HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2012
13. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

962. BGH Beschluss vom 28. August 2012 – 5 StR 251/12 (LG Dresden)

BGHSt; Selbstleseverfahren (unterlassene Entscheidung trotz Widerspruchs; kein Verlust der Revisionsrüge nach einem vor der Vorsitzendenanordnung erklärtem Widerspruch; Verlesung als im Vergleich zum Selbstleseverfahren grundsätzlich vorzugswürdige Methode der Einführung von Beweisstoff in die Hauptverhandlung); Beruhen (kein regelmäßiger Ausschluss des Beruhens bei unterlassener Entscheidung trotz Widerspruchs).

§ 249 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

1. Unterbliebener Gerichtsbeschluss bei Widerspruch gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens und Beruhen. (BGHSt)

2. Der durch das Unterbleiben eines Gerichtsbeschlusses trotz Widerspruchs gegen die Anordnung des Selbstleseverfahrens begründete Verstoß gegen § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO kann grundsätzlich mit der Revision gerügt werden. Es ist auch nicht regelmäßig auszuschließen, dass das Urteil auf einem solchen Verstoß beruht. Vielmehr ist stets die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass aufgrund des Gerichtsbeschlusses vom Selbstleseverfahren Abstand genommen worden wäre. (Bearbeiter)

3. Der gemäß § 249 Abs. 2 Satz 2 StPO erhobene Widerspruch betrifft lediglich das Absehen von der Verlesung, mithin die Art der Beweiserhebung und nicht die Verwertung der Urkunden als solche. Daher ist bei der Beruhensprüfung darauf abzustellen, ob ausgeschlossen werden kann, dass für den Fall alternativer Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO der in dem mangelhaft angeordneten Selbstleseverfahren eingeführten Urkunden ein abweichendes Beweisergebnis denkbar wäre, und zwar namentlich infolge hierbei erhobener erheblicher Einwände von Verfahrensbeteiligten. (Bearbeiter)

4. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verlesung jenseits prozessökonomischer Erwägungen die im Vergleich zum Selbstleseverfahren vorzugswürdige Methode der Einführung von Beweisstoff in die Hauptverhandlung darstellt. Eine Verlesung in der Hauptverhandlung kann den Verfahrensbeteiligten eine Chance geben, eher zu erkennen, welchen Urkunden oder Urkundeninhalten das Gericht besondere Bedeutung beimisst. Insbesondere ergibt sich durch die Verlesung die Gelegenheit für Erörterungen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des jeweiligen Beweismittels. (Bearbeiter)


Entscheidung

943. BGH 3 StR 309/12 - Beschluss vom 28. August 2012 (LG Mönchengladbach)

BGHSt; Eintragungen im Bundeszentralregister (Verwertungsverbot bei Einträgen aus getilgten oder tilgungsreifen Verurteilungen); Gutachten zum Bestehen eines Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten kein „Gutachten über den Geisteszustand“.

§ 66 StGB; § 51 Abs. 1 BZRG, § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG

1. Ein Gutachten zum Bestehen eines Hanges im Sinne von § 66 StGB und einer darauf beruhenden Gefährlichkeit eines Angeklagten ist kein „Gutachten über den Geisteszustand“, dessen Erstattung eine Verwertung von Taten aus im Zentralregister getilgten oder tilgungsreifen Verurteilungen erlaubt. (BGHSt)

2. Das gesetzliche Verwertungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 BZRG, demzufolge aus der Tat, die Gegenstand einer getilgten Verurteilung ist, keine nachteiligen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten gezogen werden dürfen, gilt auch, soweit über die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung zu entscheiden ist. Das Verwertungsverbot ist deshalb auch bei der nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. zu treffenden Entscheidung zu beachten, ob die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu schweren Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. (Bearbeiter)

