HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2008
9. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Gebotene psychiatrische Begutachtung in Fällen auffälliger Besonderheiten in der Tat und/oder bei dem Täter

Von Clemens Basdorf, VRiBGH, Leipzig

Gern leiste ich der Aufforderung Folge, zum Jubiläum der 100. Ausgabe der HRRS, dieser stets hochaktuellen, die straf- und strafverfahrensrechtliche Diskussion immer wieder anregenden und bereichernden Publikation, einen Beitrag zu liefern. Ich verbinde dies mit den besten Wünschen an die Redaktion für fortdauerndes erfolgreiches Wirken. Die in den Strafsenaten tätigen Bundesrichter müssen dabei häufig Kritik einstecken, die sie nicht immer akzeptieren können. Allein durch die aktuelle Erkenntnis von Reaktionen auf ihre Spruchpraxis werden sie so indes bei ihrer Entscheidungsfindung stets wach gehalten.

Für meinen Beitrag habe ich ein Thema gewählt, das die Rechtsprechung des 5. Strafsenats - aber auch aller anderen Strafsenate - des Bundesgerichtshofs nicht ganz selten beschäftigt. Es geht um besondere Problemfälle der materiell-rechtlichen Anwendung der §§ 20, 21 StGB und um die strafverfahrensrechtliche Frage der Notwendigkeit einer psychiatrischen Begutachtung von Angeklagten in Fällen dieser Art. Ich habe das Thema bereits im Rahmen eines Vortrags zu den "Auswirkungen von Persönlichkeitsstörungen auf die Schuldfähigkeit aus Sicht der (neueren) höchstrichterlichen Rechtsprechung - Voraussetzungen / Rechtsfolgen / Fehlerquellen" behandelt, den ich im Jahre 2006 bei der 11. Dresdner Forensischen Frühjahrstagung gemeinsam mit Dr. Andreas Mosbacher, unserem damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter, heute Vorsitzender Richter am Landgericht Berlin, gehalten habe. Der freilich durch neue Rechtsprechung aktualisierte Beitrag lehnt sich - mit freundlicher Genehmigung des Coautors Dr. Mosbacher und des Initiators und Mitveranstalters der damaligen Tagung, des psychiatrischen Sachverständigen Dr. med. habil. Matthias Lammel - eng an einen Teil des damals gehaltenen Vortrags an, der vollständig bei Lammel u. a.[Hrsg.],

Forensische Begutachtung bei Persönlichkeitsstörungen - 4. Jahresheft für forensische Psychiatrie 2007 veröffentlicht ist.

1. Bestehen bei Tat oder Täter massive Besonderheiten, sind diese bei der Diagnose und der Erörterung der Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB ausführlich abzuhandeln. Als Faustregel kann gelten: Je größer die biographischen Besonderheiten im Vorleben des Täters, je "verrückter" (unerklärlicher, sinnloser, bizarrer) die Tat, desto mehr Begründungsaufwand für eine Ablehnung von §§ 20, 21 StGB!

Während auf der anderen Seite die Auswirkung einer psychischen Störung auf die Schuldfähigkeit durch die konkret zu beurteilende Tat zu relativieren ist, kann eben diese auch ein massives Indiz für das Vorliegen einer relevanten Störung liefern.

a) Als einprägsames, facettenreiches Ausgangsbeispiel stelle ich einen grausigen Fall vor, der beim 5. Strafsenat unter dem Stichwort "Die gepfählte Jungfrau" bekannt ist und der mich in meiner revisionsrichterlichen Praxis intensiv beeindruckt, ja sogar einigermaßen traumatisiert hat (BGH, Urt. v. 23.1.2002 - 5 StR 391/01). Es heißt in dem Senatsbeschluss wörtlich:

"Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit der erhobenen Sachrüge hat die Revision des Angeklagten Erfolg. Die Ausführungen des Landgerichts zur Schuldfähigkeit halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Der Angeklagte tötete vorsätzlich seine 14jährige Cousine, deren ‚freizügiges Verhalten' ihn ‚provozierte', aus einem ‚Bestrafungs- und Zerstörungsimpuls' mit ‚Vernichtungswillen'. Er wollte das ‚böse Mädchen' sexuell erniedrigen und anschließend ‚als Frau' zerstören. Er versetzte ihr 36 Messerstiche in den Bauch- und Brustbereich, wodurch Lunge, Herz, Leber und Darm durchgreifend verletzt wurden. Ferner setzte er zahlreiche Stichverletzungen im Gesäß und im Rücken. Schließlich rammte er einen 54 cm langen Holzstock mit erheblichem Kraftaufwand in die Scheide und 30 cm tief in den Körper. In den After führte er einen Kofferanhänger ein. Hierin hat das Landgericht rechtsfehlerfrei einen grausam und aus niedrigen Beweggründen begangenen Mord gefunden.

