HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2012
13. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

153. BGH 2 StR 375/11 – Urteil vom 2. November 2011 (LG Koblenz)

Notwehr und Erlaubnistatbestandsirrtum bei einem sich bedroht fühlenden Mitglied der Hells Angels und einem verdeckten Einsatz der Polizei (Totschlag; Tatbestandsirrtum; Erforderlichkeit: Warnschuss; Durchsuchung; Verhältnismäßigkeit); versuchte räuberische Erpressung (Vermögensschutz und Prostitution: ungesicherte Erwerbsaussichten; versuchte Nötigung; Rücktritt: kein fehlgeschlagener Versuch); Fahrlässigkeitsstrafbarkeit.

§ 212 StGB; § 222 StGB; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 StGB; § 17 StGB; § 253 StGB, § 255 StGB; § 240 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 24 StGB; § 102 StPO

1. Eine Notwehrlage kann bei einem Polizeieinsatz gegen den Täter nur vorliegen, wenn er in seiner konkreten Gestalt nicht rechtmäßig war. Gegen die Rechtmäßigkeit einer Durchsuchung kann es dabei sprechen, wenn diese entgegen der §§ 102 ff. StPO nicht offen durchgeführt wird. § 164 StPO erlaubt ein Einschreiten nur gegen eine tatsächlich vorliegende oder konkret bevorstehende Störung der Durchsuchung. Ob präventiv-polizeirechtliche Regeln das Verfahren der strafprozessualen Durchsuchung abändern können, ist fraglich.

2. Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, dann ist sie grundsätzlich dazu berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist. Das gilt auch für die Verwendung einer Schusswaffe. Nur wenn mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen, hat der Verteidigende dasjenige Mittel zu wählen, das für den Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Wann eine weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig zu beseitigen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

3. Unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist der Verteidigende zudem nur dann auf die für den Angreifer weniger gravierende verwiesen, wenn ihm genügend Zeit zur Wahl des Mittels sowie zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. In der Regel ist der Angegriffene bei einem Schusswaffeneinsatz zwar gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen oder vor einem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Einsatz zu versuchen. Die Notwendigkeit eines Warnschusses kann aber nur dann angenommen werden, wenn ein solcher Schuss auch dazu geeignet gewesen wäre, den Angriff endgültig abzuwehren. Ein Warnschuss ist im Übrigen auch nicht erforderlich, wenn dieser nur zu einer weiteren Eskalation führen würde. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang muss sich ein Verteidiger nicht einlassen.

4. Der Erlaubnistatbestandsirrtum führt entsprechend § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Ausschluss der Vorsatzschuld. Zur Anwendung auf den Fall einer nächtlichen, nicht offen gelegten Durchsuchung durch die Polizei,

während der der Wohnungsinhaber durch die Tür auf die eindringende Person schießt.

5. Geschütztes Rechtsgut der §§ 253, 255 StGB ist das Vermögen. Versuchte räuberische Erpressung liegt nur vor, wenn der Tatentschluss des Angeklagten darauf gerichtet gewesen wäre, dem Vermögen des Opfers einen Nachteil zuzufügen. Der Verlust einer bloßen ungesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses kann grundsätzlich noch nicht als Vermögensschaden angesehen werden. Erwerbs- und Gewinnaussichten können nur ausnahmsweise Vermögensbestandteil sein, wenn sie so verdichtet sind, dass ihnen der Rechtsverkehr bereits einen wirtschaftlichen Wert beimisst, weil sie mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Vermögenszuwachs erwarten lassen. Die Standposition als Prostituierte ist in diesem Sinne kein von § 253 StGB geschützter Vermögensbestandteil.


Entscheidung

102. BGH 3 StR 337/11 – Urteil vom 1. Dezember 2011 (LG Hildesheim)

Rücktritt vom Versuch (umgekehrte und mehrfache Korrektur des Rücktrittshorizonts; Anforderungen an die Urteilsgründe: Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe und missverständliche Ausführungen); versuchter Mord.

§ 24 Abs. 1 StGB; § 211 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB; § 261 StPO

1. Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung, dem sogenannten Rücktrittshorizont. Bei einem Tötungsdelikt liegt demgemäß ein unbeendeter Versuch vor, bei dem allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt vom Versuch führt, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest ausreichend. Ein beendeter Tötungsversuch, bei dem er für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch den Tod des Opfers durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen muss, ist hingegen anzunehmen, wenn der Täter den Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns macht.

2. Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts ist in engen Grenzen möglich. Der Versuch eines Tötungsdeliktes ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnis seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt. Rechnet der Täter dagegen zunächst nicht mit einem tödlichen Ausgang, so liegt eine umgekehrte Korrektur des Rücktrittshorizonts vor, wenn er unmittelbar darauf erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat. In diesem Fall ist ein beendeter Versuch gegeben, wenn sich die Vorstellung des Täters bei fortbestehender Handlungsmöglichkeit sogleich nach der letzten Tathandlung in engstem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dieser ändert.

3. Möglich ist auch eine nochmalige Korrektur des Rücktrittshorizonts, die zum Vorliegen eines beendeten Versuchs führen kann. Dies gilt, wenn noch immer ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang zwischen der Tat und dem Wechsel des Vorstellungsbildes gegeben ist. So kann es insbesondere in einer nur einminütigen und ohne wesentliche Zwischenakte ablaufenden dynamischen Geschehen liegen.

4. Im Rahmen der danach erforderlich Abgrenzung ist es bedenklich, wenn das Tatgericht zum Vorstellungsbild des Angeklagten ausführt, dass der Angeklagte eine bestimmte, entscheidungserhebliche Beobachtung zum Zustand seines Opfers nur wahrgenommen haben „müsse“. Entscheidend ist nicht, was der Angeklagte wahrnehmen oder womit er rechnen musste, sondern das, was er tatsächlich wahrnahm und welche Folgerungen er daraus zog. Dem widersprechende Erwägungen sind zumindest missverständlich und können im Einzelfall sogar einen durchgreifenden Rechtsfehler in der Beweiswürdigung begründen.


Entscheidung

131. BGH 1 StR 400/11 – Urteil vom 21. Dezember 2011 (LG Nürnberg-Fürth)

Beweiswürdigung zum bedingten Tötungsvorsatz (mehrfache gefährliche Tritte gegen Kopf eines rechtsradikalen „Spezialisten für Körperverletzungen“; erforderliche Gesamtwürdigung; Willenselement); Rücktritt vom unbeendeten Versuch durch Tataufgabe.

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 223 StGB; § 227 StGB; § 24 StGB

1. Das Willenselement des bedingten Vorsatzes ist bei Tötungsdelikten dann gegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen damit abfindet. Dabei genügt für eine vorsätzliche Tatbegehung, dass der Täter den konkreten Erfolgseintritt akzeptiert und er sich innerlich mit ihm abgefunden hat, mag er auch seinen Wünschen nicht entsprochen haben. Hatte der Täter dagegen begründeten Anlass darauf zu vertrauen und vertraute er darauf, es werde nicht zum Erfolgseintritt kommen, kann bedingter Vorsatz nicht angenommen werden.

2. Bei der Prüfung, ob der Täter vorsätzlich gehandelt hat, muss sowohl das Wissens- als auch das Willenselement im Rahmen einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Dabei liegt zwar die Annahme einer Billigung des Todes des Opfers nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz erkannter Lebensgefährlichkeit durchführt. Allein aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt oder die Gefährlichkeit des Verhaltens kann aber nicht ohne Berücksichtigung etwaiger sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebender Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das Willenselement des Vorsatzes gegeben ist.

3. Tritt der Angeklagte in kurzem, zeitlichen Abstand mehrfach gegen den Kopf des Opfers, dürfen die einzelnen Tritte bei der Prüfung des Tötungsvorsatzes nicht nur isoliert gewürdigt werden.

4. Von einem unbeendeten Versuch kann der Täter durch bloßes Nichtweiterhandeln zurücktreten. Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter nach der letzten Ausführungs-

handlung nach seinem Kenntnisstand nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnet, und sei es auch nur in Verkennung der durch seine Handlung verursachten Gefährdung des Opfers, und die Vollendung aus seiner Sicht noch möglich ist.


Entscheidung

176. BGH 4 StR 554/11 – Beschluss vom 6. Dezember 2011 (LG Saarbrücken)

Voraussetzungen der Anstiftung zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Anstiftervorsatz).

