzeugt diese Positionierung des Gerichtshofs, was auf dessen eigentliche Argumentation freilich nicht zutrifft. Der EuGH stand bei der Auslegung des Begriffs "rechtskräftig abgeurteilt" (Art. 54 SDÜ) vor dem Problem, dass er dieser Wendung in Gözütok/Brügge[14] den Inhalt eines – in meinen Worten – "endgültigen Verbrauchs der Strafklage im Ausgangsverfahren" gegeben hatte. In Turanský definierte der EuGH wörtlich, "dass grundsätzlich eine Entscheidung, um als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ angesehen werden zu können, endgültig die Strafverfolgung beenden und die Strafklage verbrauchen muss."[15] Zumindest bei unbefangener Bewertung hätte man an der Endgültigkeit des belgischen Einstellungsbeschlusses zweifeln müssen, wenn und weil dessen Rechtskraft bereits beim Vorliegen neuer Belastungsbeweismittel außer Kraft gesetzt und die Strafverfolgung fortgesetzt werden kann. So vertrat bezeichnenderweise auch die belgische Regierung vor dem EuGH die Auffassung, der Einstellungsbeschluss sei aus diesem Grund nicht endgültig.[16] Die in M an den Tag gelegten Versuche des EuGH, mit dem belgischen Einstellungsbeschluss doch noch einen endgültigen Strafklageverbrauch zu verbinden, erscheinen daher bestenfalls bemüht. In der Sache zeugen sie von mangelnder dogmatischer Schärfentiefe, weil (allemal nicht offen) nicht zwischen beschränkter und endgültiger Rechtskraft unterschieden wurde. Zwar sind auch endgültig rechtskräftige Entscheidungen (und Urteile) nicht in Stein gemeißelt oder unrevidierbar, wie das Institut der Wiederaufnahme zulasten des Beschuldigten nach einem Endurteil illustriert. Der dogmatische Unterschied liegt aber darin, dass beschränkt rechtskräftige Entscheidungen im normalen Verfahrensgang revidierbar sind, während endgültig die Strafklage verbrauchende Entscheidungen nur mit außerordentlichen Rechtsbehelfen wie der Wiederaufnahme aus der Welt geschafft werden können.[17] Der EuGH hat diese dogmatische Differenzierung mit zwei argumentativen Taschenspielertricks verschleiert. So ist zum einen – was freilich auch als schlechte, da zu technische Übersetzungsleistung abgetan werden kann – stetig von der "Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens" die Rede, die Art. 246 belg. StPO zulasse.[18] Diese "Wiederaufnahme" des Ermittlungsverfahrens wird zum anderen – und zwar unter fernliegendem[19] Rückgriff auf das EGMR-Urteil Zolotukhin – in die Nähe eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gerückt, bedürfe diese "Wiederaufnahme" auf der Grundlage neuer Beweise doch der "ausnahmsweise[n]Einleitung eines anderen Verfahrens statt einer bloßen Weiterführung des bereits abgeschlossenen Verfahrens."[20] Das ist zurückzuweisen, weil hier Äpfel (beschränkt rechtskräftige Entscheidungen) und Birnen (unbeschränkt rechtskräftige Entscheidungen) dogmatisch gleichgesetzt werden. Dahinter wird man folgendes Motiv vermuten dürfen: Es ging dem EuGH weniger um die dogmatische Endgültigkeit der Beendigung der Strafverfolgung, d.h. weniger um die dogmatische Endgültigkeit des Strafklageverbrauchs in Belgien. Vielmehr ging es um die Sicherung der institutionellen Endgültigkeit der Entscheidungsbefugnis der belgischen Behörden, d.h. um die Sicherung der Endgültigkeit einer faktischen Zuständigkeitskonzentration im Entscheidungsmitgliedstaat. Insofern lassen sich die sprichwörtlichen Äpfel und Birnen dann doch wieder miteinander vergleichen. M steht quasi dafür, dass sowohl bei unbeschränkt wie auch bei beschränkt rechtskräftigen Entscheidungen allein und ausschließlich die Akteure des Entscheidungsmitgliedstaats über die Durchbrechung der (Voll- oder

Teil-)Rechtskraft zu befinden haben sollen. Warum das der Fall sein soll, darüber schweigt sich der EuGH in M jedoch aus.

