HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2013
14. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Was darf das Revisionsgericht?

Eine Erwiderung auf VRiBGH Basdorf in der NStZ 4/2013 (S. 186 ff)

Von Andrea Groß-Bölting, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, Wuppertal

Der Aufsatz des Vorsitzenden des fünften Strafsenats des BGH, Clemens Basdorf, mit der im Titel aufgeworfenen Frage, was das Revisionsgericht dürfe, muss den Widerspruch von Strafverteidigern herausfordern. Dies gilt sowohl für einzelne inhaltliche Darstellungen, als auch für das mutmaßliche Ziel des Artikels und das möglicherweise hinter allem stehende Verständnis vom Strafprozess im Allgemeinen und dem Revisionsverfahren im Besonderen.

Zunächst verwundert das förmlich greifbare Bedauern Basdorfs bei der Offenbarung seines damaligen dissenting vote unter Zurückstellung des Beratungsgeheimnisses, im Jahr 1992 keinen tragbaren Grund für die Verwerfung des geschilderten Revisionsverfahrens gefunden zu haben und mit dem Vorschlag, eine Ressourcen schonende Beweisaufnahme direkt durch den BGH durchführen zu lassen, damals nicht durchgedrungen zu sein. Sitzt der Stachel nach so vielen Jahren so tief? Ist der Fall im Gedächtnis noch so präsent, weil der Erfolg einer Angeklagtenrevision – ausnahmsweise? – nicht verhindert werden konnte? Ist das Trauma so groß, dass es geboten ist, dass ein amtierender Senatsvorsitzender seine individuellen Rechtsansichten und deren Einfluss auf konkrete Senatsentscheidungen – damals und heute – veröffentlicht?

Auch der Eindruck, dass möglicherweise eine Entscheidung des eigenen Senats aus dem Vorjahr einer (weiteren) Erklärung in einem Aufsatz bedürfen könnte, irritiert ein wenig, weil Strafverteidiger aus ihrer praktischen Erfahrung davon ausgehen, das ein Gericht durch seine Entscheidungen spricht.

Gleichwohl bin ich für den Aufsatz Basdorfs sehr dankbar. Er gibt Gelegenheit zur offenen Kommunikation, zum Diskurs und zum Einblick in die Gedanken, die Revisionsrichter bei ihrer Arbeit bewegen, ohne dass Verteidiger dies aus Halbsätzen oder Zwischentönen – stets nicht sicher nachweisbar – herauslesen müssten. Das ist bei dieser Veröffentlichung anders.

Allerdings offenbart der Aufsatz aus Verteidigersicht mehr, als dem Autor lieb sein dürfte.

Die zumindest so geschilderte händeringende Suche nach einem Grund, die zulässig erhobene formelle Rüge bezüglich einer rechtsfehlerhaften Behandlung eines Beweisantrags durch das Tatgericht als unbegründet verwerfen zu können, wäre – wenn sich die Beratung so zugetragen haben sollte – nicht nur ein Fehlverständnis von der Bedeutung revisionsrechtlicher Kontrolle von erstinstanzlichen Urteilen. Die Schilderung Basdorfs legt nahe, dass in der Beratung ein wesentlicher Aspekt darin gesehen wurde, unsinnige Förmelei tunlichst zu vermeiden, wenn doch schon jedem das Ergebnis klar ist. Warum sollte ein im Ergebnis richtiges Urteil aufgehoben werden, nur weil ein formeller Fehler bei der Ablehnung eines Beweisantrags gemacht wurde, der Angeklagte aber sicher der Täter war?

Ein betriebswirtschaftlich einleuchtender, moderner Gedankengang. Ein Gedankengang, der voraussetzt, dass der verfassungsrechtlich immer noch als unschuldig zu betrachtende Angeklagte auch der wirkliche Täter ist.[1] Ein Gedankengang, der der Verlockung der Ressourcenfokussierung und dem Glauben aufsitzt, ein gerechtes Ergebnis könne auch ohne ordnungsgemäßes Strengbeweisverfahren auf andere Weise – weniger mühsam - erzielt werden. Ein Gedankengang, der Widerstand erfordert!