§ 26 StGB; § 30 BtMG; § 15 StGB

Als Anstifter ist nach § 26 StGB tätergleich zu bestrafen, wer vorsätzlich einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat. Dabei ist bedingter Vorsatz ausreichend (BGHSt 2, 279, 281; 44, 99, 101). Eine Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln begeht deshalb, wer einen anderen durch Einwirkung auf dessen Entschlussbildung dazu veranlasst, Betäubungsmittel in nicht geringer Menge auf das Bundesgebiet zu verbringen und dabei zumindest in dem Bewusstsein handelt, dass sein Verhalten diese von ihm gebilligten Wirkungen haben kann.


Entscheidung

135. BGH 1 StR 533/11 – Beschluss vom 14. Dezember 2011 (LG München I)

Bedingter Tötungsvorsatz (Feststellungen); unbeendeter und beendeter Versuch (Aufgabe weiterer Gewalttätigkeiten).

§ 15 StGB; § 212 StGB; § 261 StPO; § 24 StGB

Allein der Verzicht darauf, durch weitere Gewalttätigkeit den auch schon auf Grund der bisherigen Gewaltanwendung für möglich gehaltenen Tod auf jeden Fall herbeizuführen, kann die Annahme eines Rücktritts durch bloßes Nicht-weiter-Handeln (Rücktritt vom unbeendeten Versuch) nicht begründen.


Entscheidung

146. BGH 2 StR 172/11 – Urteil vom 19. Oktober 2011 (LG Darmstadt)

Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (Rechtsbegriff; Beurteilungsspielraum; Bewertungsspielraum; schwere andere seelische Abartigkeit; Indiz des Leistungsvermögens).

§ 21 StGB

1. Bei der Frage, ob sich ein medizinisch-psychiatrischer Befund in der Tatsituation „erheblich“ auf das Steuerungsvermögen im Sinne des § 21 StGB ausgewirkt hat, handelt es sich um einen Rechtsbegriff, über dessen Voraussetzungen nach ständiger Rechtsprechung das Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die Ausführungen des Sachverständigen zu entscheiden hat (BGHSt 49, 45, 53). Die Beurteilung setzt eine Gesamtwürdigung des Gerichts voraus (vgl. nur BGHSt 43, 77), die darauf einzugehen hat, ob der Täter motivatorischen und situativen Tatanreizen wesentlich weniger Widerstand entgegensetzen konnte als ein Durchschnittsbürger. Dabei ist dem Tatrichter grundsätzlich ein weiter Beurteilungs- und Wertungsspielraum eingeräumt. Hierbei muss besonders geprüft werden, ob sich eine festgestellte schwere seelische Abartigkeit auf die konkret abzuurteilende Tat erheblich schuldmindernd ausgewirkt hat.

2. Ein ungestörtes Leistungsverhalten allein ist kein ausreichender Beweis für ein intaktes Hemmungsvermögen (BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 14).


Entscheidung

170. BGH 4 StR 514/11 – Beschluss vom 22. Dezember 2011 (LG Bochum)

Konkurrenzen beim uneigentlichen Organisationsdelikt.

§ 53 StGB; § 52 StGB; § 263 StGB

1. Sind an einer Deliktserie mehrere Personen als Mittäter, mittelbare Täter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt, ist die Frage, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen, bei jedem Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden. Maßgeblich ist dabei der Umfang des erbrachten Tatbeitrags. Leistet ein Mittäter für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten – soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt – als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen. Eine darüber hinaus gegebene organisatorische Einbindung des Täters in das betrügerische Geschäftsunternehmen ist in diesen Fällen nicht geeignet, die Einzeldelikte der Tatserie rechtlich zu einer Tat im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB zusammenzufassen.

2. Fehlt es an einer solchen individuellen Tatförderung, erbringt der Täter aber im Vorfeld oder während des Laufs der Deliktsserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten seiner Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB verknüpft werden. Ohne Bedeutung ist dabei, ob die Mittäter die einzelnen Delikte tatmehrheitlich begangen haben (st. Rspr.).

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

161. BGH 4 StR 344/11 – Beschluss vom 20. Oktober 2011 (LG München II)

BGHSt; Brandstiftung (teilweise Zerstörung eines zu gewerblichen Zwecken genutzten Gebäudes); Zerstörung von Bauwerken; Sachbeschädigung.