Überraschend – und zwar durchaus angenehm überraschend – ist es insofern, dass der Gerichtshof sein Auslegungsergebnis nicht mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu begründen suchte. Dieser Grundsatz liegt Art. 54 SDÜ zugrunde und besagt, dass die Mitgliedstaaten rechtskräftige Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten anerkennen, diesen gleichsam im Inland Wirkung verleihen, so dass die Strafklage mit der ersten anzuerkennenden rechtskräftigen Entscheidung europaweit verbraucht wird. Nachdem der Gerichtshof überdies beginnend mit Gözütok/Brügge die gegenseitige Anerkennung verfahrensbeendender rechtskräftiger Entscheidungen auf ein Prinzip des wechselseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten zurückführt,[21] und er jüngst in Baláž dieses wechselseitige Vertrauen gar "als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in der Union" bezeichnet hat,[22] hätte man in M ein Argument wie das folgende erwartet: Auch beschränkt rechtskräftige Entscheidungen sind gegenseitig anzuerkennen, weil die Mitgliedstaaten absolut darauf vertrauen (dürfen wie müssen), dass die besagten Entscheidungen sachgerecht zustande kamen; die Mitgliedstaaten vertrauen überdies darauf, dass die Rechtskraft dieser Entscheidungen im Entscheidungsmitgliedstaat durchbrochen wird, wenn dafür Anlass besteht, so dass keine Notwendigkeit dafür gegeben ist, dass die anderen Mitgliedstaaten diese Teilrechtskraft selbst im Rahmen einer eigenen Strafverfolgung durchbrechen. – Wie gesagt: Ein solches Argument fehlt in M, und das ist gut so. Das vermeintliche absolute Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten ist, wie ich an anderem Ort ausführlich darlegen werde,[23] nicht mehr als ein positiv konnotiertes Label ohne eigenen explikativen Wert.[24] Es lässt sich – um es hier kurz zu machen – weder deskriptiv ("die" Mitgliedstaaten vertrauen sich häufig gerade nicht) noch präskriptiv (integrationstheoretisch forderbar ist ein bindendes, wechselseitige Kontrollen voraussetzendes, nicht ein blindes Vertrauen) und auch nicht unionsverfassungsrechtsprinzipiell (Art. 67 Abs. 1 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV setzen ein absolutes Vertrauensprinzip nicht voraus) begründen.

Ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aus dem Spiel, gilt es die Reichweite und den Inhalt des europäischen ne bis in idem im Wesentlichen unionsgrundrechtlich zu bestimmen. Insofern ist dem EuGH zwar vollauf zuzustimmen, "dass das Recht, wegen einer Straftat nicht zweimal verfolgt oder bestraft zu werden, auch in Art. 50 der Charta genannt wird und Art. 54 SDÜ daher in dessen Licht auszulegen ist."[25] Allerdings scheut – wie Gaede bereits an Spasic kritisiert hat – der Gerichtshof auch in M davor zurück, die Teleologie des europäischen ne bis in idem zu konkretisieren.[26] Unionsgrundrechtsdogmatisch bleibt denn auch in M im Unklaren, warum (und auch zu welchem Grade) der Beschuldigte darauf vertrauen darf, dass eine beschränkte Rechtskraft allein und ausschließlich im Entscheidungsmitgliedstaat durchbrochen wird und dass er für die fragliche Tat allein und ausschließlich dort strafrechtlich belangt wird. Insofern sei hier zur Diskussion gestellt:

In einer – an die klassischen Ziele des nationalen ne bis in idem anknüpfenden[27]integrationstheoretischen Deutung der Art. 54 SDÜ, 50 GRC lässt sich sagen: Der Beschuldigte darf (in der Konsequenz) auf ein "Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst – und als einziger!" vertrauen, nicht aber weil seine Erwartungen in die Zuständigkeit des Entscheidungsmitgliedstaats schutzwürdig und seine etwaigen Dispositionen in diese Zuständigkeitskonzentration schutzbedürftig sind, sondern weil dadurch Ressourcen im europäischen Strafverfolgungsverbund geschont und beschränkt rechtskräftige Entscheidungen vor einer außerjurisdiktionellen Kontrolle geschützt werden. Konkret heißt das: Ressourcen werden einerseits dadurch geschont, dass nurmehr jene Jurisdiktion zuständig ist, die bereits eine Endentscheidung über die gegenständliche Strafsache getroffen hat; andere Jurisdiktionen müssen (und dürfen) sich weder in die Strafsache einarbeiten noch eigene Wertungen über sie anstellen. Ressourcen werden andererseits auch dadurch geschont, dass die (de facto wie de iure) komplizierte (und häufig gar nicht zu klärende) Frage, ob ein Zweitverfolgungsstaat sich außerhalb der beschränkten Rechtskraft des Erstverfolgungs- und Entscheidungsstaats bewegt, erst