Sind die Mühen, Hürden und Regeln, welche die StPO zur Ermittlung der materiellen Wahrheit erfordert, ohne tiefergehende Bedeutung und ohne eigenen Wert? Sind sie nicht mehr einfachgesetzlich umgesetztes Verfassungsrecht, das den Bürger vor dem allzu schnellen Zugriff staatlicher Macht schützen soll? Gilt dieser Schutz nicht mehr für alle, sondern nur für die abgrenzbare Gruppe der "guten" Angeklagten? Woher nimmt ein Gericht/ein Richter die Gewissheit von der Schuld eines Angeklagten, wenn diese nicht in einem gesetzlich vorgeschriebenen, justizförmigen Verfahren festgestellt wurde? Warum sollte Verteidigungsvorbringen, die beim Angeklagten sichergestellten Spuren stammten nicht vom Getöteten, ohne Bedeutung für den Schuldnachweis sein? Seit wann ist die schützende Form des Verfahrens verhöhnbare und vernachlässigenswerte Förmelei? Seit wann dürfen Richter entscheiden, welche gesetzliche Regelung richtig und welche – zum Wohle eines vermeintlich guten Ziels – schlicht missachtet werden darf? Und seit wann ist es möglich, dass dies von einem Vorsitzenden eines Strafsenats des Bundesgerichtshofs öffentlich vertreten wird, ohne dass es einen Aufschrei unter den Strafjuristen gibt?

Ein derartiges Grundverständnis kann in einem Rechtsstaat nicht akzeptiert werden. Es beseitigt die Legitimität des staatlichen Strafanspruchs und verletzt die Grundrechte des Angeklagten.

Daran vermag eine wohlwollende, schmunzelnde oder schulterklopfende Goutierung anderer oder die Gewissheit, dem – ökonomisierten – Zeitgeist zu entsprechen, nichts zu ändern. Und daran vermag auch eine noch so kreative Begründung und ein noch so hehres Ziel für einen Rechtsbruch nichts zu ändern. Im Rechtsstaat heiligt der Zweck eben nicht die Mittel.

Basdorf beschreibt in seinem Aufsatz, dass er 20 Jahre später von dem Fall aus dem Jahr 1992 eingeholt zu werden scheint. Diesmal hat der Strafsenat unter seinem Vorsitz im Revisionsverfahren eine Beweiserhebung durchgeführt. Der Autor schreibt: "Diesmal hat der Senat im Revisionsverfahren veranlasst, dass dem Angeklagten eine neue DNA-Probe entnommen und diese begutachtet wurde. Erwartungsgemäß (Hervorhebung durch die Autorin) erbrachte die Begutachtung Übereinstimmung sowohl mit der unter den Alias-Personalien abgelegten Probe als auch mit der Tatortspur. Im Anschluss daran hat der Senat die Revision verworfen." Wohlgemerkt nach § 349 Abs. 2 StPO – wegen offensichtlicher Unbegründetheit![2]

Im Text heißt es wenige Zeilen weiter: "Es sollte kein Zweifel bestehen, dass ein in Gegenwart des Angeklagten gestellter Antrag mit einer Behauptung, deren Wahrheitswidrigkeit jedenfalls der Angeklagte nachweislich genau kennt…, als verlogen und daher missbräuchlich zu behandeln ist."

Nicht nur einem Verteidiger drängt sich die Frage auf, woraus sich die Erkenntnis des Rechtsmissbrauchs der Verteidigung in den Augen von Basdorf ergeben solle. Auch wenn jedem Juristen noch im Studium vermittelt wird, dass die sprachliche Nutzung von Floskeln wie "es sollte kein Zweifel bestehen, dass" gerade ein starker Hinweis auf angebrachte Zweifel ist, soll dem gesetzlich in der StPO nicht geregelten, richterrechtlichen allgemeinen Missbrauchsgedanken kurz nachgegangen werden.