§ 306 Abs. 1 Fall 2 StGB; § 22 StGB; § 303 StGB

1. Auch die teilweise Zerstörung eines zu gewerblichen Zwecken genutzten Gebäudes erfordert eine solche von Gewicht. Sie liegt wie im Fall der teilweisen Zerstörung eines Wohngebäudes regelmäßig erst dann vor, wenn das Gebäude für eine nicht unbeträchtliche Zeit wenigstens für einzelne seiner Zweckbestimmungen oder wenn ein für die ganze Sache zwecknötiger Teil unbrauchbar gemacht wird, ferner dann, wenn einzelne Bestandteile des Gebäudes, die für einen selbständigen Gebrauch bestimmt oder eingerichtet sind, wie etwa eine einzelne Abteilung des Gebäudes, gänzlich vernichtet werden (im Anschluss an Senatsurteil vom 12. September 2002 – 4 StR 165/02, BGHSt 48, 14). (BGHSt)

2. Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der teilweisen Zerstörung bei den Brandstiftungsdelikten soll sich nach dem Willen des Gesetzgebers auf die Auslegung der gleichlautenden Tatbestandsfassung in den §§ 305, 305a StGB orientieren. (Bearbeiter)

3. Zur Anwendung auf die Zerstörung einer Teeküche. (Bearbeiter)


Entscheidung

97. BGH 3 StR 231/11 – Beschluss vom 13. September 2011 (LG München I)

BGHSt; kriminelle Vereinigung (inländische; ausländische; geografische Zuordnung; Schwerpunkt der Organisationsstruktur; „Diebe im Gesetz“); Wahlfeststellung; Verfolgungsermächtigung; gewerbsmäßige Bandenhehlerei.

§ 129 StGB; § 129a StGB; § 129b StGB; § 259 StGB; § 260 StGB

1. Zur Einordnung einer kriminellen Vereinigung als in- oder ausländische bzw. als solche innerhalb oder außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. (BGHSt)

2. Eine Vereinigung im Sinne der §§ 129 ff. StGB setzt einen auf gewisse Dauer angelegten, freiwilligen organisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus, die bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen. (Bearbeiter)

3. Mit Blick auf die Unterschiedlichkeit und Komplexität der bei Vereinigungen anzutreffenden Fallgestaltungen ist die geographische Zuordnung einer Vereinigung von einer an den konkreten Einzelfallumständen orientierten Gesamtbetrachtung abhängig zu machen. (Bearbeiter)

4. Als wesentliches Zuordnungskriterium ist der Schwerpunkt der Organisationsstruktur anzusehen. Anhaltspunkt dafür kann die Konzentration personeller und/oder sachlicher Ressourcen sein. Ferner ist in den Blick zu nehmen, wo nach den Strukturen der Vereinigung deren Gruppenwille gebildet wird. Schließlich kann das eigentliche Aktionsfeld Bedeutung erlangen. (Bearbeiter)


Entscheidung

101. BGH 3 StR 318/11 – Urteil vom 1. Dezember 2011 (LG Oldenburg)

Ausschluss des Angeklagten (Abwesenheit bei Entscheidung über die Entlassung eines Zeugen); sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses (Voraussetzungen des Anvertrautseins); sexuelle Nötigung.

§ 247 Satz 2 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; § 174c Abs. 1 StGB; § 179 StGB

1. Das Anvertrautsein gemäß § 174c Abs. 1 StGB setzt weder das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer voraus noch kommt es darauf an, ob das Verhältnis auf Initiative des Patienten, Täters oder eines Dritten begründet wurde. Ebenso ist unerheblich, ob die entsprechenden Tätigkeiten innerhalb von geschlossenen Einrichtungen, in der ambulanten Versorgung oder im Rahmen häuslicher Betreuung wahrgenommen werden. Ohne Belang ist zudem, ob tatsächlich eine behandlungsbedürftige Krankheit oder eine Behinderung vorliegt, sofern nur die betroffene Person subjektiv eine Behandlungs- der Beratungsbedürftigkeit empfindet.