3. Der Begriff „Geisteszustand“ in § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG zielt auf die vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB, die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung, den Schwachsinn oder die schwere andere seelische Abartigkeit, ab. Vom Gutachten über das Vorliegen eines dieser Merkmale ist die nach § 246a StPO vor der Anordnung der Sicherungsverwahrung durchzuführende sachverständige Begutachtung zu unterscheiden. Kommt die Unterbringung nach § 66 StGB in Betracht, soll dem Tatgericht eine Entscheidungshilfe für die Beurteilung gegeben werden, ob der Angeklagte infolge seines Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bei der Prüfung des Hanges im Sinne des § 66 StGB geht es somit im Ergebnis nicht in erster Linie um die Bewertung des Geisteszustands des Täters, sondern um die wertende Feststellung einer persönlichen Eigenschaft. (Bearbeiter)

4. Sinn und Zweck des Verwertungsverbots nach § 51 Abs. 1 BZRG ist es, den Angeklagten davor zu schützen, dass ihm nach Ablauf einer im Verhältnis zur erkannten Rechtsfolge kürzer oder länger bemessenen Frist straffreien Lebens alte Taten nochmals vorgehalten und zu seinem Nachteil verwertet werden. Dieses Schutzes bedarf der Angeklagte jedenfalls nicht in demselben Maße, wenn es um die Beurteilung der Schuldfähigkeit geht, da deren Ausschluss oder erhebliche Verminderung regelmäßig entweder die Bestrafung hindern oder die Strafe mildern. (Bearbeiter)

5. Die indizielle Verwertung im Register getilgter früherer Verurteilungen zur Feststellung eines Hanges im Sinne von § 66 StGB zum Nachteil des Angeklagten ist mehrfach beanstandet worden (BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 7; BGH NStZ-RR 2002, 332; zuletzt BGH StV 2007, 633 - nur obiter). Soweit der 4. Strafsenat in einer späteren, vom Landgericht für seine Rechtsauffassung in Anspruch genommenen Entscheidung (BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 8) in einem nicht tragenden Hinweis ohne nähere Begründung Zweifel an dieser Rechtsprechung angemeldet hat, teilt der Senat diese Bedenken aus den vorstehenden Gründen nicht. (Bearbeiter)


Entscheidung

960. BGH Ermittlungsrichter 3 BGs 262/12 2 BJs 162/11-2 – Beschluss vom 18. September 2012

BGHR; Nebenklageberechtigung des geschiedenen Ehegatten (Ausschluss der Nebenklageberechtigung bei einer Ehe zwischen türkischen Staatsangehörigen bereits aufgrund der rechtskräftigen Scheidung nach deutschem Recht).

§ 395 Abs. 2 Nr. 1; § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 406g Abs. 1, 3 Satz 1 Nr. 1 StPO; Art. 14 türk. IPRG; Art. 58 türk. IPRG

1. Zur Nebenklageberechtigung des Ehegatten im Falle einer in Deutschland rechtskräftig erfolgten Scheidung einer zwischen türkischen Staatsangehörigen geschlossenen Ehe bei Fehlen der nach dem anzuwendenden materiellen türkischen Recht erforderlichen Anerkennungsentscheidung. (BGHR)

2. Geschiedene Ehegatten sind nicht nebenklageberechtigt. Demgemäß kann ihnen auch nicht nach § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO in Verbindung mit § 397a Abs. 1 Nr. 2 StPO ein Rechtsanwalt als Beistand bestellt werden. (Bearbeiter)

3. Sind die geschiedenen Ehegatten türkische Staatsangehörige, mit der Folge, dass für deren Scheidung gemäß Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1, Art. 17 Abs. 1 EGBGB materielles türkisches Recht anzuwenden ist, ist eine Nebenklageberechtigung regelmäßig bereits dann ausgeschlossen, wenn ein nach deutschem Recht rechtskräftiges Scheidungsurteil vorliegt. Einer Anerkennungsentscheidung durch ein türkisches Gericht bedarf es insoweit nicht. (Bearbeiter)