gar nicht gestellt werden muss. Beispielhaft: In M hätten – die enge Auslegung der Art. 54 SDÜ, 50 GRC unterstellt – die italienischen Behörden klären müssen, ob sie überhaupt über neue belastende Beweismittel, die nicht in den belgischen Einstellungsbeschluss eingegangen sind, verfügten, was wenn überhaupt nur im Rahmen eines aufwendigen Rechtshilfeverfahrens aufgearbeitet hätte werden können. Und ein weiteres "abschreckendes" Beispiel: Im Falle einer Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO müssten – abermals unterstellt, dass die Art. 54 SDÜ, 50 GRC beschränkt rechtskräftige Entscheidungen nur im Umfang des bedingten deutschen Strafklageverbrauchs erfassen würden – andere Mitgliedstaaten darüber befinden, ob man nun ein Verbrechen verfolge, und zwar selbst dann, wenn die technische Unterscheidung zwischen Vergehen und Verbrechen (§ 12 Abs. 1 und 2 StGB) dort so nicht bekannt ist. Zum Schutz der Strafverfolgungsressourcen im Zusammenspiel und im Zusammenwirken verschiedener EU-Mitgliedstaaten gesellt sich der – auch in einer föderal strukturierten Europäischen Union nicht zu unter- und in seiner jurisprudentiellen Maßgeblichkeit keinesfalls gering zu schätzende – Schutz des Entscheidungsmitgliedstaats. Denn jeder "externen" Durchbrechung einer "intern" beschränkten Rechtskraft wohnte ein Kontroll- und Bewertungsmoment inne; die Strafverfolger im Zweitverfolgungsstaat könnten und müssten, und hierfür bietet M ein Lehrbuchbeispiel, allemal implizit überprüfen, ob die Strafverfolger in Erstverfolgungsstaat "richtig" gearbeitet haben. Gerade die Mitgliedstaaten bzw. die mitgliedstaatlichen Gubernativen scheuen solche wechselseitigen Kontrollen, und wollen – wie mir von Seiten hoher Ministerialbeamter wörtlich bestätigt wurde – ein "sich gegenseitig in die Suppe Spucken" um jeden Preis vermeiden. So gesehen hat der EuGH in M zwar den grundrechtlichen Schutzbereich des europäischen ne bis in idem ausgedehnt und damit vordergründig im Interesse des Beschuldigten gehandelt; bei Lichte besehen hat er damit aber zumindest auch im Interesse der Mitgliedstaaten agiert und konnte seine kontrollskeptische Grundhaltung (Stichwort: Radu[28] ) fortsetzen.

Zu dieser integrationstheoretischen (und in diesem Sinne konsequentialistisch-funktionalen) Deutung der Art. 54 SDÜ, 50 GRC gesellt sich deren individualrechtlich-garantistische Teleologie. M hat zur Konsequenz, dass der Beschuldigte ein sehr weitgehendes Vertrauen auf die faktische Zuständigkeitskonzentration im Entscheidungsmitgliedstaat entwickeln darf. Ob dieses Vertrauen per se schutzwürdig ist, also eben nicht nur Konsequenz, sondern auch Grund für ein weites Verständnis von Art. 54 SDÜ, 50 GRC sein kann, ist wenig geklärt. Hierzu zwei Punkte:

