HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2007
8. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen



Die Begrenzung langer Untersuchungshaft: eine Rechtsprechungsanalyse

PD Dr. Axel Dessecker, Wiesbaden und Göttingen *

I. Fragestellung

Untersuchungshaft als Zwangsmittel gegenüber Personen, für welche die Unschuldsvermutung gilt, steht unter dem Vorbehalt des menschen- und verfassungsrechtlich verankerten Übermaßverbots (§§ 112 I 2, 120 I 1 StPO). Eine wesentliche Ausformung ist die Vorschrift des § 121 StPO, nach der Untersuchungshaft von über 6 Monaten nur aus wichtigen Gründen unter der Kontrolle des Oberlandesgerichts zulässig ist.

Diese besondere Haftkontrolle ist in ihrer Konstruktion wie in den Einzelheiten der Regelung rechtspolitisch seit langem umstritten.[1] Das gesetzliche Modell einer besonderen Haftprüfung wird als wenig effektiv kritisiert.[2] Von Zeit zu Zeit werden Entlassungen aus der Haft in der Öffentlichkeit skandalisiert.[3] Rechtsänderungen werden vor diesem Hintergrund immer wieder vorgeschlagen.[4] Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bisher in zwei Fällen in Deutschland einsitzender Untersuchungsgefangener auf eine Konventionsverletzung erkannt. Während im Fall Erdem - bei einer Haftdauer von 5 Jahren 11 Monaten und Verurteilung zu 6 Jahren Freiheitsstrafe - schematische Prüfungen und standardisierte Begründungen der Haftfortdauer gerügt werden, wird die Konventionsverletzung im Fall Čevizović auf die wenig zügige Verhandlungsführung durch das Landgericht gestützt.[5] Der vorliegende Artikel schildert erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden, das sich mit Strategien zur Vermeidung langer Untersuchungshaft beschäftigt. Zunächst wurde eine umfassende Analyse der veröffentlichten Rechtsprechung vorgenommen.

II. Anlage und Methoden

Ein früherer Beitrag von Petra Hoch enthält tabellarische Zusammenstellungen und für einige Merkmale Häufigkeitsauszählungen zur einschlägigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, die im Zeitraum zwischen 1990 und Februar 1998 in gängigen juristischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurde.[6] Daran konnte die eigene Untersuchung zeitlich unmittelbar anschließen. Einbezogen wurden alle publizierten Entscheidungen deutscher Gerichte mit Ausnahme des Bundesgerichtshofs, welche sich mit dem Beschleunigungsgebot nach § 120 StPO oder mit den Normen der § 121 oder § 122 StPO befassen und im Zeitraum zwischen Januar 1998 und Juni 2006 ergangen sind.

1. Ermittlung einschlägiger Entscheidungen

Eine zuverlässige und möglichst vollständige Ermittlung der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen ist durch den Zugang über elektronische Datenbanken gewährleistet. Dabei konnte meist nach den angewandten Normen gesucht werden.

Wesentliches Werkzeug der Recherchen war die Datenbank Juris Rechtsprechung, die von der Juris GmbH angeboten wird. In dieser Datenbank sind hauptsächlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes seit ihrem Bestehen sowie die "wesentliche Rechtsprechung der Instanzgerichte" spätestens seit 1976 nachgewiesen.

Quellen sind Originalentscheidungen der Gerichte, amtliche Sammlungen und Zusatzsammlungen der Richter sowie über 630 juristische Fachzeitschriften.

Darüber hinaus wurden folgende elektronischen Datenbanken durchsucht:

o     die Rechtsprechungsdatenbank Höchstrichterliche Rechtsprechung Strafrecht mit allen Entscheidungen des BGH seit 1999, die wenigstens mit einer ergänzenden Anmerkung des entscheidenden Senats versehen sind,[7] aber auch anderen höchstrichterlichen Entscheidungen mit Bezug zum deutschen Strafrecht;

o     die Landesrechtsprechungsdatenbank Hessen[8] mit Entscheidungen der hessischen Gerichte, die von Richterinnen und Richtern zur Veröffentlichung vorgesehen wurden. Dazu zählten 22 Entscheidungen des OLG Frankfurt zu strafprozessualen Vorschriften seit 2002, von denen sich jedoch keine auf §§ 120 ff. StPO bezieht.

o     Die Rechtsprechungsdatenbank Nordrhein-Westfalen[9] enthält einige Entscheidungen der drei Oberlandesgerichte Düsseldorf, Hamm und Köln seit 1998, die ein HEs-Aktenzeichen tragen. Diese wurden mit dem Suchergebnis von Juris abgeglichen.

o     Die Rechtsprechungsdatenbank des OLG Dresden[10] lieferte weitere einschlägige Entscheidungen, die nicht zugleich in Juris veröffentlicht sind.

o     Schließlich waren der Leitsatzdatenbank des OLG Jena[11] einige weitere Entscheidungen zu entnehmen.