4. Es kann dahinstehen, ob im Einzelfall besondere Umstände es rechtfertigen können, im Rahmen der § 406g Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 397a Abs. 1 Nr. 2, § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht auf die Rechtskraft des inländischen Scheidungsurteils, sondern auf die türkische Anerkennungsentscheidung abzustellen. Jedenfalls genügt eine spätere Wiederannäherung der geschiedenen Ehegatten nicht, um eine solche Ausnahme zu begründen. (Bearbeiter)


Entscheidung

969. BGH 5 StR 372/12 (alt: 5 StR 397/11) - Beschluss vom 25. September 2012 (LG Berlin)

Rechtsfehlerhafte Überzeugungsbildung bzgl. der Täterschaft (Anforderungen an die objektive Grundlage der Überzeugungsbildung; Mängel der Wiedererkennungsleistung eines Zeugen; Einzelbildvorlage; sequentielle Lichtbildvorlage; Videowahlgegenüberstellung; suggestiver Effekt der Einzellichtbildvorlage)

§ 261 StPO

1. Die zur richterlichen Überzeugungsbildung erforderliche persönliche Gewissheit setzt objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (BGH StV 2002, 235 und BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 26, jeweils mwN).

2. Der Identifizierung eines Angeklagten durch einen Zeugen kommt nur ein äußerst geringer Beweiswert zu, wenn dieser den Täter lediglich auf einer Einzelbildvorlage, nicht aber auf einer sequentiellen Lichtbildvorlage oder einer Videowahlgegenüberstellung erkennt. Zudem hat eine Einzelbildvorlage einen starken suggestiven Effekt, der zur Folge hat, dass der Beweiswert einer danach folgenden Identifikation in der Hauptverhandlung eingeschränkt wird.


Entscheidung

950. BGH 3 StR 348/12 - Beschluss vom 18. September 2012 (LG Mönchengladbach)

Recht auf ein faires Strafverfahren (Schweigerecht; Recht auf effektive Verteidigung; rechtsfehlerhafte Zurückweisung einer schriftlichen Erklärung des Angeklagten; Gewahrsam als Mittel zur Herbeiführung einer geständigen Einlassung; wesentliche Beschränkung der Verteidigung); Adhäsionsausspruch (Anforderungen an die Grundlage für die Bestimmung der Schmerzensgeldhöhe); Geiselnahme (Verhältnis von Prüfung eines minder schweren Falls und eines vertypten Milderungsgrundes aufgrund eines Täter-Opfer-Ausgleichs).

Art. 6 EMRK; § 136a StPO; § 338 Nr. 8 StPO; § 231 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 406 StPO; § 239b Abs. 2 StGB; § 46a StGB

1. Einzelfall einer nicht revisiblen Zurückweisung schriftlicher Einlassungen von Angeklagten durch das Zerreißen derselben und der Ingewahrsamnahme aller nicht geständigen Mitangeklagten nach der Ablegung eines Geständnisses durch einen der Mitangeklagten in der Hauptverhandlung.

2. Das Gericht ist verpflichtet, eine schriftliche Stellungnahme des Angeklagten zur Kenntnis zu nehmen (vgl. BGHSt 52, 175, 178). Insofern ist die Verfahrensweise, eine Entgegennahme der schriftlichen Erklärung des Angeklagten abzulehnen und diese gar zu zerreißen, fehlerhaft. Für den Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO ist jedoch eine kausale Beziehung zwischen der fehlerhaft unterbliebenen Kenntnisnahme und dem Urteil erforderlich.

3. Eine Ingewahrsamnahme nach § 231 Abs. 1 Satz 2 StPO setzt voraus, dass Anhaltspunkte dafür bestehen, der Angeklagte werde sich aus der Verhandlung entfernen. Werden die Grenzen des § 231 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht gezielt übertreten, lässt sich aus einer unbegründeten Ingewahrsamnahme während der Hauptverhandlung aber kein Verwertungsverbot hinsichtlich einer daraufhin gemachten Einlassung eines Angeklagten herleiten.