2. Das Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis muss auch nicht von einer solchen – zumindest beabsichtigten – Intensität und Dauer sein, dass eine Abhängigkeit entstehen kann, die es dem Opfer zusätzlich, d.h. über die mit einem derartigen Verhältnis allgemein verbundene Unterordnung unter die Autorität des Täters und die damit einhergehende psychische Hemmung, erschwert, einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter zu entwickeln und zu betätigen. Es ist ausreichend, wenn das Opfer eine fürsorgerische Tätigkeit des Täters entgegennimmt.

3. Nach der durch den Großen Senat für Strafsachen (BGHSt 55, 87) bestätigten Rechtsprechung des Bundes-

gerichtshofs gehört die Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen nicht mehr zu seiner Vernehmung im Sinne des § 247 StPO, sondern bildet einen selbständigen Verfahrensabschnitt und regelmäßig einen „wesentlichen Teil“ der Hauptverhandlung. Der Angeklagte, dessen Entfernung aus dem Sitzungssaal für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen angeordnet war, muss daher zur Verhandlung über die Entlassung der Zeugin wieder zugelassen werden.

4. Der im Protokoll enthaltene Vermerk, die Entlassung der Zeugin sei „im allseitigen Einverständnis“ geschehen, kann das Einverständnis eines in diesem Moment abwesenden Angeklagten, auf weitere Fragen zu verzichten zu wollen, auch nach einer vorherigen Unterrichtung über den wesentlichen Aussageinhalt der Zeugenvernehmung nicht belegen.


Entscheidung

172. BGH 4 StR 522/11 – Beschluss vom 22. November 2011 (LG Augsburg)

Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (Pervertierung; Schädigungsvorsatz; konkrete Gefahr: Begriff des Beinaheunfalls; Ausfallschrittfall).

§ 315b Abs. 1 StGB

1. Nach der Rechtsprechung des Senats setzt die Strafbarkeit nach § 315b Abs. 1 StGB bei einem sog. verkehrsfeindlichen Inneneingriff voraus, dass zu dem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Einstellung hinzukommt, dass es der Täter mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz – etwa als Waffe oder Schadenswerkzeug – missbraucht. Erst dann liegt eine – über den Tatbestand des § 315c StGB hinausgehende und davon abzugrenzende – verkehrsatypische „Pervertierung“ eines Verkehrsvorgangs zu einem gefährlichen „Eingriff“ in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB.

2. Ferner erfordert ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, dass durch eine der in den Nummern 1 bis 3 des § 315b Abs. 1 StGB genannten Tathandlungen eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs herbeigeführt worden ist und sich diese abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder einer fremden Sache von bedeutendem Wert verdichtet hat. Dabei muss die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht.

3. Ein sog. Beinahe-Unfall ist ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, „das sei noch einmal gut gegangen“.

4. Dem ist jeweils nicht schon deshalb entsprochen, wenn der Angeklagte zunächst mit Vollgas anfuhr, er jedoch in einer Entfernung von eineinhalb bis zwei Meter vor dem Zeugen anhielt. Dies gilt auch dann, wenn er anschließend erneut Vollgas ab, die Kupplung schleifen ließ und sich ruckelnd auf den Zeugen zubewegte, um ihn dazu zu bewegen, aus dem Weg zu gehen, woraufhin der Zeuge einen Ausfallschritt zur Seite machte.


Entscheidung

147. BGH 2 StR 287/11 – Beschluss vom 26. Oktober 2011 (LG Aachen)

Versuchte und vollendete besonders schwere Brandstiftung (Inbrandsetzen; gemischt-genutzte Gebäude; wesentliche Gebäudeteile; konkrete Gefahr für die Gesundheit eines anderen Menschen).

§ 306a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB; § 306b Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB

1. Zwar genügt es für ein vollendetes Inbrandsetzen gemäß § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn in einem teils gewerblich, teils zu Wohnzwecken genutzten Gebäude solche Gebäudeteile selbständig brennen, die für die gewerbliche Nutzung wesentlich sind, aber nicht auszuschließen ist, dass das Feuer auf Gebäudeteile übergreift, die für das Wohnen wesentlich sind (BGHR StGB § 306a Abs. 1 Nr. 1 Vollendung 1). Inventar, eine außen angebrachte Markise und eine Innenverkleidung oberhalb eines Schaufensters sind aber keine wesentlichen Gebäudeteile. Das Schmelzen eines Fensterrahmens aus Metall ist ebenfalls kein des Inbrandsetzens dar.

