HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2012
13. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

375. BGH 3 BGs 82/12 / 2 BJs 8/12-2 – Beschluss vom 9. Februar 2012 (Ermittlungsrichter des BGH)

Anordnung von Beschränkungen in der Untersuchungshaft (gesetzliche Grundlage; Zuständigkeit); Vorrang des Bundesrechts; Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers.

§ 119 StPO, § 126 Abs. 1 StPO, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 133 NJVollzG, 134a Abs. 1 Satz 2 NJVollzG

1. Sitzt der Beschuldigte aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs in Untersuchungshaft, ist für die Anordnung von Beschränkungen, die dem Beschuldigten aufgrund des Zwecks der Untersuchungshaft aufzuerlegen sind, gemäß § 126 Abs. 1, § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs bis zur Anklageerhebung auch dann zuständig, wenn die Untersuchungshaft in Niedersachsen vollzogen wird. § 134a Abs. 1 Satz 2 NJVollzG ändert hieran nichts. (BGHR)

2. Die aufgrund des Zwecks der Untersuchungshaft erforderlichen Beschränkungen bestimmen sich (auch) in diesem Fall nach § 119 StPO und nicht nach §§ 133 ff. NJVollzG (entgegen Oberlandesgericht Celle, StV 2010, 194; Anschluss an OLG Oldenburg, StV 2008, 195; vgl. auch OLG Frankfurt, NStZ-RR 2010, 294; OLG Rostock, NStZ 2010, 350; OLG Hamm, NStZ-RR 2010, 221 [3. Strafsenat] und NStZ-RR 2010, 292 [2. Strafsenat]; KG, StV 2010, 370; OLG Köln, NStZ 2011, 55). (BGHR)

3. Der Bundesgesetzgeber kann im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung – ungeachtet der Änderung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034) – solche Maßnahmen regeln, die den Zweck der Untersuchungshaft (Abwehr von Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahren) betreffen. Hiervon hat er in Form des § 119 StPO abschließend Gebrauch gemacht. (Bearbeiter)

4. Den Landesgesetzgebern fehlt sowohl die Gesetzgebungskompetenz zur Schaffung von Regelungen, die den Zweck der Untersuchungshaft unmittelbar betreffen, wie auch die Gesetzgebungskompetenz für eine Änderung der haftrichterlichen Zuständigkeit. Dies betrifft namentlich die richterliche Zuständigkeit in Ermittlungsverfahren, die in die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts beim BGH und damit hinsichtlich der vor Anklageerhebung zu treffenden gerichtlichen Maßnahmen in die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des BGH fallen. (Bearbeiter)


Entscheidung

423. BGH 1 StR 623/11 – Beschluss vom 6. März 2012 (LG Traunstein)

Pflicht zur Eröffnung des Tatvorwurfs (Täuschung; kriminalistische List; Verwertungsverbot bei Vorenthaltung des Tatvorwurfs: Auswirkung auf das Aussageverhalten); Hinweispflicht bei der Annahme eines anderen Mordmerkmals und gebotene Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens (Einstellung durch die Verteidigung).

§ 265 Abs. 1, Abs. 4 StPO; § 211 StGB; § 163a Abs. 4 StPO; § 136 Abs. 1 Satz 2 bis 4 StPO; § 136a StPO

1. Unbeschadet der Möglichkeit, aus ermittlungstaktischen Gründen nicht stets jedes schon bekannte Detail offen zu legen, ist dem Beschuldigten der ihm vorgeworfene Sachverhalt zumindest in groben Zügen zu eröffnen. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Eröffnung im Einzelnen hat der Vernehmende damit einen gewissen Beurteilungsspielraum. Dessen Grenzen sind jedoch überschritten, wenn dem Beschuldigten eines Gewaltdelikts der Tod des Opfers nicht eröffnet wird. Ohne Hinweis auf diesen die Tat prägenden Gesichtspunkt ist sie nicht einmal in groben Zügen eröffnet. Zum Beispiel der ohnehin nicht sehr klare Hinweis, es gehe um das „Schlimme“, was der Beschuldigte dem Tatopfer angetan habe, reicht daher nicht aus.

2. Der Senat lässt die Frage offen, ob ein Verwertungsverbot hinsichtlich einer Aussage besteht, der ein Verstoß gegen diese Eröffnungspflicht vorangegangen ist. Ein Verwertungsverbot kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn ein Belehrungsdefizit das Aussageverhalten des Vernommenen nicht beeinflusst hat. Zu einem Einzelfall des Belegs eines unveränderten Aussageverhaltens, wenn dem Beschuldigten die vorenthaltene Information naheliegend bekannt war.

