HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2012
13. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

792. BGH 1 StR 98/12 – Urteil vom 7. August 2012 (LG Nürnberg-Fürth)

Unbegründeter Antrag auf nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (neue Tatsachen; Vorbehaltsverfahren: unterbliebene Entscheidung).

§ 66b Abs. 1 und 2 StGB; § 66a StGB; § 2 Abs. 6 StGB; Art. 316e Abs. 1 EGStGB

1. Als Grundlage einer – nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NStZ

2011, 450 ff.) noch längstens bis zum Ablauf des 31. Mai 2013 möglichen – nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB a.F. darf eine solche Maßnahme nur noch dann ausgesprochen werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet.

2. Im Übrigen ist Voraussetzung einer solchen Anordnung, dass sich diese nur auf solche „neuen“ Tatsachen stützen kann, die „nach einer Verurteilung“ und „vor dem Ende des Vollzuges“ erkennbar geworden sind. Dabei kommt es nicht auf den Entstehungszeitpunkt der Tatsachen, sondern allein auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme und Berücksichtigung im vorangegangenen Strafverfahren an (BGHSt 50, 121 ff.). Maßgeblich für die Frage, ob eine Tatsache „neu“ ist, ist demnach der letztmögliche Zeitpunkt, zu dem eine (primäre) Sicherungsverwahrung hätte angeordnet werden können (BGHSt 52, 213 ff.). Hierzu zählt auch die Entscheidung im Vorbehaltsverfahren; denn diese ist Bestandteil des Erkenntnisverfahrens.

3. Nicht anders zu beurteilen ist der Fall, in dem eine Entscheidung über den Vorbehalt ganz unterblieben ist. Der Verurteilte ist so zu stellen, als sei die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Vorbehaltsverfahren rechtskräftig abgelehnt worden. Die Einhaltung der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a.F. stellt eine grundsätzlich verbindliche materiellrechtliche Voraussetzung für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung dar (BGHSt 51, 159 ff.).

4. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Das hiernach zwingende Ergebnis kann nicht dadurch umgangen werden, dass Tatsachen, die als Grundlage einer auf § 66a StGB gestützten Sicherungsverwahrung nicht (mehr) herangezogen werden können, stattdessen Grundlage einer auf § 66b StGB a.F. gestützten Sicherungsverwahrung werden.


Entscheidung

794. BGH 1 StR 343/12 – Beschluss vom 22. August 2012 (LG Kempten)

Rechtsfehlerhafte Versagung der Aussetzung zur Bewährung (besondere Umstände; Kriminalprognose).

§ 56 StGB; § 337 StPO

Die ggf. bestehende Erwartung, der Angeklagte werde sich künftig straffrei führen, kann auch für die Beurteilung bedeutsam sein kann, ob besondere Umstände gemäß § 56 Abs. 2 StGB angenommen werden können (BGH NStZ-RR 2006, 375 mwN); ebenso verhält es sich mit den einer eventuellen günstigen Prognose zugrunde liegenden Umständen. Die Beurteilung der Kriminalprognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB ist gegenüber der Frage nach den besonderen Gründen vorrangig.


Entscheidung

878. BGH 3 StR 132/12 – Urteil vom 2. August 2012 (LG Stade)

Anforderungen an die Urteilsgründe bei der Strafzumessung (Beschränkung auf Erörterung bestimmender Umstände; tatrichterliche Entscheidung über die Wesentlichkeit eines Umstands).

§ 46 StGB; § 267 Abs. 3 S. 1 StGB

1. Gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 StGB hat das Gericht die Umstände gegeneinander abzuwägen, die für und gegen den Täter sprechen. Dies bedeutet indes nicht, dass jeder derartige Umstand der ausdrücklichen Erörterung in den Urteilsgründen bedarf und dass die Nichterörterung stets einen Rechtsfehler begründet. Das Gericht ist vielmehr lediglich verpflichtet, in den Urteilsgründen die für die Strafzumessung bestimmenden Umstände darzulegen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); eine erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen ist weder vorgeschrieben noch möglich (zuletzt etwa BGH NStZ-RR 2008, 343). Was als wesentlicher Strafzumessungsgrund anzusehen ist, ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls vom Tatrichter zu entscheiden.

2. Bei diesem Ausgangspunkt ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es eine rechtsfehlerfreie Strafzumessungsentscheidung darstellt, wenn das Tatgericht ausschließlich für den Angeklagten sprechende Gesichtspunkte erwägt und gleichwohl eine im oberen Bereich des Strafrahmens angesiedelte Strafe verhängt; Voraussetzung ist lediglich, dass das Tatgericht auch gegen den Angeklagten sprechende Umstände feststellt, mag es diese auch nicht als bestimmend im Sinne von § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO ansehen und daher in den schriftlichen Urteilsgründen bei der Strafzumessung nicht anführen.


Entscheidung

802. BGH 2 StR 111/12 – Urteil vom 25. Juli 2012 (LG Erfurt)

Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei einem Bandido (einschränkende verfassungskonforme Auslegung; schwere Gewalt- und Sexualkriminalität; Unerlässlichkeit; strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung; lebenslange Freiheitsstrafe; formelle Voraussetzungen).

§ 66 StGB; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; Art. 5 EMRK

1. Hat die Kammer, die das Vorliegen eines Hangs als materielle Anordnungsvoraussetzung der Sicherungsverwahrung bejaht hat, nicht erkennbar von dem ihr nach § 66 Abs. 2 StGB nF zustehenden Ermessen Gebrauch gemacht, ist es dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt, die fehlende Ermessensentscheidung des Tatrichters zu ersetzen. Anderes kann jedoch im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG vom 4. Mai 2011 (a.a.O.) infolge der gebotenen strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie wegen der Besonderheiten des Einzelfalles anzunehmen sein, wenn bei einer pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens nach § 66 Abs. 2 StGB nF die Anordnung der Sicherungsverwahrung neben der lebenslangen Freiheitsstrafe verhängt werden könnte.

