HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2012
13. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

79. BGH 4 StR 425/11 - Beschluss vom 19. Oktober 2011 (LG Dortmund)

Rechtsfehlerhafte Strafschärfung bei ausländischen Vorstrafen wegen möglicher Tilgungsreife (Strafzumessung; Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren; Erörterungspflichten).

§ 46 StGB; Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Nr. 5 Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008; § 54 BZRG; § 53a BZRG; § 51 Abs. 1 BZRG; § 56 Abs. 1 Satz 1 BZRG; § 63 Abs. 4 BZRG; § 58 BZRG

1. Zwar dürfen bei der Strafzumessung auch rechtskräftige ausländische Vorstrafen berücksichtigt werden, wenn die Tat nach deutschem Recht strafbar wäre. Sind sie zur Bewertung des Vorlebens des Täters im Sinne des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB relevant, müssen in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ergangene Verurteilungen grundsätzlich sogar „mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- und materiellrechtlichen Wirkungen versehen werden … wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt“. Dabei ist nicht Voraussetzung, dass es sich um eine nach § 54 BZRG im Bundeszentralregister eingetragene ausländische Vorstrafe handelt (BGH NStZ-RR 2007, 368, 369).

2. Auch die Verwertbarkeit einer ausländischen Verurteilung in einem in Deutschland geführten Strafverfahren zum Nachteil des Beschuldigten setzt aber grundsätzlich auch voraus, dass diese – würde es sich um eine Verurteilung nach deutschem Recht handeln – nicht tilgungsreif wäre. Dies gilt auch für ausländische Vorstrafen, die im BZRG nicht eingetragen sind. Der Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2008 steht dem nicht entgegen.

3. Kommt mithin bei einer dem Tatrichter bekannt gewordenen, von ihm zum Nachteil des Beschuldigten berücksichtigungsfähigen ausländischen Vorstrafe in Betracht, dass diese – würde es sich um eine deutsche Verurteilung handeln – im Falle ihrer Eintragung im Bundeszentralregister tilgungsreif wäre (ohne dass eine Ausnahmeregelung - etwa die in § 52 Abs. 1 Nr. 2 BZRG - eingreift), muss er die für die Tilgungsreife erforderlichen Feststellungen treffen und bewerten und dies im Urteil darlegen.


Entscheidung

53. BGH 2 StR 328/11 - Beschluss vom 26. Oktober 2011 (LG Darmstadt)

Verfassungsgemäße Anwendung der Vorschriften über die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des BVerfG vom 4.5.2011 (Kinderpornographie; schwere Sexualstraftaten).

§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 5 EMRK; Art. 7 EMRK; § 184b StGB

Delikte der Kinderpornographie gemäß § 184b Abs. 1 und 2 StGB sind nicht als ausreichend schwere (Sexual-)Straftaten anzusehen, auf die sich nach der Weitergeltungsanordnung des Bundesverfassungsgerichts der kriminelle Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF beziehen muss.


Entscheidung

25. BGH 5 StR 488/11 - Beschluss vom 14. Dezember 2011 (LG Braunschweig)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (erhebliche rechtswidrige Taten; schwere Störung des Rechtsfriedens; Vermögensdelikte); Verhältnismäßigkeit (milderes Mittel; Subsidiarität; Bestellung eines Betreuers).

§ 62 StGB; § 63 StGB; § 263 StGB

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist eine außerordentlich beschwerende Maßnahme. Deshalb darf sie nur angeordnet werden, wenn die Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die bloße Möglichkeit zukünftiger Straftaten reicht nicht aus.

2. Die Frage, ob von den künftig zu erwartenden Straftaten schwere Störungen des Rechtsfriedens ausgehen, kann nicht allein mit dem abstrakten Gewicht des gesetzlichen Straftatbestandes beantwortet werden. Vielmehr kommt es grundsätzlich auf die zu befürchtende konkrete Ausgestaltung der Taten an.

3. Der Senat deutet an, dass eine schwere Störung des Rechtsfriedens – soweit allein Vermögensdelikte in Rede stehen – bei konkret existenzbedrohenden Schädigungen Dritter in Betracht kommen könnte.

4. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist gegenüber wirksamen milderen Maßnahmen subsidiär. So ist insbesondere zu prüfen, ob der von einem Angeklagten ausgehenden Gefahr auch durch Bestellung eines Betreuers begegnet werden kann.