Erstens muss es als durchaus offen bezeichnet werden, warum ein etwaiges Vertrauen des Beschuldigten auf die alleinige und ausschließliche Zuständigkeit des Mitgliedstaates einer beschränkt rechtskräftigen Entscheidung schutzwürdig und ‑bedürftig sein soll. Nimmt man insofern die Debatte rund um die Schaffung einer rationalen (insbesondere für den Beschuldigten vorhersehbaren) Zuständigkeitsordnung in Strafsachen zur Lösung von Strafgewaltkonflikten in der EU in Bezug (Stichwort: Recht auf die gesetzliche Jurisdiktion?), so könnte man z.B. frei (!) nach Frank Zimmermann argumentieren: Voreilige (mit M faktisch bewirkbare) Festlegungen auf einen Verfahrensstaat sollten in der Frühphase strafrechtlicher Ermittlungen vermieden werden; die zuständige Jurisdiktion muss erst mit Anklage feststehen, weil sich der Beschuldigte "erst" ab diesem Moment voll und ganz auf die Hauptverhandlung in dieser Jurisdiktion konzentrieren darf.[29] In dieser – bei summarischer Betrachtung: auch von der Kommission favorisierten[30] – Sicht der Dinge bleibt der Vertrauensschutz des Verfolgten auf das anwendbare Straf- und Strafverfahrensrecht während des Ermittlungs- hinter dem entsprechenden Vertrauensschutz während des Hauptverfahrens zurück. In der Folge könnte, soweit M auch beschränkt rechtskräftige Entscheidungen im oder am Ende des Ermittlungsverfahren erfasst, an der Schutzwürdigkeit und ‑bedürftigkeit des Vertrauens des Beschuldigten auf die alleinige Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem eine beschränkt rechtskräftige Entscheidung vor dem eigentlichen Hauptverfahren getroffen wurde, gezweifelt werden. Wirklich überzeugend finde ich das freilich nicht. Das vorgestellte Argument perpetuiert den Mythos der Maßgeblichkeit der Hauptverhandlung. Dadurch droht aus dem Blick zu geraten, dass die sprichwörtlichen Würfel häufig bereits im Ermittlungsverfahren fallen und dass ein Beschuldigter auch in diesem Verfahrensstadium weitreichende Dispositionen, die zur Schaffung eines Vertrauensschutztatbestands unabdingbar sind,[31] getroffen haben kann. M schreibt hierfür einmal mehr ein Lehrbuchbeispiel: Nachdem sich das belgische Ermittlungsverfahren über fünf Jahre hingezogen hatte und der Einstellungsbeschluss bis vor das höchste belgische Fachgericht gebracht wurde, "karteten" – so könnte es sich aus Beschuldigtenperspektive darstellen – die italienischen Behörden mit ihrem Strafverfahren nach, indem sie ein eigenes Gerichtsverfahren initiierten. Zumindest in solchen (Extrem‑)Fällen kann Gaede nur zugestimmt werden, dass der Beschuldigte "auch angesichts der national anerkannten Rechtskraft darauf vertrauen[darf], dass seine Zukunft nicht von einer später individuell abweichenden Beurteilung der vorliegenden Tatsachen durch andere staatliche Strafverfolger oder durch Angehörige einer anderen Strafjustiz abhängt."[32]

Zweitens überrascht es, dass der EuGH die umfassende Schutzbereichserstreckung auf beschränkt rechtskräftige Entscheidungen nicht – wie in Gözütok/Brügge angelegt[33] und auch von GA Sharpston in ihren Schlussanträgen in M aufgeworfen[34] – in den Dienst des Schutzes der Freizü-

gigkeit des Beschuldigten gestellt hat. Zwar könnte man meinen, dass der freizügige Beschuldigte, der darauf vertraut, er könne sicher ins europäische Ausland reisen und dort strafrechtlich nicht belangt werden, auch nach M gerade nicht darauf vertrauen kann und darf, dass der Entscheidungsmitgliedstaat seine Entscheidung nicht auf dem dafür vorgesehenen Wege revidieren und ihn (den Beschuldigten) dann z.B. per Europäischem Haftbefehl "zurückholen" werde. So gesehen mag die "Gefahr", im europäischen Ausland nach dortigem Strafrecht zur Verantwortung gezogen zu werden, dem Grunde (wohlgemerkt: nicht dem Grade) nach nicht bedeutend geringer scheinen als die "Gefahr", dass der Entscheidungsmitgliedstaat – z.B. auf die spontane Rechtshilfe eines anderen verfolgungswilligen Mitgliedstaats hin[35] – die eigene Strafverfolgung wieder aufgreift. Und trotzdem: Das in M favorisierte weite Verständnis der Art. 54 SDÜ, 50 GRC stärkt die Freizügigkeit des Beschuldigten. Der Beschuldigte, der fürchtet oder fürchten muss, dass die beschränkte Rechtskraft einer Inlandsentscheidung im europäischen Ausland durchbrochen wird, wäre – ein enges Verständnis der Art. 54 SDÜ, 50 GRC zugrunde gelegt – de facto im Entscheidungsmitgliedstaat "festgesetzt". Während der Entscheidungsmitgliedstaat z.B. die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Nr. 3 RBEuHB verweigern dürfte, weil im Inland beschlossen wurde, kein Strafverfahren einzuleiten oder ein solches einzustellen, stünde ein solcher Verweigerungsgrund anderen Mitgliedstaaten nicht zu, weil – wie gesagt: eine enge Auslegung unterstellt – nach Art. 3 Nr. 2 RBEuHB, 54 SDÜ, 50 GRC kein europaweiter Strafklageverbrauch eingetreten wäre. Summa summarum kräftigt die in M favorisierte weite Auslegung der Art. 54 SDÜ, 50 GRC also das hohe Gut der Freizügigkeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und ist daher nachdrücklich zu begrüßen.

