HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2012
13. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

183. BVerfG 1 BvR 1299/05 (Erster Senat) – Beschluss vom 24. Januar 2012

Verfassungsmäßigkeit von Normen des Telekommunikationsgesetzes; Telekommunikationsgeheimnis; Recht auf informationelle Selbstbestimmung; Telekommunikationsdaten; Telekommunikationsnummern; IP-Adressen (statische; dynamische); Speicherungspflicht; Auskunftspflicht; Auskunftsverfahren (automatisiertes; manuelles); Datenerhebung (anlasslose); Rechtsgrundlage (qualifizierte).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 10 Abs. 1 GG; § 95 Abs. 1 TKG; § 111 TKG; § 112 TKG; § 113 TKG

1. Eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen gesetzliche Vorschriften über Speicherungs- und Auskunftspflichten bezüglich Telekommunikationsdaten (§§ 111 bis 113 TKG) kann zulässigerweise bereits dann erhoben werden, wenn der Beschwerdeführer geltend machen kann, als Nutzer von Mobilfunk- und Internetdiensten künftig mit einiger Wahrscheinlichkeit von entsprechenden Maßnahmen betroffen zu sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die nach dem Gesetz möglichen Maßnahmen eine große Streubreite aufweisen, so dass auch Dritte zufällig erfasst werden können, und wenn eine Unterrichtung der Betroffenen von Einzelmaßnahmen gesetzlich nicht vorgesehen ist.

2. Das von Art. 10 Abs. 1 GG gewährleistete Telekommunikationsgeheimnis schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs vor einer Kenntnisnahme durch die öffentliche Gewalt. Neben dem Inhalt der Kommunikation sind auch die näheren Umstände eines konkreten Kommunikationsvorgangs wie

insbesondere dessen Teilnehmer und Zeitpunkte geschützt, nicht hingegen die Umstände der Bereitstellung von Telekommunikationsdienstleistungen.

3. Nicht unter Art. 10 Abs. 1 GG fällt die Zuordnung einer Telekommunikationsnummer zu einem bestimmten Anschlussinhaber, auch wenn sich hieraus mittelbar, etwa aufgrund weiterer Ermittlungserkenntnisse, die Möglichkeit ergibt, Inhalt oder Umstände konkreter Kommunikationsvorgänge zu erschließen. Hingegen sind Informationen über die Zuordnung dynamischer IP-Adressen von Art. 10 Abs. 1 GG erfasst, weil zu deren Ermittlung als Zwischenschritt der Zugriff auf konkrete Verbindungsdaten erforderlich ist.

4. Die Speicherungs- und Auskunftsverpflichtungen in §§ 111 bis 113 TKG greifen in das aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG herzuleitende Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein, auch soweit sie lediglich personenbezogene Informationen zu den Modalitäten der Bereitstellung von Telekommunikationsdiensten betreffen. Die Anordnung der Speicherung und Bereitstellung sowie die Übermittlung und der Abruf von Daten sind dabei jeweils eigenständige Eingriffe und bedürfen gesonderter, jeweils verfassungskonformer Rechtsgrundlagen.

5. §§ 111, 112 TKG tragen den Anforderungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinreichend Rechnung. Sie dienen dem legitimen Ziel, die Zuordnung von Telekommunikationsnummern zu ihren Anschlussinhabern zu ermöglichen und setzen für den Datenabruf eigene Ermächtigungsgrundlagen voraus. Trotz des einfachen Abfrageverfahrens sowie der Streubreite und des anlasslosen Charakters der möglichen Maßnahmen sind die Eingriffsnormen verhältnismäßig. Dies gilt insbesondere angesichts der – nach dem gegenwärtigen Stand der Technik und isoliert betrachtet – begrenzten Aussagekraft der Daten, der Beschränkung der abfrageberechtigten Behörden sowie des Gewichts der verfolgten Ziele der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung.

6. Die Vorschriften über das manuelle Abrufverfahren nach § 113 Abs. 1 Satz 1 TKG i. V. m. §§ 111, 95 Abs. 1 TKG sind verfassungskonform so auszulegen, dass für den Datenabruf eine qualifizierte Rechtsgrundlage erforderlich ist, die selbst eine Auskunftspflicht des Telekommunikationsunternehmens begründet, und dass das Verfahren nicht zur Zuordnung dynamischer IP-Adressen herangezogen werden darf.

7. § 113 Abs. 1 Satz 2 TKG ist mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung unvereinbar, weil er die Auskunft über Zugangssicherungscodes nicht – wie aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten – auf Fälle beschränkt, in denen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Nutzung der Codes erfüllt sind.


Entscheidung

182. EGMR Nr. 33468/03 (1. Kammer) – Urteil vom 10. Januar 2012 (Vulakh u.a. v. Russland)

Verletzung der Unschuldsvermutung eines Verstorbenen durch gerichtliche Schuldunterstellungen; Verletzung der Eigentumsfreiheit durch zivilrechtliche Verantwortlichkeit der Erben eines verstorbenen Angeklagten (Haftung des Erben nach Straftaten des Erblassers; Enteignung; Verfahrensrechte zum Schutz eigenen Eigentums).