Entscheidung

1028. BGH 4 StR 108/12 - Urteil vom 30. August 2012 (LG Detmold)

Recht auf effektiven Verteidigerbeistand und Mandatsniederlegung (Aussetzung und Unterbrechung; faires Verfahren; Fürsorgepflicht; Vorbereitung der Verteidigung; Darlegungsvoraussetzungen in der Revision: Verfahrensrüge); Auswahl des Pflichtverteidigers; Beweisverwertungsverbot bei heimlich gefertigten Audioaufzeichnungen (Anforderungen an die Verfahrensrüge; Widerspruchslösung).

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. b und c EMRK; § 140 StPO; § 145 Abs. 3 StPO; § 265 Abs. 4 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 142 Abs. 1 StPO; Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 201 StGB; Art. 8 EMRK

1. Die Frage, ob eine Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung wegen einer Mandatsniederlegung geboten war, kann nur beurteilt werden, wenn feststeht, welche Informationen über den bisherigen Verfahrensgang dem neuen Verteidiger zur Verfügung standen. Dazu bedarf es nicht nur näherer Angaben zum Zeitpunkt und zum Inhalt der erfolgten Unterrichtung, sondern auch zur Person des Unterrichtenden, weil daraus

Schlüsse auf die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der übermittelten Informationen gezogen werden können. Die näheren Angaben muss die Revision nach dem Maßstab des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO darlegen. Dies gilt auch für den Verteidiger, der die Verteidigung in der Revision erst übernimmt.

2. Verfahrensvorgänge können eine veränderte Sachlage im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO herbeiführen, wenn sie geeignet sind, die Fähigkeit des Angeklagten zu einer sachgerechten Verteidigung zu beschränken. Der Wechsel des Verteidigers während der laufenden Hauptverhandlung ist ein solcher Verfahrensvorgang. Er schafft selbst dann eine veränderte Sachlage, wenn der neue Verteidiger sogleich an die Stelle des früheren tritt. Der § 265 Abs. 4 StPO wird nicht von § 145 Abs. 3 StPO verdrängt.

3. Ob auf eine veränderte Sachlage nach § 265 Abs. 4 StPO in Ausübung der prozessualen Fürsorgepflicht mit einer Aussetzung der Hauptverhandlung zu reagieren ist, steht im pflichtgemäß auszuübenden Ermessen des Gerichts und hängt vom Einzelfall ab. Anstelle einer Aussetzung kann es bei einem Verteidigerwechsel auch ausreichend sein, wichtige Verfahrensabschnitte zu wiederholen, um dem neuen Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich ein umfassendes eigenes Urteil von dem Beweisergebnis zu machen.

4. Ein nach § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO neu bestellter Verteidiger hat als unabhängiges Organ der Rechtspflege grundsätzlich selbst zu beurteilen, ob er für die Erfüllung seiner Aufgabe hinreichend vorbereitet ist. Zwar hat das Gericht über die Frage, ob die Fürsorgepflicht eine Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 265 Abs. 4 StPO gebietet, unabhängig von Anträgen und Erklärungen der Beteiligten zu entscheiden, doch kommt bei dieser Entscheidung der Einschätzung des neu bestellten Verteidigers und seinem Prozessverhalten eine maßgebliche Bedeutung zu. Stellt der neue Verteidiger seine Fähigkeit zu sachgerechter Verteidigung nicht in Frage, will er vielmehr die Hauptverhandlung ohne zeitliche Verzögerung fortsetzen und gibt auch der Angeklagte nicht zu erkennen, dass er mehr Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung benötigt, so ist das Gericht in der Regel nicht dazu berufen, seine Auffassung von einer angemessenen Vorbereitungszeit gegen den Verteidiger durchzusetzen und von diesem nicht angestrebte prozessuale Maßnahmen zu treffen.