IV. Ausblick

Nach M ist das Vertrauen (sei es als integrationistische Konsequenz, sei es als garantistischer Grund) des Beschuldigten auf die alleinige Zuständigkeit des Mitgliedstaats einer beschränkt rechtskräftigen Entscheidung (gleich in welchem Verfahrensstadium) geschützt. Oder genauer: Dieses Vertrauen fällt in den Schutzbereich des Art. 50 GRC, in dessen Lichte Art. 54 SDÜ auszulegen ist. Wie der EuGH in Spasic klargestellt hat, ist der unionsgrundrechtliche Art. 50 GRC freilich in den Spielräumen und Grenzen des Art. 52 Abs. 1 GRC (Stichwort: Verhältnismäßigkeit; Wesensgehaltgarantie) einfachrechtlich gestalt- und d.h. insbesondere sekundärrechtlich einschränkbar.[36] Das bedeutet: Für die Zukunft muss darüber nachgedacht werden, ob und in welchem Umfang neue Sekundärrechtsinstrumente Eingriffe in dieses Vertrauen rechtfertigen können (dies ist gleichsam die unionsverfassungs-, hier unionsgrundrechtliche Dimension der Frage) und sollen (dies ist gleichsam die unionskriminalpolitische Dimension der Frage). Hierzu darf abschließend tentativ zweierlei zur Diskussion gestellt werden:

Erstens verstärkt M die Gefahr des Missbrauchs des europäischen ne bis in idem im und durch den Entscheidungsmitgliedstaat. Zumindest theoretisch sind Szenarien denkbar, in denen im Rahmen eines sham proceedings Fakten geschaffen werden sollen, nämlich eine faktische Zuständigkeitskonzentration bewirkt werden soll, und zwar zugunsten wie auch zulasten des Beschuldigten. Man denke – rein hypothetisch – etwa daran, dass die belgischen Strafverfolger in M von den italienischen Ermittlungen wie auch davon erfahren hatten, dass dort alsbald die Eröffnung des Hauptverfahrens angestrengt werden sollte; um dem zuvor zu kommen, können nach M die belgischen Ermittler nun einen beschränkt rechtskräftigen Einstellungsbeschluss treffen und damit, sobald dieser beschränkt rechtskräftig wird, den Fortgang des italienischen Verfahrens verunmöglichen; das könnte zugunsten des Beschuldigten vom Motiv getragen sein, ihn vor dem italienischen Verfahren zu "shielden", oder auch zulasten des Beschuldigten vom Motiv beseelt sein, sich selbst mehr Zeit (man braucht ja "nur" neue Beweismittel) zu erkaufen. Das ist wie gesagt rein hypothetisch, gibt aber zur Frage Anlass, ob und in welchem Umfang der Missbrauch von Anerkennungsinstrumenten im Allgemeinen und der des europäischen ne bis in idem im Besonderen bedacht werden muss. Insofern hat etwa Eser "eine an Art. 20 Abs.   3 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zu orientierende telelogische Reduktion von Art.   50 " GRC vorgeschlagen.[37] Nach Eser wäre eine Doppelverfolgung daher erlaubt, "wenn eine Verurteilung oder ein Freispruch[und im Lichte von M muss ergänzt werden: jede beschränkt rechtskräftige Entscheidung]zum Ziel hatte, die betroffene Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu schützen, oder wenn die betroffene Person kein faires Verfahren erhalten hat."[38] Meines Erachtens ist das in der Sache ganz richtig. Allerdings muss der Unionsgesetzgeber eine entsprechende Einschränkung nach Art. 52 Abs. 1 GRC sekundärrechtlich fixieren. Eine "teleologische Reduktion" des Art. 50 GRC ist mit anderen Worten nicht "self executing", sondern in der Form einer sekundärrechtlichen Reduktion Aufgabe des zuständigen Unionsgesetzgebers.

Zweitens verstärkt M auch die Gefahr einer vorschnellen und voreiligen Zuständigkeitskonzentration im normativ "falschen" Mitgliedstaat. Auch hierfür sind theoretisch Szenarien denkbar, in denen Fakten geschaffen werden, eben eine faktische Zuständigkeitskonzentration nach dem Motto "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – und als einziger!" bewirkt wird, die nicht sachgerecht und unter Umständen auch gar nicht gewollt ist. Man denke etwa – um den Sachverhalt in der Rechtssache Brügge aufzugreifen – daran, dass eine deutsche Staatsanwaltschaft nach § 153a StPO ein Verfahren gegen einen deutschen Staatsangehörigen einstellt, der einer in Belgien gegen eine Belgierin begangenen einfachen Körperverletzung ver-