Art. 6 Abs. 2 EMRK; Art. 1 Zusatzprotokoll Nr. 1 zur EMRK; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 14 GG; § 1967 BGB

1. Die Unschuldsvermutung ist verletzt, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder eine andere Verlautbarung staatlicher Stellen einen Beschuldigten für schuldig erklärt, bevor er nach dem Gesetz in einem Verfahren für schuldig befunden wurde. Art. 6 II EMRK ist auch dann verletzt, wenn der Beschuldigte Selbstmord begeht und ein Gericht nach seinem Tod seine Schuld behauptet, ohne diese förmlich zuvor festgestellt zu haben.

2. Ein Freispruch im Strafverfahren oder die endgültige Verfahrenseinstellung schließen eine zivilrechtliche Schadensersatzklage auf der Grundlage geringerer Beweisanforderungen nicht aus. Der Verletzte muss die Möglichkeit haben, nach den allgemeinen Maßstäben des zivilen Deliktsrechts zu klagen. Dies gilt auch nach dem Tod des Beschuldigten. Allerdings ist seinen Erben dann die Möglichkeit einer Verteidigung gegen erhobene Ansprüche einzuräumen. Auch gemäß Art. 1 Zusatzprotokoll Nr. 1 zur EMRK darf das urteilende Gericht die Schuld des Beschuldigten nicht lediglich unter Bezugnahme auf ein Strafverfahren gegen mögliche Mittäter des früheren Beschuldigten unterstellen, an dem die Erben nicht beteiligt waren. Wenn der Verstorbene in einem vorherigen Strafurteil gegen Mitbeschuldigte nur unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung als schuldig bezeichnet wurde, darf sich das urteilende Zivilgericht nicht allein auf das vorherige Strafurteil stützen.


Entscheidung

184. BVerfG 1 BvR 461/08 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 9. November 2011 (Thüringer OLG / LG Mühlhausen)

Meinungsfreiheit; Tatsachenbehauptung; Werturteil; allgemeines Gesetz; Grundrechtsschranke (immanente); Wechselwirkungslehre; Volksverhetzung; Auschwitzlüge; Verbreiten von Schriften.

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 130 StGB

1. Der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst Meinungen im Sinne durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägter Äußerungen, unabhängig davon, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden.

2. Tatsachenbehauptungen sind vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen und nicht bewusst oder erwiesen unwahr sind. Eine Trennung tatsächlicher und wertender Bestandteile einer Aussage ist nur insoweit zulässig, als dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Im Zweifel ist eine Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung anzusehen.

3. Auch die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts ist nicht von vornherein vom Schutzbereich des

Art. 5 Abs. 1 GG ausgenommen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit unterliegt insoweit jedoch nicht nur der Schranke der allgemeinen, nicht auf das Verbot einer bestimmten Meinung gerichteten Gesetze. Vielmehr ist Art. 5 GG eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent, soweit es um Normen geht, die – wie § 130 Abs. 4 StGB – die propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft beschränken.

4. Bei der Anwendung eines den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG einschränkenden Gesetzes ist dieses seinerseits dahingehend einschränkend auszulegen, dass der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit Rechnung getragen wird (sog. Wechselwirkung). Untersagt werden dürfen auch nicht Meinungen als solche, sondern nur die Art und Weise ihrer Äußerung, soweit diese die Schwelle zu einer Rechtsgutverletzung überschreitet.

5. Erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, in denen der Holocaust an den Juden als „Zwecklüge“ bezeichnet und behauptet wird, es sei wissenschaftlich belegt, dass es keine Gaskammern für Menschen gegeben habe, unterfallen insoweit dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG, als sie in einen Aufsatz eingebettet sind, in welchem vorrangig die Meinung einer fehlenden Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vertreten wird.

6. Bei der Frage, ob die Weitergabe einer derartigen Schrift das Tatbestandsmerkmal des „Verbreitens“ im Sinne des § 130 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3, Abs. 5 StGB erfüllt, ist die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit zu beachten. Dieser Anforderung genügt grundsätzlich die Auslegung des „Verbreitens“ in dem Sinne, dass die Schrift einem größeren, nicht mehr kontrollierbaren Personenkreis zugänglich gemacht worden sein muss.

7. Das Tatbestandsmerkmal des „Verbreitens“ wird jedoch unter Verletzung der Gewährleistung des Art. 5 Abs. 1 GG überdehnt, wenn im Einzelfall die Weitergabe eines einzelnen Exemplars einer Schrift zwischen zwei Personen für ausreichend erachtet wird, ohne dass anhand konkreter Tatsachen belegt ist, dass die Schrift weiteren Personen zugänglich gemacht werden sollte. Dieser Beleg ist nicht bereits dadurch erbracht, dass es sich bei dem Empfänger um einen Gastwirt handelt, der dem Ansinnen des Überbringers der Schrift nicht entgegengetreten ist und in dessen Gaststätte der Überbringer zuvor anlässlich einer TV-Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg in nicht näher festgestellter Art und Weise die Kriegsschuld Deutschlands geleugnet hatte.