Das Landgericht hat nach Anhörung zweier psychiatrischer Sachverständiger uneingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten angenommen. Es hat insbesondere das Vorliegen einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie und einen hochgradigen Affekt ausgeschlossen.

Die Urteilsausführungen tragen die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit nicht. Unter dem Gesichtspunkt der gebotenen Ganzheitsbetrachtung ist namentlich die Erörterung zu vermissen, ob etwa eine schwere seelische Abartigkeit, die im Urteil nur am Rande erwähnt ist, vorliegt. Schon das außergewöhnliche Bild der hiesigen Tat und zudem die im Jahr 1989 vom Angeklagten in Russland begangene Tat, die wesentliche Parallelen zur hiesigen Tat aufweist, einschließlich der damals gestellten Diagnosen machen eine eingehende Prüfung und Erörterung unter dem Gesichtspunkt des etwaigen Vorliegens eines psychischen Defekts der genannten Art unerlässlich.

Die aufgezeigten Mängel bei der Beurteilung der Frage uneingeschränkter Schuld führen zur Aufhebung des Schuldspruchs mit den Feststellungen. Der neue Tatrichter muss Gelegenheit haben, bei der gebotenen umfassenden neuen Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten das objektive Geschehen selbst festzustellen. Deshalb hebt der Senat das angefochtene Urteil in vollem Umfang auf.

Sollten in der neuen Hauptverhandlung auch nur die Voraussetzungen des § 21 StGB festgestellt werden, liegt die Anordnung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) auf der Hand; das Verschlechterungsverbot stünde ihr nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Für die Annahme des hierfür erforderlichen stabilen und massiven psychischen Defekts des Angeklagten liegen trotz bislang nicht erfolgter Feststellung der Voraussetzungen des § 21 StGB angesichts der biographischen Besonderheiten des Angeklagten im Zusammenhang mit der früheren gravierenden Gewalttat und mit bereits früher - u.a. als Reaktion hierauf - veranlassten stationären Behandlungen in psychiatrischen Kliniken sowie im Blick auf das ungewöhnlich grausame, teilweise bizarre Tatbild und die außergewöhnliche Tatmotivation deutliche Anhaltspunkte vor. Immerhin hat auch einer der bisher gehörten Sachverständigen eine ‚tief verwurzelte Sexualproblematik' beim Angeklagten diagnostiziert, die während der Tat zum Durchbruch gelangt sei."

Nachdem das Schwurgericht in diesem Fall, den psychiatrischen Sachverständigen folgend, uneingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten angenommen hatte, musste das Revisionsgericht freilich befürchten, dass das neue Tatgericht eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen, daraufhin in Anwendung der §§ 21, 49 StGB eine zeitige Freiheitsstrafe verhängen werde, sich andererseits aber nach der bisherigen Beurteilung der psychischen Verfassung des Angeklagten durch zwei Sachverständige nicht dazu durchringen werde, sich vom Vorliegen erheblich eingeschränkter Schuldfähigkeit sicher zu überzeugen, was für eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB stets als unerlässlich gilt. Dieses im Sinne des Schutzes der Allgemeinheit vor einem massiv gefährlichen psychisch gestörten Täter schwer erträgliche Ergebnis sucht die Rechtsprechung durch die Suche nach eindeutigen Ergebnissen (vgl. Theune NStZ-RR 2002, 225, 227) im Tatsächlichen zu vermeiden. Es stellt sich hier die Frage, ob in Fällen dieser Art der Zweifelssatz gestatten kann, bei der Alternative zwischen lebenslanger Freiheitsstrafe bei uneingeschränkter Schuldfähigkeit und Unterbringung nach § 63 StGB bei erheblich einge-