dächtig ist, und dass sich später – und hier lässt sich Brügge fortspinnen – herausstellt, dass der Beschuldigte mit Tötungsvorsatz handelte und seinen allgemeinen Wohnsitz in Belgien hatte. Die deutsche Strafjustiz ist nach M trotzdem allein zuständig und "klebt" nachgerade an der Strafsache, und das selbst dann, wenn die belgische Justiz gerne übernehmen und die deutsche Justiz das Verfahren gerne abgeben würde. Dass letzteres keineswegs aus der Luft gegriffen ist, zeigt der Ablauf des hier besprochenen Verfahrens vor dem EuGH, in dem die belgische Regierung die Auffassung vertrat, der Einstellungsbeschluss ihrer eigenen Strafjustiz dürfe die Strafverfolgung in Italien nicht blockieren.[39] Je schwächer das Vertrauen des Beschuldigten in die ausschließliche Zuständigkeit eines Mitgliedstaats, in dem eine beschränkt rechtskräftige Entscheidung getroffen wurde (z.B. weil er selbst aktives Forum-Shopping betrieben hat), desto eher ist es möglich, einen Eingriff in dieses tatbestandlich von Art. 50 GRC geschützte Vertrauen zu rechtfertigen. Wie aber bereits oben zur Missbrauchseinschränkung vertreten, ist eine solche Reduktion der Reichweite des europäischen ne bis in idem Aufgabe des Unionsgesetzgebers. Richtiger Regelungsort wären sekundärrechtliche Regelungen zum "transfer of proceedings in criminal matters"[40] . Sollten solche in Zukunft auf den Weg gebracht werden, könnten sie auch Bestimmungen darüber enthalten, ob und wie[41] das nach M im Entscheidungsmitgliedstaat konzentrierte ausschließliche Recht, die beschränkte Rechtskraft von Inlandsentscheidungen zu durchbrechen, an ein "besseres" Forum im Ausland abgegeben werden kann. Denn nur weil in M das Vertrauen des Beschuldigten auf die ausschließliche Zuständigkeit des Entscheidungsmitgliedstaats in den Schutzbereich des Art. 50 GRC gezogen wurde, bedeutet das nach richtiger, in Spasic bestätigter Auffassung eben nicht, dass dieses Vertrauen absolut geschützt ist; vielmehr darf dieses Vertrauen und damit das europäische Doppelverfolgungsverbot bei beschränkt rechtskräftigen Entscheidungen eingeschränkt werden, namentlich nach Art. 52 Abs. 1 GRC und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der (hier sicherlich nicht verletzten) Wesensgehaltsgarantie.

Es lässt sich daher als Fazit festhalten: Der EuGH hat in M das Motto "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – und als einziger!" ausgeben. Auch beschränkt rechtskräftige Entscheidungen lösen nach geltender Rechtslage ein vollumfängliches europaweites Doppel- und Weiterverfolgungsverbot aus und konzentrieren die Zuständigkeit für die Durchbrechung der (beschränkten wie unbeschränkten) Rechtskraft im Entscheidungsmitgliedstaat. Der Beschuldigte kann und darf im Anschluss an eine beschränkt rechtskräftige Verfahrenseinstellung darauf vertrauen, dass diese Rechtskraft allein und ausschließlich im Entscheidungsmitgliedstaat durchbrochen wird und dass er allein und ausschließlich dort für die sachgegenständliche Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Das letzte Wort ist damit aber zu Umfang und Reichweite des europäischen ne bis in idem noch nicht gesprochen, weil es dem Unionsgesetzgeber in den Spielräumen und Grenzen des Art. 52 Abs. 1 GRC frei steht, diesen Vertrauensschutz wieder zurückzunehmen. Die Zukunft wird weisen, ob das notwendig ist, insbesondere um dem möglichen Missbrauch des europäischen ne bis in idem vorzubeugen und voreilige faktische Zuständigkeitskonzentrationen zu revidieren. Damit dürfte allemal der Druck auf die europäische Kriminalpolitik steigen, eine rationale(re) europäische Zuständigkeitsordnung in Strafsachen auf den Weg zu bringen. Diese sollte nicht mit einem unter Umständen willkürlichem und sachwidrigen "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – und als einziger!" operieren, sondern für alle Beteiligten vorhersehbar sein und deren Interessen zu sachgerechter Konkordanz bringen.


[1] Von ebenfalls entscheidender Bedeutung ist die Rechtsprechung zum Europäischen Haftbefehl.