2. Zwar ist nach dem Wortlaut des Gesetzes die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch neben lebenslanger Freiheitsstrafe möglich. § 66 Abs. 2 StGB ist jedoch nach den Feststellungen des BVerfG derzeit wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG verfassungswidrig. Die Vorschrift bleibt bis zu einer

Neuregelung – längstens bis 31. Mai 2013 – durch den Gesetzgeber nur unter eingeschränkten Voraussetzungen anwendbar (BVerfG aaO). Eingriffe in das Freiheitsrecht des Angeklagten dürfen in der Übergangsphase nach Maßgabe einer auf den Einzelfall bezogenen, besonders strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung nur soweit reichen, wie sie unerlässlich sind, um die Ordnung des betreffenden Lebensbereiches aufrecht zu erhalten.


Entscheidung

915. BGH 5 StR 196/12 – Beschluss vom 15. August 2012 (LG Kiel)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (Verhältnis zur Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus bei möglicherweise vorliegender verminderter Schuldfähigkeit; Zweifelsgrundsatz; Überweisung in den Vollzug).

§ 66 StGB; § 63 StGB; § 67a Abs. 2 StGB; § 72 Abs. 1 Satz 2 StGB

Namentlich im Blick auf die künftig im Zusammenhang mit dem Vollzug der Sicherungsverwahrung strikt einzuhaltenden Therapiekonzepte erscheint es dem Senat im hiesigen Einzelfall entbehrlich, näher in Betracht zu ziehen, ob es der Zweifelsgrundsatz gebieten könnte, eine Unterbringung nach § 63 StGB anstelle einer Unterbringung nach § 66 StGB in Anwendung des § 72 Abs. 1 Satz 2 StGB ausnahmsweise auch anzuordnen, wenn die Voraussetzungen des § 21 StGB möglicherweise, aber nicht sicher gegeben sind.


Entscheidung

783. BGH 4 StR 311/12 – Beschluss vom 21. August 2012 (LG Bochum)

Begriff des Hanges und des symptomatischen Zusammenhangs bei Cannabisabhängigkeit (Unterbringung in einer Entziehungsanstalt).

§ 64 StGB

1. Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung ausreichend eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.). Nicht erforderlich ist, dass beim Täter bereits eine Persönlichkeitsdepravation eingetreten ist (BGH NStZ-RR 2008, 8). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur eine indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus (NStZ 2008, 198).

2. Für die Maßregelanordnung nach § 64 StGB kommt es auch nicht darauf an, dass der Angeklagte die Taten im Zustand zumindest verminderter Schuldfähigkeit begangen hat (BGH NStZ-RR 2004, 78, 79).

3. Nach ständiger Rechtsprechung ist nicht erforderlich, dass der Hang die alleinige Ursache für die Anlasstaten ist. Vielmehr ist ein symptomatischer Zusammenhang auch dann zu bejahen, wenn der Hang neben anderen Umständen mit dazu beigetragen hat, dass der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat, und dies bei unverändertem Suchtverhalten auch für die Zukunft zu besorgen ist (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 78, NStZ-RR 2011, 309).


Entscheidung

864. BGH 2 StR 103/12 – Urteil vom 27. Juni 2012 (LG Köln)

Mord (niedrige Beweggründe bei Beziehungstaten); besondere Schwere der Schuld (Umfang der revisionsgerichtlichen Prüfung).

§ 211 StGB; § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

Die Entscheidung der Frage, ob die besondere Schwere der Schuld zu bejahen ist, hat der Tatrichter unter Abwägung der im Einzelfall für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände zu treffen. Zwar ist dem Revisionsgericht bei der Nachprüfung der tatrichterlichen Wertung eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle versagt; insbesondere ist es gehindert, seine eigene Wertung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen. Es hat jedoch zu prüfen, ob der Tatrichter alle maßgeblichen Umstände bedacht und rechtsfehlerfrei abgewogen hat (vgl. BGHSt 40, 360, 370).


Entscheidung

852. BGH 4 StR 191/12 – Beschluss vom 3. Juli 2012 (LG Itzehoe)

Nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe (Einbeziehung von Strafen nach Ablauf der Bewährungszeit).

§ 55 StGB

Dass die Bewährungszeit aus einer vorherigen Strafe bereits abgelaufen ist, belegt nicht, dass diese Strafe bei der Gesamtstrafenbildung außer Betracht zu bleiben hatte, weil ihr Erlass ungebührlich lange hinausgezögert worden ist und der Angeklagte deshalb auf ihre Nichtberücksichtigung vertrauen durfte. Ein Erfahrungssatz, dass eine solche Verzögerung regelmäßig auf Versäumnissen der Justizbehörden beruht und zu einem Vertrauenstatbestand bei dem Angeklagten geführt hat, besteht nicht.


Entscheidung

879. BGH 3 StR 148/12 – Beschluss vom 31. Juli 2012 (LG Rostock)

Anordnung der Sicherungsverwahrung (erhöhte Anforderungen; „strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung“).

§ 66 StGB

Wegen der derzeit verfassungswidrigen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung ist eine „strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung“ geboten, wenn diese gleichwohl angeordnet werden soll. Dies ist dahin zu verstehen, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit – mithin der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung – ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist (BGH StV 2011, 673). Ein „gewisses Rückfallrisiko“, eine „ungünstige Kriminalprognose“ oder eine „prognostische Wahrscheinlichkeit“ reichen nicht aus, um den nach diesen Vorgaben notwendigen erhöhten Grad der Gefährlichkeit zu begründen.