schränkter Schuldfähigkeit die letztere Möglichkeit ausnahmsweise auch bei verbleibenden Zweifeln am Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB zu wählen. Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist konkret gegenüber lebenslanger Freiheitsstrafe die mildere Sanktion gegen den Angeklagten; eine gleichsam doppelte Anwendung des Zweifelssatzes mit der Folge zeitiger Freiheitsstrafe ohne Sicherung sollte im Interesse der Sicherheit der Allgemeinheit dem jedenfalls gestörten, massiv gefährlichen Täter nicht zugute kommen. Bislang ist solches noch nicht entschieden worden (vgl. indes zu ähnlichen Überlegungen im Grenzbereich von § 63 StGB und Sicherungsverwahrung bei Vollrausch: BGH Beschl. v. 8.1.2004 - 4 StR 147/03 = NJW 2004, 960); vielleicht müsste hier auch der Gesetzgeber für Abhilfe sorgen.

Im benannten Fall ist freilich auch das zweite Schwurgericht nach Anhörung derselben Sachverständigen (ein nicht ganz zweifelsfreies Procedere des neuen Tatgerichts), die sich vom BGH nicht "irre machen" ließen, wieder zur Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit und konsequent zur Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe gelangt. Dieses Urteil ließ der BGH dann rechtskräftig werden. Die baldige Nachricht vom besonders grausam durchgeführten Suizid des Verurteilten im Gefängnis durch Selbstverbrennung war wohl geeignet, noch stärkere Beklommenheit bei mitwirkenden Richtern zu wecken und die Richtigkeit und Weisheit dieses Verurteilungsergebnisses noch stärker in Frage zu stellen.

b) Weitere Beispiele: Besonders auffälliges Nachtatverhalten, u. a. Leichenschändung, Suizidversuch nach Mord (BGH Urt. vom 27.6.2001 - 1 StR 179/01 sowie Beschl. v. 28.11.2001 - 5 StR 434/01); sich steigernde motivlose Brandstiftungsserie (BGH Beschl. v. 25.7.2001 - 5 StR 287/01).

Gerade Brandstiftungsdelikte geben im Übrigen - wenn es sich nicht gerade um Versicherungsbetrug oder schlicht gemeine Racheakte handelt - häufig Anlass zu besonders kritischer Überprüfung der Schuldfähigkeit.

Mit gewisser Verwunderung hat es mich stets erfüllt, dass im "Kannibalenfall" (BGH, Urt. v. 22.4.2005 -= BGHSt 50, 80 = HRRS 2005 Nr. 458; Rückläufer: BGH, Beschl. vom 7.2.2007 - 2 StR 518/06 = HRRS 2007 Nr. 233) die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit als rechtlich so unproblematisch erachtet wurde. Bei einer Tatbegehung, die ein solches Ausmaß an Überwindung natürlicher Hemmschwellen wie Grauen und Ekel in massivster Form erfordert, drängt sich mir die Frage auf, ob nicht die Fähigkeit des Angeklagten, bei Nichteinverständnis des Opfers von der Tatbegehung Abstand zu nehmen, bei der Beurteilung der Verminderung der Hemmungsfähigkeit massiv überschätzt worden ist (vgl. hierzu jetzt auch Kreuzer StV 2007, 598).

c) Angemerkt haben Mosbacher und ich zu diesem Themenbereich damals abschließend, dass in sämtlichen gravierenderen Fällen, in denen psychische Besonderheiten wegen Auffälligkeiten im Vorleben des Angeklagten oder in der Tat gegeben sind - so beispielsweise stets, wenn gesteigerte Emotionen bei der Tat eine nicht nur untergeordnete Rolle spielen können -, wegen der minderen Sachkunde von Juristen in der Beurteilung psychischer Befindlichkeiten die Zuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur besseren Wahrheitsfindung in den Bereichen des subjektiven Tatbestandes, der Schuldfähigkeit und letztlich auch der angemessenen Rechtsfolgengestaltung angezeigt ist. Die verbreitete Praxis, in Kapitalstrafverfahren - wenn es nicht gerade um einen ersichtlich "schlichten" Raubmord oder klar professionelles Schwerstverbrechertum geht - regelmäßig einen "Psycho"-Sachverständigen beizuziehen, erweist sich daher als ersichtlich sachgerecht (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 13.10.2005 - 5 StR 278/05 = NStZ 2006, 49 = HRRS 2005 Nr. 922).