[2] EuGH (GK) C-617/10 = HRRS 2013 Nr. 335. Eckstein ZIS 2013, 220, 224 verbindet mit Åkerberg Fransson zu Recht eine Art "Dominotheorie", die man auch als eine Art "Schon dann-Theorie" bezeichnen kann: Schon dann, wenn der Anwendungsbereich der GRC eröffnet ist, gilt die GRC umfassend, auch wenn mitgliedstaatliche Maßnahmen nicht vollständig unionsrechtlich determiniert sind.

[3] EuGH C-129/14 PPU = HRRS 2014 Nr. 484 mit Anm. Frank Meyer HRRS 2014, 269.

[4] Man denke nur an eine Verfahrenseinstellung nach § 153a Abs. 1 oder 2 StPO: Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen und Weisungen, so kann die Tat, derentwegen die Einstellung erfolgte, nicht mehr als Vergehen verfolgt werden, wohl aber als Verbrechen (§ 153a Abs. 1 Satz 5 StPO).

[5] So dezidiert Inhofer in Beck-OK StPO, Art. 54 SDÜ, 19. Edition (Stand: 8.9.2014), Rdnr. 23. Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. (2012), § 13 Rdnr. 59.

[6] Hier nicht weiter einzugehen ist darauf, in welchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Art. 54 SDÜ, 50 GRC aus welchen Gründen (Stichwort: Durchführungsbegriff des Art. 51 Abs. 1 GRC) Geltung verlangen.

[7] Um das oben gewählte Beispiel fortzuführen: Deutschland stünde es also frei, eine Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO zu revidieren, wenn es sich bei der Tat – anders als ursprünglich angenommen – um ein Verbrechen handelte. Andere Mitgliedstaaten dürften die Tat hingegen selbst dann nicht verfolgen, wenn sie diese – die praktischen Schwierigkeiten einer solchen Qualifikation hier hintanstellend – als Verbrechen qualifizieren wollten.

[8] EuGH verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Urt. v. 11.2.2003 (Gözütok/Brügge).

[9] Zu dieser Einordnung von Gözütok/Brügge bereits
Eser/Burchard in FS Jürgen Meyer, S. 499, 516.

[10] Entsprechend Gaede NJW 2014, 2990, 2991.

[11] Vgl. zum Folgenden EuGH C-398/12, Urt. v. 5.6.2014 (M) = HRRS 2015 Nr. 1, Rdnr. 15 ff.

[12] GA Sharpston, Rs. C-398/12, Schlussanträge v. 6.2.2014 (M), Rdnr. 59.

[13] EuGH C-398/12, Urt. v. 5.6.2014 (M) = HRRS 2015 Nr. 1, Rdnr. 40. Der Einwand, dass laut dem EuGH dieses neue Verfahren im Erstentscheidungsmitgliedstaat nur "eingeleitet" werden müsse, so dass die "Fortführung" in einem anderen Mitgliedstaat nach M nicht ausgeschlossen sei, überzeugt meines Erachtens nicht. Hätte der EuGH diese Spitzfindigkeit im Sinne gehabt, hätte er dezidiert dazu Stellung bezogen.

[14] EuGH verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Urt. v. 11.2.2003 (Gözütok/Brügge), Rdnr. 30.

[15] EuGH C ‑ 491/07, Urt. v. 22.12.2008 (Turanský), Rdnr. 34.

[16] Berichtet in: GA Sharpston, Rs. C-398/12, Schlussanträge v. 6.2.2014 (M), Rdnr. 39.

[17] Vgl. nur Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, Band 7/2, 26. Aufl. (2014), Vor § 359 Rdnr. 55 f; Frister in SK-StPO, 4. Aufl. (2014), Band VII, Vor § 359 Rdnr. 9 ff.

[18] EuGH C-398/12, Urt. v. 5.6.2014 (M) = HRRS 2015 Nr. 1, Rdnr. 40. In der englischen Sprachfassung ist freilich untechnisch nur vom "reopening the criminal investigation" die Rede. Die italienische Fassung spricht hingegen wieder technischer von der "[]possibilità di riapertura dell’istruttoria."

[19] Selbst der EuGH C-398/12, Urt. v. 5.6.2014 (M) = HRRS 2015 Nr. 1, Rdnr. 40 erkennt an, dass der belgische Einstellungsbeschluss nicht unter Zolotukhin fällt.

[20] EuGH C-398/12, Urt. v. 5.6.2014 (M) = HRRS 2015 Nr. 1, Rdnr. 40.

[21] EuGH verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Urt. v. 11.2.2003 (Gözütok/Brügge), Rdnr. 33.