5. Widerspricht der Angeklagte der ihm mitgeteilten Abwägung des neuen Pflichtverteidigers nicht, dass eine Fortsetzung der Verhandlung in seinem Interesse lag, ist das Gericht nur dann gehalten, von Amts wegen eine Aussetzung oder Unterbrechung der Hauptverhandlung anzuordnen, wenn sich die dem Prozessverhalten des Angeklagten und seines Verteidigers zu entnehmende Einschätzung der Sach- und Rechtslage als evident interessenwidrig darstellt und ohne diese Maßnahmen eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 c MRK) unter keinem Gesichtspunkt mehr gewährleistet gewesen wäre.

6. Die Auswahl eines Pflichtverteidigers ist nur dann nach § 142 Abs. 1 StPO ermessens- und damit rechtsfehlerhaft, wenn der ausgewählte Verteidiger aus nachvollziehbaren Gründen nicht das Vertrauen des Angeklagten genießt oder objektiv keine Gewähr für eine sachgerechte Verteidigung bietet.

7. Die Rüge, das Tatgericht habe mit der Verlesung des Protokolls der von der Nebenklägerin heimlich gefertigten Audioaufzeichnung gegen ein aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 GG, § 201 StGB abzuleitendes Beweisverbot verstoßen, ist nur zulässig erhoben, wenn das Verhalten des Angeklagten zu einer früheren Einführung des Beweismittels in das Verfahren geschildert wird.


Entscheidung

1035. BGH 4 StR 305/12 - Beschluss vom 23. August 2012 (LG Hagen)

Anforderungen an die Beweiswürdigung beim Vorwurf von Sexualstraftaten (Bedeutung schwer erklärlicher Erinnerungslücken zu sexuellen Kontakten mit dem Angeklagten; relative Bedeutung der Aussagekonstanz); schwerer sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger.

§ 261 StPO; § 179 StGB

1. Macht ein Zeuge in Bezug auf ein wenig vergessensanfälliges Erleben eine unter normalen Bedingungen nicht erklärbare Erinnerungslücke geltend, besteht Grund zu der Annahme, dass er dieses Thema meiden will und sein Aussageverhalten auch im Übrigen einer entsprechenden Steuerung unterliegt (hier: Erinnerungslücken hinsichtlich früherer sexueller Kontakte zum Angeklagten). Das Tatgericht muss in einem solchen Fall erörtern, ob die Nebenklägerin der Frage nach weiteren, insbesondere einvernehmlichen sexuellen Kontakten mit dem Angeklagten ausweichen wollte und – bejahendenfalls – inwieweit sich daraus Schlüsse auf eine entsprechende Steuerung ihrer Aussage auch in Bezug auf die Schilderung des Tatgeschehens ziehen lassen.

2. Die Erwägung, dass bei einer erfundenen Aussage eine „komplikationslose Verneinung“ der Frage nach einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu erwarten gewesen wäre, vermag die glaubwürdigkeitskritische Bedeutung der geltend gemachten Erinnerungslücke nicht zu entkräften.

3. Der Annahme, dass in der Übereinstimmung von Aussageinhalten in aufeinanderfolgenden Vernehmungen ein Indiz für das Vorliegen einer erlebnisbegründeten Aussage gesehen werden kann, liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Beobachtungen realer Vorgänge und eigene Erlebnisse zuverlässiger gespeichert werden, als aus dem Allgemeinwissen zusammengesetzte oder von Dritten vorgegebene Inhalte. Eine für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung bedeutsame Konstanz kann sich daher nur in Bezug auf hinreichend komplexe Sachverhaltsschilderungen ergeben. Sie lässt sich dagegen nur mit Einschränkungen auf die wiederholte Äußerung stützen, zu einem bestimmten Geschehen nichts mehr zu wissen.

4. Eine Inkonstanz in den Bekundungen eines Zeugen stellt einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann. Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge globale Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält.