2. Die letztgenannten Überlegungen haben sich inzwischen in der Rechtsprechung des 5. Strafsenats weiter niedergeschlagen. Drei unter der Berichterstattung meiner jüngst leider pensionierten, in allen Fragen strafrechtlich-psychiatrischer Grenzbereiche besonders profilierten Senatskollegin Dr. Ursula Gerhardt verfasste Entscheidungen seien erwähnt.

a) Ein nach außen stets unauffälliger unbestrafter Mann, der durch das stetige Fremdgehen seiner Ehefrau zutiefst gedemütigt und darüber zunehmend gesteigert in Verzweiflung geraten war, brach nachts in das Haus des letzten Liebhabers seiner Ehefrau ein und erschlug diesen im Schlaf, nachdem er wenige Tage zuvor sein Opfer - ganz im Widerstreit zu seiner sonst friedlichen Wesensart - in aller Öffentlichkeit massiv geschlagen hatte. Das Schwurgericht meinte, Anhaltspunkte dafür, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten vermindert oder gar aufgehoben sein könnte, seien nicht einmal im Ansatz ersichtlich, so dass auch kein Anlass bestanden habe, den Angeklagten einer forensisch-psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen.

Die Revision des wegen Heimtückemordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Angeklagten hatte mit der Aufklärungsrüge zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg, weil das Schwurgericht zur Frage möglicherweise erheblich verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten keinen psychiatrischen Sachverständigen gehört hatte: Hierzu hätten die im Urteil beschriebene Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten, seine Persönlichkeitsentwicklung mit Blick auf den schwelenden und sodann offen ausbrechenden Beziehungskonflikt sowie die Entwicklung der Beziehung des Revisionsführers zu seiner Ehefrau und zu dem späteren Tatopfer gedrängt. Auf die im Urteil dargestellte, entsprechend der Entwicklung des konflikthaften Geschehens zunehmende Destabilisierung der Persönlichkeit des Angeklagten, die seine psychiatrische Begutachtung nahe legte, habe die Revision zutreffend hingewiesen. Vor dem Hintergrund der festgestellten Einzelheiten hätte das Schwurgericht jedenfalls ohne weitere Erkenntnisse oder tiefergehende Erörterungen sachverständiger Beratung zur Frage der Schuldfähigkeit unbedingt bedurft. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Angeklagte durchaus planvoll gehandelt habe, denn selbst zielstrebiges und folgerichtiges Verhalten stehe der Annahme einer erheblichen Verminderung des Hemmungsvermögens nicht unbedingt entgegen (BGH, Beschl. vom 29.11.2006 - 5 StR 329/06 = NStZ-RR 2007, 83 = HRRS 2007 Nr. 61).

Bleibt anzumerken, dass es für die Revision im vorliegenden Fall unschädlich blieb, dass die Verteidigung nicht bereits in der Hauptverhandlung auf die psychiatrische Begutachtung des Angeklagten angetragen hatte, da hier die Verteidigung mit dem Ziel der Freisprechung mangels erweislicher Tatbegehung geführt worden war.

b) Zur Zeit der - nach der Spruchpraxis des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht nur als "Sommermärchen" imponierenden, sondern immer wieder auch mit kriminogenen Auffälligkeiten verbundenen - Fußballweltmeisterschaft 2006 kam es zwischen zwei Gruppen junger Männer, zum einen solchen, die an einem Bahnhof im Berliner Umland "abhingen", zum anderen solchen, die ihre Fußballbegeisterung mit als lästig empfundener Lautstärke herausgrölten, zu einem lächerlichen, von Imponiergehabe und Kraftmeierei geprägten Streitgeplänkel. Dieses spitzte sich derart zu, dass der angeklagte Heranwachsende ein Messer zückte und es schließlich einem der Kontrahenten, als dieser ihn noch unbedacht aufstachelte, unvermittelt mit sofortigem Todeserfolg ins Herz stieß.

Die Revision des wegen Totschlags zu neun Jahren Jugendstrafe verurteilten, als uneingeschränkt schuldfähig angesehenen Angeklagten hatte zum Rechtsfolgenausspruch mit einer Verfahrensrüge wegen Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens Erfolg, mit dem die Verteidigung den Nachweis einer mindestens erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten infolge Alkohols und Erregung erstrebt hatte. Diesen Beweisantrag hatte das Tatgericht im wesentlichen unter Hinweis auf die eigene Sachkunde mit der Begründung zurückgewiesen, weder aus der Lebensgeschichte noch aus der Tat des Angeklagten ergäben sich Anknüpfungstatsachen, welche die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens erforderlich machten.