Entscheidung

51. BGH 2 StR 251/11 - Urteil vom 2. November 2011 (LG Meiningen)

Wirksame Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB vom Rechtsmittelangriff (Revisionsbeschränkung); Erörterungsbedürftigkeit des § 21 StGB bei Drogenkonsum.

§ 64 StGB; Vor § 296 StPO; § 344 StPO; § 21 StGB

1. Die Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregel nach § 64 StGB vom Rechtsmittelangriff ist als Revisionsbeschränkung grundsätzlich möglich und wirksam, wenn sich weder den Urteilsgründen noch der Strafhöhe entnehmen lässt, dass die Strafe von dem Unterbleiben der Anordnung einer Maßnahme nach § 64 StGB beeinflusst worden ist.

2. Der Senat stellt klar, dass eine Ausnahme der Nichtanordnung der Maßregel gemäß § 64 StGB vom Revisionsangriff nur dann unwirksam ist, wenn sich im Einzelfall aus den Urteilsgründen eine unlösbare Verbindung von Straf- und Maßregelausspruch ergibt.

3. Allein der Umstand, dass der Angeklagte seit Jahren selbst Rauschmittel konsumierte und u.a. auch zur Finanzierung seines eigenen Konsums mit Drogen handelte, drängt nicht zu einer näheren Erörterung des § 21 StGB. Eine Abhängigkeitserkrankung kann die Annahme von § 21 StGB nur dann begründen, wenn ein langjähriger Konsum zu schweren Persönlichkeitsveränderungen geführt hat oder wenn starke Entzugserscheinungen bzw. die Angst vor solchen handlungsbestimmend sind.


Entscheidung

61. BGH 2 StR 427/11 - Beschluss vom 9. November 2011 (LG Koblenz)

Rechtsfehlerhaftes Absehen der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang ohne Depravation).

§ 64 StGB

1. Ein Hang im Sinne des § 64 StGB setzt keine Depravation voraus. „Depravation“ und „erhebliche Persönlichkeitsstörung“ können im Zusammenhang mit der Frage des Vorliegens eines Hanges zum übermäßigen Konsum von Betäubungsmitteln nicht gleichgesetzt werden mit den Anforderungen, die die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die Annahme einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit wegen Betäubungsmittelabhängigkeit stellt. Danach begründet die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nur ausnahmsweise, zum Beispiel wenn langjähriger Betäubungsmittelgenuss zu schwers-

ten Persönlichkeitsänderungen geführt hat. Solche schwersten Persönlichkeitsstörungen müssen für die Bejahung eines Hanges zum übermäßigen Konsum von Betäubungsmitteln nicht vorliegen.

2. Der Hang im Sinne des § 64 StGB verlangt eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel zu sich zu nehmen, wobei auch das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz dem nicht entgegenstehen (BGH NStZ-RR 2010, 216).


Entscheidung

78. BGH 4 StR 417/11 - Beschluss vom 10. November 2011 (LG Schwerin)

Rechtsfehlerhafte Anordnung der Sicherungsverwahrung nach der Entscheidung des BVerfG vom 4.5.2011 (verfassungskonforme Rechtsanwendung; Gesamtwürdigung zur Voraussetzung des Hangs).

§ 66 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB a.F.; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 316e Abs. 1 und 2 EGStGB; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 7 EMRK; Art. 5 EMRK; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

Gemäß § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO muss die Anordnung einer Maßregel aus sich heraus verständlich im Urteil begründet werden. Wird, was regelmäßig der Fall sein wird, die Feststellung eines Hangs auch mit den Vorverurteilungen des Täters begründet, dürfen sich die Urteilsgründe nicht mit der bloßen Mitteilung dieser Verurteilungen nach Schuldspruch und Strafmaß begnügen. Vielmehr müssen die Urteilsgründe im Zusammenhang mit der Darstellung des Werdegangs des Täters eine eingehende Mitteilung der Einzelheiten seiner Vortaten und ihrer Genese enthalten.


Entscheidung

47. BGH 2 StR 218/11 - Beschluss vom 26. Oktober 2011 (LG Aachen)

Zusammentreffen mehrerer vertypter Strafmilderungsgründe (minder schwerer Fall).

§ 50 StGB; § 46 StGB

1. Nach ständiger Rechtsprechung ist in den Fällen, in denen das Gesetz bei einer Straftat einen minderschweren Fall vorsieht und im Einzelfall ein gesetzlicher Milderungsgrund nach § 49 StGB gegeben ist, bei der Strafrahmenwahl vorrangig zu prüfen, ob ein minderschwerer Fall vorliegt (BGHR StGB vor § 1 minderschwerer Fall Strafrahmenwahl 7). Dabei ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung zunächst zu prüfen, ob die allgemeinen Milderungsgründe allein zur Annahme eines minderschweren Falls führen, da die vertypten Milderungsgründe dann für eine Strafrahmenmilderung nach § 49 StGB noch nicht verbraucht sind.

2. Ist nach einer Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungsumstände das Vorliegen eines minderschweren Falles abzulehnen, sind bei der weitergehenden Prüfung, ob der mildere Sonderstrafrahmen zur Anwendung kommt, gesetzlich vertypte Strafmilderungsgründe zusätzlich heranzuziehen. Erst wenn der Tatrichter danach weiterhin keinen minderschweren Fall für gerechtfertigt hält, darf er seiner konkreten Strafzumessung den (allein) wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemilderten Regelstrafrahmen zugrunde legen.


Entscheidung

26. BGH 5 StR 489/11 - Beschluss vom 14. Dezember 2011 (LG Leipzig)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefahr der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten; Wahrscheinlichkeit höheren Grades für schwere Störungen des Rechtsfriedens); einstweilige Unterbringung.

§ 63 StGB; § 126a StPO

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus setzt eine Gefahr der Begehung „erheblicher rechtswidriger Taten“ voraus; dies wiederum erfordert eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für schwere Störungen des Rechtsfriedens.


Entscheidung

71. BGH 4 StR 331/11 – Urteil vom 24. November 2011 (LG Neubrandenburg)

Anordnung der Sicherungsverwahrung nach der Verhängung von Jugendstrafe (Einheitsjugendstrafe; Zweijahresgrenze).

§ 66 Abs. 3 Satz 2 StGB; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 5 EMRK

1. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach der Bestimmung des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. setzt in formeller Hinsicht voraus, dass der Täter zwei Katalogtaten im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F. begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat, und er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. Verwirkt ist bei einer bereits abgeurteilten Tat die tatsächlich verhängte Strafe. Bei einer einheitlichen Jugendstrafe nach § 31 JGG gelten die gleichen Grundsätze, wie sie die Rechtsprechung für den Anwendungsbereich des § 66 Abs. 1 StGB entwickelt hat. Eine Einheitsjugendstrafe erfüllt die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. nur dann, wenn zu erkennen ist, dass gegen den Täter wenigstens bei einer ihr zugrunde liegenden Katalogtat eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verhängt worden wäre, sofern sie als Einzeltat gesondert abgeurteilt worden wäre. Dies festzustellen, ist eine im Wesentlichen tatrichterliche Aufgabe, die dem über die Sicherungsverwahrung entscheidenden Richter obliegt.

2. Davon, dass im Falle gesonderter Aburteilung der Katalogtat auf eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren erkannt worden wäre, darf nur ausgegangen werden, wenn der Tatrichter Feststellungen darüber treffen kann, wie der Richter des Vorverfahrens die einzelnen der Vorverurteilung zu Grunde liegenden Taten bewertet hat. Er darf sich nicht an dessen Stelle setzen und im Nachhinein eine eigene Strafzumessung vornehmen. Als Grundlage für die erforderlichen Feststellungen zu der Bewertung der Katalogtat im früheren Verfahren kommen in erster Linie die jugendgerichtlichen Strafzumessungserwägungen, daneben aber auch die Höhe der Einheitsjugendstrafen in der Vorverurteilung und möglicherweise einbezogenen Urteilen sowie Zahl und Art der abgeurteilten Taten in Betracht.


Entscheidung

88. BGH 4 StR 516/11 - Beschluss vom 23. November 2011 (LG Essen)

Rechtsfehlerhafte Anordnung des Wertersatzverfalls (übersehene gesamtschuldnerische Haftung bei Mitverfügungsmacht; Tenorierung; Erstreckung des Erfolgs der Revision).

§ 73a StGB; § 111i Abs. 2 StPO; § 357 StPO

Bei der Anordnung von Wertersatzverfall nach § 73a StGB bedarf es des Ausspruchs über die gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Täter oder Teilnehmer schon im tatrichterlichen Urteil.