2. Aus dem auf das Wohnen bezogenen Schutzzweck des § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB folgt, dass die Alternative des teilweisen Zerstörens eines Wohngebäudes bei einer Brandlegung in einem einheitlichen, teils gewerblich, teils als Wohnung genutzten Gebäude erst dann vollendet ist, wenn zumindest ein zum selbstständigen Gebrauch bestimmter Teil des Wohngebäudes durch die Brandlegung für Wohnzwecke unbrauchbar geworden ist (BGH, Beschluss vom 10. Mai 2011 – 4 StR 659/10). Verschmutzungen sind einem teilweisen Zerstören der Räume noch nicht gleichzustellen, soweit sie keine nachhaltige Verrußung darstellen, die umfangreiche Renovierungsarbeiten in den Wohnräumen erforderlich machen.

3. Ist das „Gebäude“ im Sinne von § 306a Abs. 2 StGB im Einzelfall zugleich ein „Wohngebäude“, müssen zur Vollendung des Auffangtatbestands nicht notwendigerweise Wohnräume von der teilweisen Zerstörung durch Brandlegung betroffen sein. Es genügt, wenn ein anderer funktionaler Gebäudeteil für nicht unerhebliche Zeit nicht bestimmungsgemäß gebraucht werden kann, dies aber nur dann, wenn durch die typischen Folgen der Brandlegung, wie Rauch- und Rußentwicklung, eine konkrete Gefährdung der Gesundheit eines Menschen verursacht wurde (BGHSt 56, 94, 96). Voraussetzung für die Annahme einer konkreten Gefahr einer Gesundheitsbeschädigung ist der Eintritt einer kritischen Situation, in der es praktisch nur noch vom Zufall abhängt, ob sich die Gefahr realisiert.


Entscheidung

168. BGH 4 StR 477/11 – Beschluss vom 21. Dezember 2011

Beweisanforderungen bei einer rauschmittelbedingten Fahrunsicherheit (Straßenverkehrsgefährdung; Fahren im fahruntüchtigen Zustand).

§ 315c StGB; § 316 StGB; § 261 StPO

1. Anders als bei Alkohol kann der Nachweis einer rauschmittelbedingten Fahrunsicherheit gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a., § 316 StGB auch weiterhin nicht allein durch einen bestimmten Blutwirkstoffbefund geführt werden. Gesicherte Erfahrungswerte, die es erlauben würden, bei Blutwirkstoffkonzentrationen oberhalb eines bestimmten Grenzwertes ohne Weiteres auf eine rauschmittelbedingte Fahrunsicherheit zu schließen, bestehen nach wie vor nicht (BGHSt 44, 219, 222; BGH StV 2009, 359, 360). Es bedarf daher neben dem positiven Blutwirkstoffbefund noch weiterer aussagekräftiger Beweisanzeichen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des betreffenden Kraftfahrzeugführers soweit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern (BGH NZV 2008, 528, 529). Das ohne eine phänomengebundene Schilderung mitgeteilte Erscheinungsbild des Angeklagten („leicht beeinflusst“) reicht dazu nicht aus.

2. Die Empfehlungen der Gemeinsamen Arbeitsgruppe für Grenzwertfragen und Qualitätskontrolle bezeichnen lediglich Messwerte, die mindestens erreicht sein müssen, damit eine Blutwirkstoffkonzentration bei Anwendung der Richtlinien der Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie als qualitativ sicher nachgewiesen und quantitativ richtig bestimmt gelten kann (sog. Analytische Grenzwerte). Da diese Grenzwerte keine Aussage über eine Dosis-Blutkonzentrations-Wirkungs-Beziehung enthalten, lässt ihre Überschreitung für sich genommen noch keinen zuverlässigen Rückschluss auf eine im konkreten Fall gegebene, eine Strafbarkeit nach § 316 StGB begründende rauschmittelbedingte Fahrunsicherheit zu.


Entscheidung

180. BGH 4 StR 606/11 – Beschluss vom 22. Dezember 2011 (LG Dortmund)

Hehlerei (Bereichungsabsicht und Kauf zum Marktpreis); Tat im prozessualen Sinne (Nämlichkeit der Tat); nachträgliche Gesamtstrafenbildung (Zäsurwirkung).