Dem ist der 5. Strafsenat entgegengetreten: Fallbezogene Besonderheiten hätten eine Begutachtung entgegen der Auffassung des Landgerichts nahe gelegt; das Landgericht habe seine eigene Sachkunde jedenfalls mangels hinreichender Beachtung dieser Besonderheiten weder in dem den Antrag zurückweisenden Beschluss noch in den Urteilsgründen ausreichend belegt. Beim Angeklagten hätten ganz erhebliche Schul- und Ausbildungsprobleme bestanden. Er habe vermehrt Alkohol, zudem auch etwas Rauschgift konsumiert und sei nach Trennung von einer Freundin dadurch auffällig geworden, dass er sich an den Armen geritzt habe. Unter Alkoholeinfluss habe er besonders aggressiv reagiert und nur über eine geringe Frustrationstoleranz verfügt. Dies könne auch im Zusammenhang mit dem gruppendynamischen Hintergrund des Tatgeschehens die Annahme gedanklicher Beherrschung und willensmäßiger Steuerung der tatlenkenden gefühlsmäßigen Regungen des Angeklagten bei der offensichtlich völlig überzogenen, mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerattacke in Frage stellen (BGH, Urt. vom 30.8.2007 - 5 StR 193/07 = BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 13 = HRRS 2007 Nr. 885).

c) Ein unbescholtener aus Afghanistan stammender Heranwachsender geriet unversehens in eine Konfrontation mit einem nach dem Herauswurf aus einer Diskothek tobenden, die Umstehenden beleidigenden und auch verletzenden jungen Mann. In dem Moment, als es Begleitern gelungen war, den Randalierenden etwas zu beruhigen, zog der Angeklagte unversehens ein Messer und erstach den Störenfried.

Die Revision des wegen im Zustand uneingeschränkter Schuldfähigkeit begangenen Totschlags zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilten Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg: Es erwies sich als rechtsfehlerhaft, dass die Strafkammer keine hinreichenden Erwägungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten angestellt hatte. Allein die Tatsache, dass der Angeklagte bei Begehung der Tat nicht unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol stand, machte eine Erörterung seiner Steuerungsfähigkeit nicht entbehrlich. Hierzu hätte schon im Hinblick auf die ungewöhnliche Diskrepanz zwischen Tat und Täterpersönlichkeit Anlass bestanden. So belegten die Urteilsfeststellungen ein ganz außergewöhnlich positives Persönlichkeitsbild des familiär und sozial gut eingebundenen Angeklagten. Dass dieser ruhig, zielbewusst, überlegt und ohne jede affektive Erregung einen Menschen getötet haben soll, sei nicht nur angesichts seiner Persönlichkeit, sondern auch vor dem Hintergrund der von Aggressivität und Gewalt geprägten Tatsituation schwer nachvollziehbar. Der Senat konnte nicht ausschließen, dass die Jugendkammer bei der gebotenen Prüfung zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten - wenn auch nicht unbedingt erheblich im Sinne des § 21 StGB - eingeschränkt war (BGH, Urt. vom 30.8.2007 - 5 StR 197/07 = BGHR StGB § 21 Sachverständiger 13 = HRRS 2007 Nr. 886).

d) In beiden letztgenannten Fällen hat der Senat darauf hingewiesen, dass in der Bewertung des äußeren Erscheinungsbildes und des Verhaltens des Täters durch Laien-Zeugen - hier jeweils als ruhig und besonnen - keine zureichende Grundlage zur Beurteilung der psychischen Befindlichkeit des Angeklagten bei Ausführung der Tat zu finden sei (vgl. BGH, Beschluss vom 31.3.2004 - 5 StR 351/03 = HRRS 2004 Nr. 727). Ferner hat der Senat angemerkt, in Kapitalstrafsachen, zumal im Bereich der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht, bestehe in der Mehrzahl der Fälle - wenn nicht ein länger geplantes, wenngleich verwerfliches, so doch rational nachvollziehbar motiviertes Verbrechen vorliege - Anlass, rechtzeitig im Vorfeld der Hauptverhandlung einen psychiatrischen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen.