3. Mängel der polizeilichen Belehrung können das Verfahren erheblich belasten, im Einzelfall sogar den Bestand eines Urteils gefährden. Es gehört auch zu den Aufgaben der Staatsanwaltschaft, im Rahmen ihrer Verantwortung für die Gesetzmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens, auch soweit es von der Polizei durchgeführt wird, auf die korrekte Einhaltung der Belehrungsbestimmungen und erforderlichenfalls möglichst auf die Korrektur (wie hier) erkennbarer Mängel hinzuwirken. Dies gilt für alle Ermittlungsverfahren, hat aber in sog. Kapitalsachen besonderes Gewicht.

4. Die Auffassung, es könne bei der Beurteilung der Frage, ob die Hauptverhandlung auszusetzen oder zumindest zu unterbrechen ist (§ 265 Abs. 4 StPO), von Bedeu-

tung sein, ob der vorangegangene Hinweis auf einer Änderung des Sachverhalts oder allein auf einer geänderten rechtlichen Bewertung des unveränderten Sachverhalts beruht, trifft zu. Wenn Anklage und Eröffnungsbeschluss nicht sehr klar letztlich von unterschiedlichen Sachverhalten ausgehen, führt diese Unklarheit aber auch unmittelbar zu einer ebenso in der Entscheidung zu berücksichtigen Unklarheit des Hinweises. Sie steigert sich gegebenenfalls zusätzlich, wenn die geänderte rechtliche Bewertung nach dem Tatgericht lediglich „unter Umständen“ Platz greifen soll.

5. Bei dem Hinweis auf ein zusätzlich in Betracht kommendes Mordmerkmal ist in der Entscheidung über eine Aussetzung oder eine Unterbrechung zu bedenken, dass die Annahme mehrerer voneinander unabhängiger Mordmerkmale wie Heimtücke und niedrige Bewegründe für die Schuldschwere (§ 57a StGB) bedeutsam sein kann.

6. Auf Vorwürfe, die von der zugelassenen Anklage abweichen, braucht sich der Angeklagte nicht einzustellen; daher ist er ausdrücklich auf eine mögliche Änderung der Beurteilung hinzuweisen. Eine nach einem solchen Hinweis mögliche Folge kann daher nicht deshalb abgelehnt werden, weil der Angeklagte (bzw. sein Verteidiger) den Inhalt des Hinweises nicht vorausgesehen und sich entsprechend hierauf auch nicht vorbereitet hat.


Entscheidung

413. BGH 1 StR 43/12 – Urteil vom 21. März 2012 (LG Weiden i.d.OPf.)

Verwertbare Erinnerungen des Ermittlungsrichters bei einer Aussage über eine frühere Zeugenvernehmung im Ermittlungsverfahren (Vernehmung einer zeugnisverweigerungsberechtigten Person; ergänzende Verlesung des Protokolls; Vorbereitungspflichten des Ermittlungsrichters; Abgrenzung Vorhalt und verwertbare Äußerung; Beruhen).

§ 52 StPO; § 252 StPO; § 69 StPO; § 337 StPO

1. Frühere Vernehmungen eines die Aussage gemäß § 52 StPO verweigernden Zeugen dürfen grundsätzlich nicht verwertet werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf dann nur das herangezogen werden, was ein vernehmender Richter über die vor ihm gemachten Angaben des über sein Zeugnisverweigerungsrecht ordnungsgemäß belehrten Zeugen aus seiner Erinnerung bekundet. Hierzu darf ihm sein Vernehmungsprotokoll – notfalls durch Verlesen – vorgehalten werden. Dies darf allerdings nicht dazu führen, den Inhalt der Niederschrift selbst für die Beweiswürdigung heranzuziehen. Verwertbar ist vielmehr nur das, was auf den Vorhalt hin in die Erinnerung des Richters zurückkehrt, und es genügt nicht, wenn er lediglich erklärt, er habe die Aussage richtig aufgenommen.

2. Eine Verwertung der protokollierten Aussage des Zeugen ist auch dann unzulässig, wenn sie die Erinnerung des aussagenden früheren Vernehmungsrichters lediglich ergänzen soll. Auf einem Verstoß hiergegen muss das Urteil aber nicht beruhen.

3. Ein zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge wird regelmäßig deshalb durch den Ermittlungsrichter vernommen, weil bei einer späteren Zeugnisverweigerung nur die Aussage des Ermittlungsrichters über die Angaben des Zeugen verwertbar ist. In derartigen Fällen, erfahrungsgemäß oft Gewalt- und/oder Sexualdelikte zum Nachteil von Frauen oder Kindern, hat der Ermittlungsrichter daher die Pflicht, sich schon während der von ihm durchgeführten Vernehmung intensiv darum zu bemühen, sich den Aussageinhalt einzuprägen. Ausfluss dieser Pflicht des Ermittlungsrichters ist es auch, dann, wenn seine Vernehmung als Zeuge ansteht, die Vernehmungsniederschriften einzusehen, um sich erforderlichenfalls die Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.