5. In einem Fall in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten beeinflussen können.


Entscheidung

1020. BGH 2 StR 122/12 - Beschluss vom 6. September 2012 (BGH)

Unzulässige und unbegründete Befangenheitsanträge im Besetzungsstreit um den Vorsitz des 2. Strafsenates (gesetzlicher Richter: Rüge der nicht vorschriftsgemäßen Besetzung des Senates; Beurteilungsgrundlage).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 24 Abs. 2 StPO; § 26a Nr. 2 StPO; § 27 StPO

1. Der zur Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch berufene Spruchkörper darf bei seiner Entscheidung nur diejenigen Gründe berücksichtigen, die in dem Antrag innerhalb des von § 25 StPO vorgegebenen zeitlichen Rahmens geltend gemacht worden sind. Soweit in den im vorliegenden Verfahren erholten dienstlichen Erklärungen der abgelehnten Richter, der stattdessen von Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer vorgelegten Erklärung sowie dem Vermerk (nebst Anlage) von Richter am Bundesgerichtshof Dr. Eschelbach neue oder andere Umstände vorgebracht wurden, als sie der Antragsteller geltend gemacht hat, müssen sie daher unberücksichtigt bleiben.

2. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet. Der Gesetzgeber hat deshalb in materieller Hinsicht Vorsorge dafür zu treffen, dass die Richterbank im Einzelfall nicht mit Richtern besetzt ist, die dem zur Entscheidung anstehenden Streitfall nicht mit der erforderlichen professionellen Distanz eines Unbeteiligten und Neutralen gegenüberstehen (BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 2010 - 1 BvR 96/10, NZS 2011, 92 mwN). Befangenheit ist mithin ebenso wie die Unparteilichkeit auf den konkret zu entscheidenden Fall bezogen; sie bezieht sich auf die innere Haltung des Richters zum Verfahrensgang und zum Ausgang des betreffenden Verfahrens.

3. Etwaige Besetzungsfehler können als solche nicht den Vorwurf der Befangenheit begründen, sondern allenfalls mit einer Besetzungsrüge beanstandet werden.

4. Zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit völlig ungeeignet sind auch Erwägungen, die allein darauf abstellen, dass der 2. Strafsenat seine Rechtsansicht zu seiner ordnungsgemäßen Besetzung bzw. den sich daraus ergebenden Folgen (Aussetzung oder Weiterführung des Verfahrens) geändert hat. Neue oder bessere Rechtserkenntnis kann für sich eine Befangenheit nicht begründen.

5. Auch nach den dienstlichen Erklärungen von Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Krehl wurde mit oder während der Anhörung durch das Präsidium des Bundesgerichtshofs am 18. Januar 2012 bzw. nach der Einsichtnahme des Präsidenten des Bundesgerichtshofs in ein Senatsheft kein „Druck“ ausgeübt, der sich in irgendeiner Weise auf Entscheidungen des 2. Strafsenats in der Sache, also über den Erfolg oder Misserfolg der Rechtsmittel der bei diesem Senat anhängigen oder anhängig werdenden Verfahren, bezog.


Entscheidung

1017. BGH 1 StR 442/12 - Beschluss vom 25. September 2012 (LG München I)

Spezialitätsgrundsatz (Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl; andere Handlung; Abweichung bei den Tatzeiten: bloße Schreibfehler).

§ 11 IRG; § 83h Abs. 1 IRG; Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten

1. Ein Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz liegt auch nach Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten nicht vor, wenn die Tatzeiten im Europäischen Haftbefehl mit denen nach den Urteilsfeststellungen im Anordnungsstaat übereinstimmen.

2. Es bleibt offen, inwieweit ein Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz bei Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls, wobei es sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union um kein Verfahrens-, sondern um ein Vollstreckungshindernis und ein Verbot freiheitsbeschränkender Maßnahmen handelt, grundsätzlich revisionsgerichtlicher Prüfung unterliegt und ob es dazu jedenfalls der Erhebung einer Verfahrensrüge bedarf.