Der 1. Strafsenat fand in dieser Erwägung offenbar eine Tendenz, der er sich mit folgendem Leitsatz entgegenzutreten veranlasst sah (BGH, Beschl. v. 5.3.2008 - 1 StR 648/07 = HRRS 2008 Nr. 324): "Ein Rechtssatz des Inhalts, dass der Tatrichter in Kapitalstrafsachen aus Gründen der Aufklärungspflicht stets gehalten ist, einen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen, existiert nicht. Das Revisionsgericht kann vielmehr regelmäßig davon ausgehen, dass der Tatrichter über die notwendige Sachkunde verfügt, um zu beurteilen, ob mit Blick auf das Tatbild und die Person des Angeklagten die Hinzuziehung eines Schuldfähigkeitsgutachters geboten ist."

Soweit sicher richtig in dem jener Entscheidung zugrunde liegenden Fall eines, wenngleich möglicherweise spontan, geplanten mörderischen Brandanschlags, ebenso in allerjüngster Zeit ausdrücklich gebilligt vom 5. Strafsenat im Fall einer bewaffneten Auseinandersetzung, in welche sich der Täter mit entsprechender Vorbereitung und Aufrüstung hineinbegeben hatte (BGH, Urt. v. 15.4.2008 - 5 StR 44/08 = HRRS 2008 Nr. 543). Gleichwohl ist mit jenem für sich so richtigen wie selbstverständlichen Leitsatz nichts darüber gesagt, von wann an Tatbild und/oder Person des Täters Anlass zu einer psychiatrischen Begutachtung geben. Der Maßstab hierfür ist in Kapitalstrafsachen mit Rücksicht auf die häufig anzutreffenden Besonderheiten eher niedrig anzusetzen. Die erfahrenen Schwurgerichte und Jugendkammern, weitgehend im Einklang mit den zuständigen Spezialabteilungen der Staatsanwaltschaften für Kapitalstrafsachen - wie es dem Verfasser beispielsweise im Bereich des Landgerichts Berlin bekannt ist - tun im Interesse der Sachaufklärung gut daran, wenn sie in den meisten Fällen entsprechende Gutachten zur Vorbereitung der Hauptverhandlung in Auftrag geben. Die Sachaufklärung erfährt hierdurch in diesem Bereich auch unterhalb des unmittelbar erstrebten Beweisziels der Schuldfähigkeitsfrage nicht selten auch einmal Förderung durch Ermittlung wesentlicher strafzumessungsrelevanter Tatsachen, namentlich im Bereich einer Erforschung der Tatmotivation. Es wird hoffentlich niemand auf den Gedanken verfallen, in solcher Verfahrensweise eine Verschleuderung von finanziellen Mitteln und zeitlichen Ressourcen zu sehen. Im letztzitierten Urteil hat der 5. Strafsenat angemerkt, mit solcher Verfahrensweise werde vielmehr "der zeitgerechten Sacherledigung optimal Rechnung getragen"; es werde "so nämlich vermieden, dass sich das Tatgericht erst in der Hauptverhandlung - mehr oder weniger deutlich vorhersehbar - mit gewichtigen seelischen Konfliktsituationen des Angeklagten bei Begehung der Tat konfrontiert sieht, ohne dass es sich noch selbst zutrauen dürfte, deren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit beurteilen zu können".

Mit Rücksicht auf einen offenbar vorhandenen gewissen Unmut gegen die hier vertretene Position bleibt klarzustellen, dass das Anliegen, in nicht alltäglichen Bereichen des unnormal oder seltsam Anmutenden die Schuldfrage durch "Psycho"-Sachverständige näher erforschen zu lassen, nicht etwa als Tendenz zu regelmäßiger Ex- oder Dekulpation missverstanden werden sollte. Die von den Revisionsgerichten meist (von durchaus extremen Ausnahmefällen abgesehen, vgl. oben 1 a) zu akzeptierenden ganz unterschiedlichen, keineswegs stets exkulpationsfreudigen Sachverständigengutachten belegen dies. Wer die hier empfohlene Verfahrensweise als Überpsychologisierung von Schwurgerichtsverfahren kritisiert, muss sich die skeptische Frage gefallen lassen, ob nicht vielmehr er sich als Jurist bei der Sicherheit der Beurteilung existentieller Grenzfragen überschätzt.