Die neuere Rechtsprechung hat für einige Fallkonstellationen eine Missbrauchsgeneralklausel bemüht, deren Wirkung die Einschränkung oder Verwirkung von Prozessrechten nach sich zieht.[3] Wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrnehmung seiner verfahrensrechtlichen Belange dazu

benutzt, ausschließlich verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen, soll ein solcher Missbrauch vorliegen.[4]

Die Bewertung dessen, was gerade ausschließlich verfahrensfremden Zwecken dient, übernimmt nicht der Angeklagte, sondern ein Gericht, das sich zu Unrecht mit Arbeit konfrontiert sieht. Im Ergebnis bedeutet dies eine Beschränkung der Grundrechte des Angeklagten auf rechtliches Gehör und auf effektiven Rechtschutz. Für eine derartige Beschränkung von Grundrechten reicht eine richterrechtliche Legitimation nicht aus, es bedürfte gesetzlicher Regelungen, die es trotz zahlreicher gesetzgeberischer Aktivitäten an den Vorschriften der StPO und trotz der seit vielen Jahren geführten Missbrauchsdebatte bis heute – aus gutem Grund – nicht gibt. Die neue Rechtsprechung zur Missbrauchsgeneralklausel begegnet daher grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Der Gedanke im Aufsatz Basdorfs geht aber noch etwas weiter. Für seine Bewertung der Missbräuchlichkeit reicht bereits die Tatsache aus, dass der Antrag "verlogen" war. Ein verlogenes Handeln eines Angeklagten als Missbrauch von Verfahrensrechten (auch durch den Verteidiger) zu qualifizieren, erfordert logisch eine irgendwie geartete Verpflichtung des Angeklagten zur Wahrheit. Diese ist der StPO aber völlig fremd. Ein Angeklagter, der sicher weiß, dass er Täter der angeklagten Tat ist, darf seine Beteiligung bestreiten, er darf Prozesshandlungen vornehmen, die Zweifel säen oder die zur Unverwertbarkeit gesicherter Beweise führen. Das Menschenbild des Grundgesetzes und damit dasjenige der StPO geht davon aus, dass es menschlich und legitim, ja geboten ist, nicht durch die Verpflichtung zur Wahrheit an der eigenen Verurteilung mitwirken zu müssen.

Woraus ergibt sich also die Zulässigkeit dieser neuen Beschränkung des Beweisantragsrechts des Angeklagten? Aus der dogmatischen Einordnung dieser Prüfung als Freibeweisverfahren im Rahmen der Beruhensprüfung?

Die weiteren Ausführungen Basdorfs nähren den Verdacht, es könnte mit der dogmatischen Einordnung dieses neuen Prüfungsschrittes vielleicht doch nicht so weit her sein und es könnte sich um einen kreativen Trick handeln, die dem Revisionsgericht gesetzlich nicht zustehende Nachholung von tatrichterlicher Beweiserhebung im Strengbeweisverfahren zu ummänteln.[5] Schaut man nämlich etwas genauer hin, so zeigt sich, dass der fünfte Strafsenat seine Erhebungen im Freibeweis brauchte, um die Schuld des Angeklagten erst sicher nachweisen zu können. Erst nach diesem Schuldnachweis stellte sich seine Verfahrensrüge als "verlogen" und nur deshalb (sic!) als offensichtlich unbegründet dar. Das Vorgehen des Senats stellt die StPO auf den Kopf.

Wenn der Autor auf die Einzelfallgerechtigkeit und Wahrheitsfindung vor dem Hintergrund allgemeiner Gerechtigkeit widerstreitender Ressourcenknappheit abstellt, zielt das auf "zu Recht verurteilte" Angeklagte (woher das Revisionsgericht diese Gewissheit in jedem Einzelfall nimmt, ist mir noch nicht klar), die keine Erzwingung der Tatsacheninstanz wegen eines Verfahrensfehlers erreichen können sollen. Die Argumentation liegt auf einer Linie mit der von Tatrichtern manchmal freimütig geäußerten Überzeugung, dass die Staatsanwaltschaft schon keinen Unschuldigen anklage, so dass den Justizjuristen ein freisprechendes Urteil prinzipiell sachlich falsch zu sein und die Rolle eines möglichst zu vermeidenden Übels einzunehmen scheint.[6] Der Gedankengang widerspricht aber der verfassungsrechtlichen Unschuldsvermutung.[7] Die – subjektive – richterliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten steht am Ende des justizförmigen Verfahrens. Sie ist keine Legitimation für dessen Beschneidung und Abkürzung. Ob es "angemessen" erscheint, einem Angeklagten die Wiederholung einer Tatsacheninstanz zu ermöglichen, ist keine zulässige Frage für das Revisionsgericht. Die Wertentscheidung, wann dies zu erfolgen hat, hat das Gesetz abschließend getroffen.

Zudem stellt sich die Frage, wohin die revisionsrechtliche Beweiserhebung im Freibeweis führen soll. Welche Maßstäbe soll es dafür geben? Welche Kontrolle und Grenzen gibt es? Richterliche Lust und Laune ist jedenfalls kein Maßstab.

Die Antwort auf die von Basdorf gestellte Frage, was das Revisionsgericht darf, müsste m.E. lauten: Alles, aber auch nur das, was das Gesetz ihm ausdrücklich erlaubt.


[1] Interessanterweise kann belegt werden, dass neue Hauptverhandlungen nach Urteilsaufhebungen auch ohne jeden Bezug zum Aufhebungsgrund oft zu anderen Tatsachenfeststellungen führen (Vogelsang, Die Bedeutung erfolgreicher Verfahrensrügen für das nachfolgende tatrichterliche Urteil, eine rechtstatsächliche Untersuchung der Aufhebungsentscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen der Jahre 1992 und 1993 sowie der entsprechenden tatrichterlichen Urteile[2001]).

[2] Die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Definition ("Nach allgemeiner Ansicht ist eine Revision "offensichtlich" unbegründet, wenn für jeden Sachkundigen ohne längere Prüfung erkennbar ist, dass das Urteil in sachlich-rechtlicher Hinsicht keine Fehler aufweist und die Revisionsrügen des Beschwerdeführers dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg verhelfen können" – BVerfG NStZ 2002, 487, 489) ist bei einer zuvor notwendigen Beweiserhebung nicht erfüllt.

[3] BGH NStZ 2011, 294, 295; BGH NJW 2006, 708, 709 = BGH HRRS 2006, Nr. 103; BGH NJW 20063579, 3580 f = BGH HRRS 2006, Nr. 713; BGHSt 38, 111, 113; abl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 8. Aufl. (2013), Rn. 174; Fischer StV 2010, 423, 428.

[4] Vgl. hierzu die kritische Darstellung von Eschelbach ZAP 2013, 681 ff; ebenfalls krit. Jahn StV 2009, 663, 666

[5] Es ist ebenfalls der BGH, der dem Tatrichter die Umgehung des Strengbeweisverfahrens durch Freibeweis revisionsrechtlich untersagt (BGH StV 1995, 339).

[6] Vgl. hierzu Thielmann ZRP 2010, 89 ff.

[7] Der Gedankengang widerspricht auch der Erkenntnis, dass rechtskräftige Fehlurteile vorkommen, und der Erfahrung, dass ihre Rechtskraft dann sogar – sachlich zu Unrecht – hartnäckig verteidigt wird (vgl. Beispiele bei Bock/Eschelbach/Geipel/Hettinger/Röschke/Wille GA 2013, 328, 334 ff; Rick StraFo 2012, 400 ff; Rückert, Unrecht im Namen des Volkes[2007]).