§ 259 StGB; § 264 StPO; § 54 StGB; § 55 StGB

1. Eine Strafbarkeit wegen Hehlerei setzt voraus, dass der Täter im Zeitpunkt der Tatbegehung in der Absicht gehandelt hat, sich oder einen Dritten zu bereichern, d.h. einen Vermögensvorteil zu erlangen oder dem Dritten zu verschaffen. Hierfür genügt grundsätzlich der Ankauf zum – vom Täter als solchem erkannten – Marktpreis nicht; auch wenn sich der Täter, wie er weiß, eine vergleichbare Sache ebenso günstig und ebenso leicht auf einwandfreie Weise hätte verschaffen können, fehlt es an der Bereicherungsabsicht.

2. Anderes kann gelten, wenn der Angeklagte den Tatgegenstand in der Absicht gewinnbringender Weiterveräußerung erworben hat.


Entscheidung

104. BGH 3 StR 359/11 – Beschluss vom 17. November 2011 (LG Oldenburg)

Sexuelle Nötigung unter Ausnutzen einer schutzlosen Lage (Ausnutzungsbewusstsein).

§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 16 StGB

1. Der Tatbestand der sexuellen Nötigung unter Ausnutzen einer schutzlosen Lage (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB) setzt voraus, dass sich das Opfer in einer Lage befindet, in der es möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert wäre. Hierfür kommt es auf eine Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischen Umstände an, die in den äußeren Gegebenheiten, in der Person des Opfers oder des Täters vorliegen.

2. Neben den äußeren Umständen, wie etwa der Einsamkeit des Tatortes und dem Fehlen von Fluchtmöglichkeiten, kann auch die individuelle Fähigkeit des Opfers, in der konkreten Situation mögliche Einwirkungen abzuwehren, wie zum Beispiel eine stark herabgesetzte Widerstandsfähigkeit aufgrund geistiger oder körperlicher Behinderung, von Bedeutung sein.

3. Die spezifische Schutzlosigkeit gegenüber nötigenden Gewalteinwirkungen des Täters muss ferner eine Zwangswirkung auf das Opfer dahin entfalten, dass es solche Einwirkungen fürchtet und im Hinblick hierauf einen – ihm grundsätzlich möglichen – Widerstand unterlässt und entgegen seinem eigenen Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet.

4. Schließlich muss der Täter das Ausgeliefertsein des Opfers dazu ausnutzen, dieses zur Duldung oder Vornahme sexueller Handlungen zu nötigen. Dies bedeutet, dass er die tatsächlichen Voraussetzungen der Schutzlosigkeit auch als Bedingung für das Erreichen seiner sexuellen Handlungen erkennen muss, so dass der subjektive Tatbestand zumindest bedingten Vorsatz dahin voraussetzt, dass das Opfer in die sexuellen Handlungen nicht einwilligt und dass es gerade wegen seiner Schutzlosigkeit auf einen grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet, das Opfer also die Handlungen nur wegen seiner Schutzlosigkeit vornimmt oder geschehen lässt.


Entscheidung

165. BGH 4 StR 453/11 – Beschluss vom 21. Dezember 2011 (LG Rostock)

Besonders schwerer Fall des Betruges (Anlagebetrug; Regelbeispiele; Vermögensverlust großen Ausmaßes; Gefahr der Vermögensschädigung für eine große Anzahl von Personen).

§ 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1; Nr. 2 Alt. 1 StGB

1. Das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB bezieht sich nicht auf den erlangten Vorteil des Täters, sondern allein auf die Vermögenseinbuße beim Opfer. Das Ausmaß der Vermögenseinbuße ist daher auch bei Betrugsserien, die nach den Kriterien der rechtlichen oder natürlichen Handlungseinheit eine Tat bilden, opferbezogen zu bestimmen. Eine Addition der Einzelschäden kommt nur in Betracht, wenn sie dasselbe Opfer betreffen (BGH NStZ 2011, 401, 402).

2. Für das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB muss sich die Vorstellung des Täters auf die fortgesetzte Begehung mehrerer rechtlich selbständiger Betrugstaten richten.