Entscheidung

1040. BGH 4 StR 354/12 - Beschluss vom 25. September 2012 (LG Dessau-Roßlau)

Adhäsionsentscheidung ohne Beteiligung oder Anhörung des Betreuers (Interessenwahrnehmung durch den Verteidiger).

§ 404 StPO; § 137 StPO; § 149 Abs. 2 StPO; § 51 Abs. 1 ZPO; § 53 ZPO; § 1902 BGB; § 1903 BGB

Dass für den Angeklagten eine Betreuung eingerichtet ist, die auch den Aufgabenkreis „Abwehr und Geltendmachung von Ansprüchen“ umfasst, steht einer ohne Beteiligung oder Anhörung des Betreuers getroffenen Adhäsionsentscheidung nicht entgegen. Die Wahrnehmung der Interessen des Angeklagten im Strafverfahren liegt allein in den Händen des (notwendigen) Verteidigers. Auch eine entsprechende Anwendung von § 149 Abs. 2 StPO auf den Betreuer scheidet aus.


Entscheidung

1014. BGH 1 StR 389/12 - Beschluss vom 23. August 2012 (LG Ravensburg)

Beurteilung der Schuldfähigkeit und Rekonstruktionsverbot (Schizophrenie; Schilderung der Bewertung durch den Sachverständigen im Urteil).

§ 20 StGB; § 72 StPO; § 261 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 4 StPO

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind behauptete Widersprüche zwischen dem Inhalt des Urteils und den Akten oder dem Verlauf der

Hauptverhandlung, wenn sie sich nicht aus den Urteilsgründen selbst ergeben, für sich allein regelmäßig revisionsrechtlich unerheblich. Eine Rekonstruktion der tatrichterlichen Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht widerspricht der Ordnung des Revisionsverfahrens (vgl. BGH NStZ 1992, 506, 507; 1997, 296; 2008, 55).

2. Auch wenn die im Urteil mitgeteilten Ausführungen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht dem Ergebnis seines vorbereitenden schriftlichen Gutachtens übereinstimmen, kommt es allein auf das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten an. Für dessen Würdigung kann es jedoch bedeutsam sein, wenn der Sachverständige im Laufe des Verfahrens seine Meinung geändert hat. Hier lassen sich jedenfalls die folgenden Fallgestaltungen unterscheiden:

a) Sind in ihrer Bedeutung klar erkennbare neue Erkenntnisse angefallen, bedürfte eine hierauf beruhende Änderung der Auffassung des Sachverständigen keiner besonderen Erklärung.

b) Beruhte die Änderung auf für die übrigen Verfahrensbeteiligten weniger offenkundigen Erkenntnissen, müssten sich allein daraus – ebenfalls – noch keine Bedenken gegen das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten ergeben. Die für die Änderung maßgeblichen Gesichtspunkte wären aber eingehender als die für jedermann erkennbare Änderung von Erkenntnissen zu erläutern und sollten zweckmäßigerweise – zumindest knapp – auch in den Urteilsgründen dargelegt werden (vgl. schon BGHSt 8, 113, 116 mwN).

c) In einem – nach forensischer Erfahrung allenfalls seltenen – Fall, in dem ein Sachverständiger überhaupt keinen (nachvollziehbaren) Grund für die Änderung seiner Auffassung nennen könnte, würde dies Zweifel an seiner Sachkunde wecken und die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen nahelegen. Jedenfalls könnten danach die Ausführungen dieses Sachverständigen allein schwerlich maßgebliche Grundlage richterlicher Überzeugungsbildung sein.

3. Die Entscheidung über Verfahrensrügen, die auf Unterschiede zwischen einem vorbereitenden und dem in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachten gestützt sind, erfordert regelmäßig einen inhaltlichen Vergleich zwischen den beiden Gutachten. Der Revisionsführer hat in einem solchen Fall regelmäßig jedenfalls den wesentlichen Kern des ursprünglichen Gutachtens vorzutragen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) und kann sich nicht auf die Mitteilung beschränken, das ursprüngliche Gutachten sei zu einem anderen Ergebnis gekommen.

4. Schizophrenie führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten Aufhebung der Schuldfähigkeit führt.

5. Hilfsweise angebrachte Verfahrensrügen sind unzulässig.


Entscheidung

997. BGH 4 StR 247/12 - Beschluss vom 21. August 2012 (LG Kaiserslautern)

Anordnung der Sicherheitsverwahrung (Einbeziehung bereits getilgter Verurteilungen in die Gefährlichkeitsprognose).

§ 66 Abs. 3 Satz 2; § 51 Abs. 1 BZRG; § 52 Abs. 1 Nr. 2 BRZG

1. Durch § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG soll vermieden werden, dass ein Sachverständiger, der ein Gutachten über den Geisteszustand des Betroffenen zu erstellen hat, zu falschen oder nicht belastbaren Aussagen gelangt, weil er bei der Persönlichkeitsanamnese auf bedeutsame Erkenntnisse verzichten muss, die nur aus den früheren Taten des Betroffenen und dem anschließenden Strafverfahren gewonnen werden können

2. § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG hebt das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 Nr. 1 BZRG daher nur für Erkenntnisse aus der getilgten oder tilgungsreifen Verurteilung auf, deren Verwendung für eine tragfähige Beurteilung des Geisteszustandes des Betroffenen im konkreten Einzelfall erforderlich ist. Eine zulässig bei der Beurteilung des Geisteszustands berücksichtigte frühere Tat darf daher nicht auch an anderer Stelle zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden (vgl. BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 2).


Entscheidung

980. BGH 1 StR 324/12 - Beschluss vom 5. September 2012 (LG Mosbach)

Gefährliche Körperverletzung; Notwehr; Beweiswürdigung und Schweigerecht.

§ 224 Abs. 1 StGB; § 32 StGB; § 261 StPO; Art. 6 EMRK

Aus dem ursprünglichen, einem Schweigen gleichzusetzenden pauschalen Abstreiten einer Tatbeteiligung durch den Angeklagten darf kein Schluss zu dessen Nachteil gezogen werden (vgl. BGHSt 38, 302, 305, 307). Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte in einem früheren Verfahren von Beginn an auf Notwehr berufen hat.


Entscheidung

978. BGH 1 StR 212/12 (alt: 1 StR 354/11) - Beschluss vom 25. September 2012 (LG Augsburg)

Anforderung an zur Urteilsgrundlage gemachten Feststellungen und Strafzumessungserwägungen (kein Verweis auf ein aufgehobenes früheres Urteil).

§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO verlangt eine in sich geschlossene Darstellung der vom Gericht zur Urteilsgrundlage gemachten Feststellungen. Bezugnahmen auf außerhalb der Urteilsgründe befindliche Aktenteile sind nur ausnahmsweise zulässig (vgl. § 267 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 4 Satz 1 StPO). Auf mit dem früheren Urteil aufgehobene, also nicht mehr existente Feststellungen, verbietet sich eine Bezugnahme von selbst. Auch die Feststellungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten im aufgehobenen ersten Urteil müssen vom neuen Tatrichter neu getroffen werden.

2. Gleiches gilt für nicht mehr existente Strafzumessungserwägungen.


Entscheidung

1039. BGH 4 StR 350/12 - Beschluss vom 9. Oktober 2012 (LG Magdeburg)

Unzulässige Revision der Nebenklage (Gesetzesverletzung, die zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt; Misshandlung eines Schutzbefohlenen).

§ 400 Abs. 1 StPO; § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO; § 225 StGB

Nach dem Tod des Opfers kann sich die Berechtigung zum Anschluss als Nebenkläger nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allein aus § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO ergeben. Rechtswidrige Taten im Sinne dieser Vorschrift sind Straftaten gegen das Leben sowie solche, die durch den Tötungserfolg qualifiziert sind. Die Misshandlung eines Schutzbefohlenen nach § 225 StGB genügt hierfür nicht.