Entscheidung

414. BGH 1 StR 34/12 – Beschluss vom 21. März 2012 (LG Nürnberg)

Denkgesetzlich ausgeschlossenes Beruhen des Urteils auf einer Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (Verlesung einer Aussagegenehmigung).

§ 338 Nr. 6 StPO; § 54 StPO

Eine Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (§ 338 Nr. 6 StPO) durch die Verlesung einer Aussagegenehmigung in nicht öffentlicher Verhandlung gefährdet den Bestand des Urteils in der Regel nicht, weil ein Einfluss des etwaigen Verfahrensfehlers auf das Urteil denkgesetzlich ausgeschlossen ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Zeuge zuvor bereits ausgesagt hatte. Die Verlesung einer Aussagegenehmigung, die auch mündlich erteilt werden kann und den Rechtskreis des Angeklagten nicht berührt, ist nicht geboten und daher entbehrlich.


Entscheidung

416. BGH 1 StR 17/12 – Beschluss vom 6. März 2012 (LG Karlsruhe)

Erörterungsmangel hinsichtlich der Durchführung einer Verständigung mit einem früheren Mitangeklagten, auf dessen Aussage das Gericht seine Überzeugungsbildung stützt (erforderliche Verfahrensrüge; Beruhen).

§ 257c StPO; § 261 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Es ist jedenfalls in der Regel geboten, in die Würdigung einer entscheidungserheblichen Aussage eines Tatbeteiligten eine vorangegangene oder im Raum stehende Verständigung in dem gegen ihn wegen desselben Tatkomplexes durchgeführten Verfahren – gleichgültig, ob es Teil des Verfahrens gegen den Angeklagten oder formal eigenständig ist – erkennbar einzubeziehen und nachvollziehbar zu behandeln, ob der Tatbeteiligte im Blick auf die ihn betreffende Verständigung irrig glauben könnte, eine Falschaussage zu Lasten des Angeklagten sei für ihn besser als eine wahre Aussage zu dessen Gunsten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Gründe des Einzelfalls, die derartige Erörterungen gleichwohl entbehrlich erscheinen ließen, aus dem Urteil nicht ersichtlich sind.

2. Für eine entsprechende Rüge ist eine Verfahrensrüge erforderlich, wenn sich aus dem angefochtenen Urteil keine Hinweise auf die Verständigung ergeben.


Entscheidung

420. BGH 1 StR 648/11 – Urteil vom 20. März 2012 (LG Regensburg)

Kognitionspflicht des Gerichts bei einer möglichen Vergewaltigung durch Würgen (gefährliche Körperverletzung); Beweiswürdigung beim Vorwurf der Vergewaltigung (Gewalt; Nötigung).

§ 261 StPO; § 177 Abs. 2 StGB; § 264 StPO; § 223 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB

1. Nach § 264 StPO muss das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, unter allen rechtlichen Gesichtspunkten aburteilen. Es ist verpflichtet, den Unrechtsgehalt der Tat voll auszuschöpfen, sofern keine rechtlichen Hindernisse im Wege stehen. Der Tatbegriff des § 264 Abs. 1 StPO entspricht dabei demjenigen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO.

2. Würgegriffe am Hals können im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB lebensgefährlich sein, wobei allerdings nicht jeder Griff an den Hals ausreicht. Von maßgeblicher Bedeutung sind hierbei vielmehr Dauer und Stärke der Einwirkung, die zwar nicht dazu führen muss, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät. Erforderlich, aber auch genügend ist, dass die Art der Behandlung durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls geeignet ist, das Leben des Opfers zu gefährden; einer konkreten Gefährdung bedarf es nicht (stRspr). An der Erörterung und Aburteilung eines solchen Geschehens hindert das Gericht ein mangelnder Strafantrag hinsichtlich § 223 StGB nicht.


Entscheidung

428. BGH 2 StR 565/11 – Urteil vom 7. März 2012 (LG Kassel)

Beweiswürdigung beim Vorwurf der versuchten Vergewaltigung (Aussage gegen Aussage; Gesamtwürdigung; Rachemotiv).

§ 261 StPO; § 177 Abs. 2 StGB

Die Rechtsprechung stellt besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung in Konstellationen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht (BGHSt 44, 153, 158 f.). Erforderlich sind insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs, sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben.