HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2009
10. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

565. BGH 1 StR 342/08 - Urteil vom 30. April 2009 (LG Gießen)

BGHSt; Steuerhinterziehung durch fingierte Ketten- und Karussellgeschäfte (Strafzumessung nach dem aus dem Gesamtsystem erwachsenen Gesamtschaden; verschuldete Auswirkungen der Tat); Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung (Verteidigung der Rechtsordnung bei komplexem und aufwändigem Täuschungssystem zur systematischen Verschleierung von Sachverhalten über einen längeren Zeitraum); Untreue (Strafantragserfordernis; Verfahrenshindernis); unzulässiges Selbstleseverfahren (Beruhen).

§ 370 Abs. 1 und Abs. 4 AO; § 46 Abs. 2 StGB; § 56 Abs. 3 StGB; § 266 StGB; § 247 StGB; § 337 StPO

1. In Fällen fingierter Ketten- oder Karussellgeschäfte, die auf Hinterziehung von Steuern angelegt sind, ist bei der Strafzumessung der aus dem Gesamtsystem erwachsene deliktische Schaden als verschuldete Auswirkung der Tat zu Grunde zu legen, soweit den einzelnen Beteiligten die Struktur und die Funktionsweise des Gesamtsystems bekannt sind (im Anschluss an BGHSt 47, 343). (BGHSt)

2. Werden durch ein komplexes und aufwändiges Täuschungssystem, das die systematische Verschleierung von Sachverhalten über einen längeren Zeitraum bezweckt, in beträchtlichem Umfang Steuern verkürzt, kann sich die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung als notwendig erweisen. (BGHSt)

3. Bei der Ausstellung einer Scheinrechnung mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer ist eine Gefährdung des Steueraufkommens jedenfalls dann gegeben, wenn diese Rechnung zum Vorsteuerabzug benutzt werden kann und der Rechnungsaussteller die gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abgeführt hat (BGH NStZ 2001, 380, 381). (Bearbeiter)

4. Durch Rechnungen, in denen Umsatzsteuer ausgewiesen wird, wird dem Rechnungsempfänger eine weitere Möglichkeit der Steuerhinterziehung eröffnet. Wenn sich die mit der Scheinrechnung verbundene Gefahr dann aber realisiert, hat diese verschuldete Auswirkung der Tat für die Strafzumessung Bedeutung. Es ist zu berücksichtigen, dass die Verkürzung, die aus den unrichtigen Erklärungen eines Zwischenhändlers resultiert, den schon durch das Unterlassen der Umsatzsteuervoranmeldungen bzw. -jahreserklärung durch den Erstankäufer verursachten Steuerschaden fortsetzt und allenfalls vergrößert. Damit ist das Steueraufkommen zwar nicht in der Summe der beiden Hinterziehungen, aber im Umfang des jeweils höheren Hinterziehungsbetrages gefährdet (BGH NStZ 2003, 268). (Bearbeiter)

5. Bei Steuerhinterziehungen beträchtlichen Umfangs ist auch von Gewicht, die Rechtstreue der Bevölkerung auf dem Gebiet des Steuerrechts zu erhalten. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung ist insbesondere dann geboten, wenn eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalls für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert werden könnte (vgl. BGHSt 24, 40, 46; BGHR StGB § 56 Abs. 3 - Verteidigung 15; BGH wistra 2000, 96, 97). (Bearbeiter)

6. Besondere Umstände, die die Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe gebieten könnten, liegen insbesondere dann vor, wenn durch Umsatzsteuerhinterziehungen große Steuerausfälle verursacht werden und sich der Angeklagte an einem komplexen und aufwändigen Täuschungssystem beteiligt, das die systematische Verschleierung von Sachverhalten über einen längeren Zeitraum bezweckte (vgl. BGH NJW 2009, 533). Erforderlich ist eine dem Einzelfall gerecht werdende Abwägung, bei der Tat und Täter umfassend zu würdigen sind (BGHSt 24, 40, 46; BGHR StGB § 56 Abs. 3 - Verteidigung 5, 6 und 16; NStZ-RR 1998, 7, 8). (Bearbeiter)


Entscheidung

647. BGH 5 StR 394/08 - Beschluss vom 9. Juni 2009 (LG Berlin)

BGHR; Berliner Stadtreinigung; BSR; Betrug (konkludente Täuschung; Inanspruchnahme von Vertrauen; Erwartung des Rechtsverkehrs; Prüfungsmöglichkeiten; Vermögensverfügung; Dreiecksbetrug); Gebührenübererhebung; Abgabenübererhebung; Spezialität; Privilegierung; Strafzumessung (Berücksichtigung der Schadenshöhe; gesicherte Schadenswiedergutmachung infolge Kostendeckungsprinzips); mittelbare Täterschaft.

§ 352 StGB; § 353 StGB; § 263 StGB; § 25 StGB; § 46 StGB

1. Verdrängung von § 263 StGB durch §§ 352, 353 StGB. (BGHR)

2. Ein Irrtum im Sinne des § 263 StGB liegt schon dann vor, wenn der Anspruchsverpflichtete tatsächlich davon ausgeht, eine Abrechnung sei ordnungsgemäß vollzogen worden, auch wenn er deren Grundlagen nicht kennt. (BGHR)

3. Die Privilegierungstatbestände der §§ 352, 353 StGB stehen zwar im Rahmen ihres tatbestandlichen Anwendungsbereichs im Verhältnis der Spezialität zu § 263 StGB. Daraus folgt jedoch nicht, dass Täuschungshandlungen im Zusammenhang mit Gebühren und öffentlichen Abgaben nur unter den dort benannten Tatbestandsvoraussetzungen überhaupt strafbar wären. Vielmehr stehen auch solche Zahlungsverpflichtungen unter dem strafrechtlichen Schutz des § 263 StGB, wenn sich die Täuschungshandlung auf sie bezieht. Denn die Strafbarkeit einer täuschungsbedingten Schädigung des Vermögens Dritter entfällt nicht deshalb, weil für Sonderformen des Betrugs in §§ 352, 353 StGB überkommene Privilegierungstatbestände zugunsten einzelner Berufsgruppen fortbestehen. (Bearbeiter)

4. Eine Täuschung im Sinne des § 263 Abs. 1 StGB kann auch konkludent erfolgen, indem der Täter die Unwahrheit zwar nicht expressis verbis zum Ausdruck bringt, sie aber nach der Verkehrsanschauung durch sein Verhalten miterklärt. Welcher Inhalt der Erklärung zukommt, bestimmt sich ganz wesentlich durch den Empfängerhorizont und die Erwartungen der Beteiligten. (Bearbeiter)

5. Der Verkehr erwartet im Zusammenhang mit der Geltendmachung eines zivilrechtlichen Anspruchs vor allem insoweit eine wahrheitsgemäße Darstellung, als die dargestellten Tatsachen wesentlich für die Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs sind und der Adressat sie aus seiner Situation nicht ohne weiteres überprüfen kann, sodass der Erklärende zwangsläufig sein Vertrauen in Anspruch nimmt. (Bearbeiter)


Entscheidung

608. BGH 3 StR 107/09 - Beschluss vom 21. April 2009 (LG Duisburg)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Mittäterschaft; Beihilfe).

§ 29a BtMG; § 25 StGB; § 27 StGB

1. Als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln sind alle Tätigkeiten anzusehen, die auf den Umsatz von Rauschgift gerichtet sind; als tatbestandliche Handlungen sind damit im Grundsatz auch Tätigkeiten mit primär unterstützendem Charakter erfasst (st. Rspr.; vgl. BGHSt 50, 252, 256 ff.).

2. Trotz dieser weiten Begriffsbestimmung richtet sich die Abgrenzung von (Mit-)Täterschaft und Beihilfe indes nach den allgemeinen Regeln der §§ 25, 27 StGB (vgl. BGHSt 51, 219, 221). Danach ist Mittäter, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Beitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass dieser als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen (vgl. BGH NStZ 2007, 531). Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein; Durchführung und Ausgang der Tat müssen somit zumindest aus der subjektiven Sicht des Tatbeteiligten maßgeblich auch von seinem Willen abhängen. Dabei deutet eine ganz untergeordnete Tätigkeit schon objektiv darauf hin, dass der Beteiligte nur Gehilfe ist (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ 2005, 228).

3. Wenn auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Entscheidung, ob die Tätigkeit eines an einem Rauschgiftumsatz Beteiligten als Beihilfe oder (Mit-)Täterschaft beim Handeltreiben zu bewerten ist, nicht allein davon abhängig gemacht werden darf, ob er unmittelbar am Erwerb oder Absatz der Betäubungsmittel beteiligt ist (vgl. BGH NStZ 2008, 40, 41), so fällt doch ins Gewicht, wenn die Tätigkeiten des Angeklagten insgesamt nur dem Transport des Rauschgifts nach Deutschland dienen sollten und damit lediglich einen Teilbereich des von Hintermännern geplanten Geschäfts betrafen.

4. Die Vollendung des Handeltreibens setzt nicht voraus, dass die zum Umsatz bestimmten Betäubungsmittel vorhanden sind, objektiv zur Verfügung stehen oder gar sich schon im Besitz des Täters befinden. Sieht der Täter eine reelle Chance, sich die Drogen beschaffen zu können, so ist die Tat vielmehr bereits mit der ernsthaft getroffenen Abrede vollendet, die Betäubungsmittel sodann gewinnbringend weiter zu veräußern; hieran ändert es nichts, wenn die Erwartung des Täters später fehlschlägt.


Entscheidung

637. BGH 5 StR 55/09 - Beschluss vom 9. Juni 2009 (LG Dresden) Schädliche Neigungen (Vorliegen zum Zeitpunkt des Urteils; Beweiswürdigung); Jugendstrafe.

§ 17 Abs. 2 JGG; § 261 StPO

1. Schädliche Neigungen sind erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt waren.

2. Die Verhängung von Jugendstrafe wegen Vorliegens schädlicher Neigungen setzt voraus, dass diese noch zum Urteilszeitpunkt bestehen und weitere Straftaten befürchten lassen.