[22] EuGH Rs. C-60/12, Urt. v. 14.11.2013 (Baláž), Rdnr. 30.

[23] S. Burchard, Die Konstitutionalisierung der gegenseitigen Anerkennung – Manuskript der Habilitationsschrift, S. 442-525.

[24] Gut sichtbar ist das bezeichnenderweise in Gözütok/Brügge. Die Feststellung, dass das europäische ne bis in idem von keiner Harmonisierung oder Angleichung des mitgliedstaatlichen Strafrechts abhängig gemacht worden sei, hat den EuGH zur Aussage geführt: "Unter diesen Umständen impliziert das in[Art. 54 SDÜ]aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung unabhängig davon, ob es auf zum Strafklageverbrauch führende Verfahren unter oder ohne Mitwirkung eines Gerichts oder auf Urteile angewandt wird, zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde." Der EuGH leitet das gegenseitige Vertrauen mithin aus der Anerkennungspflicht ab, erachtet es als "notwendige Implikation" seines Auslegungsergebnisses. Der Gerichtshof bemüht also eine aussagenlogische als rhetorische Figur, namentlich eine "materiale Implikation". Die "Wahrheit" des einen Satzes soll eine hinreichende Bedingung für die "Wahrheit" des anderen Satzes sein. Das Auslegungsergebnis, dass auch nichtrichterliche Entscheidungen anzuerkennen sind, weil nur so die Freizügigkeit des Bürgers in Europa voll verwirklicht werden kann, soll also unwiderleglich dafür sprechen, dass die Mitgliedstaaten einander vertrauen und das europäische ne bis in idem von einem Vertrauensgrundsatz getragen ist. Dahinter steht Idee, dass gegenseitige Anerkennung im Besonderen bzw. zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Allgemeinen wechselseitiges Vertrauen voraussetzen sollen. Der Nachweis des ersten führt also zwingend zum Schluss auf den zweiten Teilsatz, der dann wiederum zum Nachweis des ersten Teilsatzes taugt. Logisch macht dies nicht viel Sinn, rhetorisch strahlt es aber große Überzeugungskraft aus.

[25] EuGH C-398/12, Urt. v. 5.6.2014 (M) = HRRS 2015 NR. 1, Rdnr. 34.

[26] Gaede , NJW 2014, 2990.

[27] Vgl. allgemein Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. (2014), § 10 Rdnr. 125.

[28] EuGH Rs. C 396/11, Urt. v. 29.01.2013 (Radu ) = HRRS 2013 Nr. 198.

[29] So lässt sich sehr frei deuten Zimmermann, Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union, S. 467.

[30] Kommissions-Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren, KOM(2005) 696 endg. v. 23.12.2005, insbes. S. 7.

[31] Vgl. allg. Voßkuhle/Kaufhold JuS 2011, 794, 795.

[32] Gaede NJW 2014, 2990, 2992.

[33] Stichwort: Auch rechtskräftige Entscheidungen von Staatsanwaltschaften etc. werden vom Schutzbereich der Art. 54 SDÜ, 50 GRC erfasst, weil der Beschuldigte sonst befürchten muss, im europäischen Ausland wegen derselben Straftat nochmals strafrechtlich belangt zu werden.

[34] GA Sharpston, Rs. C-398/12, Schlussanträge v. 6.2.2014 (M), Rdnr. 58.

[35] Darauf aufmerksam machend GA Sharpston, Rs. C-398/12, Schlussanträge v. 6.2.2014 (M), Rdnr. 58.

[36] EuGH Rs C-129/14 PPU, Urt. v. 27.05.2014 (Spasic), Rdnr. 54 ff. = HRRS 2014 Nr. 484; so auch BGHSt 56, 11, 15 = HRRS 2010 Nr.1053; zustimmend Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 27), § 10 Rdnr. 132; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. (2013), § 10 Rdnr. 70.

[37] Eser in Jürgen Meyer (Hrsg.), GRC, 4. Aufl. (2014), Art. 50 Rdnr. 16, dort auch m.w.N.

[38] Eser in Jürgen Meyer (Hrsg.), GRC (Fn. 37), Art. 50 Rdnr. 16.

[39] Berichtet in: GA Sharpston, Rs. C-398/12, Schlussanträge v. 6.2.2014 (M), Rdnr. 39.

[40] Vgl. hierzu allgemein die – von Deutschland nicht gezeichnete – European Convention on the Transfer of Proceedings in Criminal Matters, CETS No. 073, v. 15.4.1972.

[41] Insbesondere unter sachgemäßer Beteiligung des Beschuldigten!