HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2007
8. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB


Entscheidung

373. BGH 3 StR 470/06 - Urteil vom 8. Februar 2007 (LG Wuppertal)

Rücktritt vom Versuch (fehlgeschlagener; mehraktiges Geschehen; Rücktrittshorizont; Freiwilligkeit und Entdeckung; unbeendeter Versuch; beendeter Versuch; Vorsatzwechsel (direkter Vorsatz; Eventualvorsatz; Erreichen eines außertatbestandlichen Zieles); Beweiswürdigung (Lückenhaftigkeit).

§ 24 Abs. 1 StGB; § 212 StGB; § 261 StPO; § 267 Abs. 3 StPO

1. Nimmt der Täter im Rahmen eines mehraktigen Geschehens verschiedene Handlungen vor, die auf die Herbeiführung eines Erfolges gerichtet sind, so steht der Fehlschlag eines oder mehrerer der anfänglichen Einzelakte nicht notwendig einem Rücktritt vom Versuch entgegen. Bilden diese Einzelakte untereinander sowie mit der letzten Tathandlung Teile eines durch die subjektive Zielrichtung des Täters verbundenen, örtlich und zeitlich einheitlichen Geschehens, so beurteilen sich die Fragen, ob der Versuch fehlgeschlagen ist oder ob der strafbefreiende Rücktritt andernfalls allein schon durch das Unterlassen weiterer Tathandlungen (unbeendeter Versuch) oder nur durch Verhinderung der Tatvollendung (beendeter Versuch) erreicht werden kann, allein nach der subjektiven Sicht des Täters nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung.

2. Ein fehlgeschlagener Versuch liegt im Falle eines mehraktigen Geschehens nur dann vor, wenn der Täter nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung weiß oder zumindest annimmt, dass er den Taterfolg mit den bereits eingesetzten oder anderen zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur herbeiführen kann.

3. Der nicht fehlgeschlagene Versuch ist bei einem mehraktigen Tatgeschehen nur dann beendet, wenn der Täter nach dem letzten Teilakt den Eintritt des Taterfolgs als Folge seines Tuns für möglich hält. Ob er bereits zuvor im Rahmen des einheitlichen Geschehens nach einem der ersten Teilakte irrig diese Vorstellung gewonnen hatte, ist dagegen ohne Belang, wenn er aufgrund des Fortgangs des Geschehens seinen Irrtum unmittelbar erkannte.

4. Diese Grundsätze finden auch dann Anwendung, wenn der Täter zwischen den einzelnen Teilakten das Tatmittel wechselt, solange hierdurch die Einheitlichkeit des Gesamtgeschehens weder in zeitlicher noch örtlicher Hinsicht beseitigt wird.

5. Die Verbindung der Einzelhandlungen bei einem mehraktigen Tatgeschehen, die diese durch die subjektive Zielrichtung des Täters erfahren, wird nicht dadurch unterbrochen, dass der Täter hinsichtlich des Taterfolgs zunächst nur mit bedingtem Vorsatz handelte und erst den oder die späteren Teilakte mit direktem Vorsatz ausführte, etwa wegen Erreichens eines außertatbestandlichen Zieles, um dessentwillen er den Erfolg zunächst nur billigend in Kauf nahm.

6. Trug sich eine Tat von Beginn an in der Öffentlichkeit zu, kam es dem Angeklagten somit nicht auf Heimlichkeit an, steht allein die Entdeckung der Tat der Freiwilligkeit eines Rücktritts nicht zwangsläufig entgegen (vgl. BGH NStZ 1992, 587; 1999, 300, 301). Selbst wenn bei der Aufgabe der weiteren Tatausführung der Gedanke mitspielt, die Polizei könne bald eintreffen, schließt dies die Freiwilligkeit des Rücktritts nicht aus, wenn dieser Gedanke das Handeln des Angeklagten nicht bestimmte. Gibt der Täter die weitere Ausführung der Tat aus mehreren Beweggründen auf, so beurteilt sich die Freiwilligkeit nach dem Motiv, das für den Rücktritt bestimmend ist.

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB


Entscheidung

375. BGH 3 StR 486/06 - Urteil vom 15. März 2007 (LG Stuttgart)

BGHSt; "Antifa-Versand-Fall"; Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (Schutzzweck der Norm; Hakenkreuz); freie Meinungsäußerung; Sinngehalt einer Darstellung.

§ 86a StGB; Art. 5 Abs. 1 GG; Art. 10 EMRK

1. Der Gebrauch des Kennzeichens einer verfassungswidrigen Organisation in einer Darstellung, deren Inhalt in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringt, läuft dem Schutzzweck des § 86a StGB ersichtlich nicht zuwider und wird daher vom Tatbestand der Vorschrift nicht erfasst. (BGHSt)

2. Der Schutzzweck des § 86a StGB ist ein dreifacher. Zum einen dient die Vorschrift der Abwehr einer Wiederbelebung der verbotenen Organisation oder der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Bestrebungen, auf die das Kennzeichen symbolhaft hinweist. Sie bezweckt weiterhin der Wahrung des politischen Friedens dadurch, dass jeglicher Anschein einer solchen Wiederbelebung sowie der Eindruck bei in- und ausländischen Beobachtern des politischen Geschehens in der Bundesrepublik Deutschland vermieden werden soll, in ihr gebe es eine rechtsstaatswidrige innenpolitische Entwicklung, indem verfassungsfeindliche Bestrebungen der durch das Kennzeichen angezeigten Richtung geduldet würden. Schließlich will die Norm verhindern, dass die Verwendung solcher Kennzeichen - ungeachtet der damit verbundenen Absichten - sich wieder derart einbürgert, dass das Ziel, solche Kennzeichen aus dem Bild des politischen Lebens in der Bundesrepublik grundsätzlich zu verbannen, nicht erreicht wird, mit der Folge, dass sie schließlich auch wieder von den Verfechtern der politischen Ziele, für die das Kennzeichen steht, gefahrlos gebraucht werden können (BGHSt 25, 30, 33 f.; 25, 128, 130 f.). (Bearbeiter)

3. Bei der Feststellung des Sinngehalts einer Darstellung können nur sehr fern liegende, theoretische Deutungsmöglichkeiten eine sonst gegebene Eindeutigkeit der Darstellung nicht in Frage stellen. (Bearbeiter)


Entscheidung

296. BGH 5 StR 320/06 - Beschluss vom 13. März 2007 (LG Cottbus)

"Fall Dennis"; Totschlag und Mord (bedingter Tötungsvorsatz beim Verhungernlassen eines Kindes: Überschreitung der höchsten Hemmschwelle bei Tötung des eigenen Kindes; Unterlassen; grausam: Maßgeblichkeit besonderer persönlicher Umstände des Täters und der vom Vorsatz erfassten konkreten Tathandlung); Presseerklärung.

§ 212 StGB; § 211 Abs. 2 StGB; § 15 StGB; § 13 StGB

Das Mordmerkmal "grausam" wird durch eine gefühllose und unbarmherzige Gesinnung des Täters und die Billigung von Tatumständen gekennzeichnet, welche es bedingen, dass dem Opfer durch die Tötungshandlung besondere Schmerzen oder Qualen zugefügt werden (vgl. BGHSt 3, 180, 181; BGH NJW 1986, 265, 266). Hierbei ist bei einer Unterlassungstat allein die Phase des vom Tötungsvorsatz getragenen Unterlassens maßgeblich: Das Opfer muss die besonderen Schmerzen oder Qualen während des tatbestandsmäßigen Geschehens - Handeln mit Tötungsvorsatz - erlitten haben.


Entscheidung

360. BGH 3 StR 1/07 - Beschluss vom 30. Januar 2007 (LG Wuppertal)

Schwerer Raub (schwere körperliche Misshandlung); schwere Körperverletzung; Strafzumessung (gravierende Folgen für das Opfer; Vorstrafen).

§ 250 Abs. 2 Nr. 3 a StGB; § 226 StGB; § 46 StGB

1. Das Qualifikationsmerkmal der schweren körperlichen Misshandlung nach § 250 Abs. 2 Nr. 3 a StGB setzt nicht voraus, dass die Misshandlung den Tatbestand der schweren Körperverletzung nach § 226 StGB erfüllt. Vielmehr genügt eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität mit erheblichen Folgen für die Gesundheit oder erheblichen Schmerzen; dabei genügen heftige und mit Schmerzen verbundene Schläge (BGH 5 StR 216/98 - Beschluss vom 27. Mai 1998 = NStZ 1998, 461).

2. Eine Vorgehensweise, bei der das Opfer mit zahlreichen Schlägen und Tritten mehrerer Täter u. a. gegen seinen Kopf misshandelt wird, stellt eine schwere körperliche Misshandlung nach § 250 Abs. 2 Nr. 3 a StGB dar.


Entscheidung

302. BGH 5 StR 44/07 - Beschluss vom 28. Februar 2007 (LG Leipzig)

Schwere Körperverletzung durch Schütteln eines Kleinkindes; Misshandlung von Schutzbefohlenen (Handeln aus gefühlloser Gesinnung).

§ 223 Abs. 1 StGB; § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 225 StGB; § 18 StGB

Eine rohe Misshandlung im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB ist anzunehmen, wenn der Täter einem anderen eine Körperverletzung aus gefühlloser Gesinnung zufügt, die sich in erheblichen Handlungsfolgen äußert. Eine gefühllose Gesinnung liegt vor, wenn der Täter bei der Misshandlung das - notwendig als Hemmung wirkende - Gefühl für das Leiden des Misshandelten verloren hat, das sich bei jedem menschlich und verständlich Denkenden eingestellt haben würde.


Entscheidung

374. BGH 3 StR 472/06 - Beschluss vom 9. Januar 2007 (LG Kleve)

Unterschlagung (Zueignung; Unterlassen der Herausgabe; Verurteilung zur Herausgabe).

§ 246 StGB; § 13 StGB

Allein dem Unterlassen der Rückgabe einer Sache an den Eigentümer lässt sich eine Zueignung im Sinne einer

Unterschlagung gem. § 246 Abs. 1 StGB nicht entnehmen, wenn dies allein deswegen geschieht, weil der Gewahrsamsinhaber für den Fall der Herausgabe die Durchsetzbarkeit eigener Ansprüche gegen den Eigentümer gefährdet sieht. Dies gilt auch dann, wenn der Gewahrsamsinhaber zuvor rechtskräftig zur Herausgabe verurteilt worden war.


Entscheidung

258. BGH 1 StR 574/06 - Urteil vom 13. Februar 2007 (LG Ellwangen)

Besonders schwere Vergewaltigung (Tateinheit und mittäterschaftliche Zurechnung einer schweren Folge bei Ausscheiden eines Täters; schwere körperliche Misshandlung); Strafrahmenverschiebung wegen Täter-Opfer-Ausgleichs (Einbeziehung des Opfers).

§ 177 StGB; § 46 StGB; § 46a StGB; § 52 StGB; § 25 Abs. 2 StGB

1. Allein der Umstand, dass einer von zwei Tätern einer Vergewaltigung von dem Opfer ablässt, rechtfertigt keine Trennung in zwei Taten beim anderen Täter. Vielmehr kommt es bei mehrfach hintereinander begangenen Vergewaltigungen allein darauf an, ob diesen, jedenfalls soweit es die als Tatmittel angewendete Gewalt betrifft, ein einheitliches Tun eines Angeklagten zugrunde liegt (BGH NStZ 2000, 419, 420). Bei einheitlicher Gewaltanwendung liegt ebenso wie bei fortgesetzter oder fortwirkender Drohung trotz mehrfacher dadurch erzwungener Beischlafhandlungen nur eine Tat im Rechtssinne vor (BGH NStZ 2002, 199, 200).

2. Es bleibt offen, ob allein das Herbeiführen von Scheidenrissen mit äußerst schmerzhaften Entzündungsfolgen schon eine schwere körperliche Misshandlung im Sinne von § 177 Abs. 4 Nr. 2a StGB darstellt.

3. Aus der Sicht des Opfers ist es für die verlangte Kommunikation unabdingbar, dass die Geschädigte in den Dialog mit dem Täter über die zur Wiedergutmachung erforderlichen Leistungen einbezogen wird. Ein erfolgreicher Täter-Opfer-Ausgleich im Sinne des § 46a Nr. 1 StGB setzt grundsätzlich voraus, dass das Opfer die Leistungen des Täters als friedensstiftenden Ausgleich akzeptiert (BGHSt 48, 134, 142; NStZ 2002, 646).


Entscheidung

274. BGH 4 StR 467/06 - Urteil vom 15. Februar 2007 (LG Magdeburg)

Mord (Heimtücke: Arglosigkeit; niedrige Beweggründe: tatrichterlicher Beurteilungsspielraum, Motivbündel).

§ 211 Abs. 2 StGB

1. Nach der Rechtsprechung handelt heimtückisch, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt, wobei auf den Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs abzustellen ist (vgl. BGHSt 32, 382, 384). Ein bloßer, der Tat vorausgegangener Wortwechsel, eine nur feindselige Atmosphäre oder ein generelles Misstrauen schließen die Heimtücke nicht aus, wenn das Opfer hieraus noch nicht die Gefahr einer Tätlichkeit entnommen hat. Erforderlich ist vielmehr für die Beseitigung der Arglosigkeit auch bei einem vorangegangenen Streit, dass das Opfer mit einem tätlichen Angriff rechnet (vgl. BGHSt 33, 363; 39, 353, 368; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 21; BGH NStZ 2003, 146).

2. Beim Vorliegen eines Motivbündels beruht die vorsätzliche Tötung nur dann auf niedrigen Beweggründen, wenn das Hauptmotiv oder die vorherrschenden Motive, welche der Tat ihr Gepräge geben, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und besonders verwerflich sind (BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 20; BGH NStZ 2004, 34; 2006, 338, 340 m.w.N.).


Entscheidung

321. BGH 5 StR 76/07 - Beschluss vom 15. März 2007 (LG Berlin)

Totschlag im Affekt (tiefgreifende Bewusstseinsstörung: Affekttat und unverminderte Schuldfähigkeit, gebotene Gesamtwürdigung und intaktes Erinnerungsvermögen; minder schwerer Fall).

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 21 StGB; § 20 StGB

Erinnert sich der Täter an das Tatgeschehen, kann dies nur eingeschränkt als Anhaltspunkt für intaktes Steuerungsvermögen herangezogen werden (BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 5): Es handelt sich dabei nur um einen von vielen Aspekten, die als Indizien - nicht als Ausschlusskriterien - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung für und gegen die Annahme eines schuldrelevanten Affekts sprechen können (vgl. BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 3 und 5; BGHR StGB § 21 Affekt 4 bis 6). Gleiches gilt für den Umstand, dass eine Erschütterung des Angeklagten über seine Tat unmittelbar danach jedenfalls nach außen nicht in Erscheinung getreten ist.