Die über das Internet zugänglichen Rechtsprechungsdatenbanken weiterer Länder und Oberlandesgerichte wurden konsultiert. Sie enthielten aber keine einschlägigen Entscheidungen, die nicht schon in Juris enthalten sind. Auf eine gesonderte Durchsicht von Zeitschriftenbänden wurde nach den positiven Erfahrungen mit den Recherchen in Datenbanken verzichtet. Mehr als drei Viertel der gefundenen Entscheidungen konnten aufgrund elektronischer Quellen ausgewertet werden.

2. Breite der Rechtsprechungsanalyse

Die Rechtsprechungsanalyse sollte in erster Linie Beschlüsse der Oberlandesgerichte erfassen, die im besonderen Haftprüfungsverfahren ergangen sind (§§ 121 II, 122 I StPO). Wie bereits Hoch gezeigt hat, wird die Rechtsprechung zur Begrenzung langer Untersuchungshaft darüber hinaus nicht unwesentlich von Haftbeschwerdeentscheidungen geprägt (§ 117 II StPO).[12] Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist demgegenüber eher am Rande von Bedeutung. Die veröffentlichten Entscheidungen[13] beruhen auf seiner Zuständigkeit nach §§ 121 IV 2, 122 VII StPO in solchen Verfahren, die im ersten Rechtszug von den "Landeshauptstadt-Oberlandesgerichten" verhandelt werden (§ 120 GVG). Dabei handelt es sich im wesentlichen um Strafsachen wegen des Verdachts von Staatsschutzdelikten. Wegen der Besonderheiten dieser Strafverfahren wurden entsprechende Haftentscheidungen aus der Analyse ausgeklammert. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Dauer der Untersuchungshaft, die sich vor allem auf den "Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens" (Art. 5 III 1 MRK) stützt, wurde schon wegen des abweichenden Prüfungsmaßstabs nicht in die systematische Rechtsprechungsanalyse einbezogen. Dagegen wurde die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welche das Haftrecht nicht unwesentlich geprägt hat, in die Analyse aufgenommen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird seit 1998 vollständig veröffentlicht, so dass die Konzentration auf die veröffentlichte Judikatur insoweit nicht zu einer Selektion führt.

3. Erhebungsinstrument

Für die systematische Auswertung der veröffentlichten Rechtsprechung wurde ein Erhebungsbogen entwickelt, der die in einzelnen Haftentscheidungen enthaltenen Informationen möglichst ausschöpft und qualitative ebenso wie quantitative Auswertungen ermöglicht. Neben dem Gegenstand und Ergebnis der Entscheidung wurden verschiedene Merkmale zum Verlauf der Untersuchungshaft erhoben, wobei besonderes Augenmerk auf Verzögerungen des Verfahrens und Maßnahmen zu seiner Beschleunigung gerichtet wurde.

III. Ergebnisse

In dem Erhebungszeitraum, der die 8 1/2 Jahre zwischen dem 1. Januar 1998 und dem 30. Juni 2006 umfasst, wurden 287 Entscheidungen ermittelt. Auffällig ist die zeitliche Verteilung: während in den Jahren zwischen 1998 und 2002 jeweils mehr als 40 Entscheidungen veröffentlicht wurden, hat sich die Häufigkeit seit 2003 auf durchschnittlich 19 Entscheidungen pro Jahr halbiert. Der Rückgang könnte mit einer veränderten Veröffentlichungspraxis zusammenhängen, aber auch einen Hinweis liefern, dass lange Untersuchungshaft von Beschuldigten und Verteidigung seither seltener als problematisch empfunden wird - was dem Eindruck in der Fachöffentlichkeit widersprechen dürfte.

1. Grunddaten zur veröffentlichten Rechtsprechung

Schon ein Blick auf die Gerichte, von denen die Entscheidungen stammen, zeigt nämlich eine deutliche Konzentration. Fast ein Drittel aller Entscheidungen wurde vom Kammergericht veröffentlicht (N = 92), dessen Veröffentlichungspraxis erfahrungsgemäß auch in anderen Bereichen wie der Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen von anderen Oberlandesgerichten abweicht. Es folgen das OLG Köln mit 30, das OLG Hamm mit 26 und das Bundesverfassungsgericht mit 18 Entscheidungen. Auf der anderen Seite liefert das OLG Frankfurt, das in der Zeit zwischen 1990 und 1998 immerhin 17 Entscheidungen veröffentlicht[14] und dessen Entscheidungspraxis die justizpolitische Diskussion der 1990er Jahre nicht unwesentlich geprägt hat[15], für die vorliegende Studie keinerlei publizierte Rechtsprechung. Dass nur wenige einschlägige Entscheidungen von Amts- und Landgerichten veröffentlicht wurden, kann dagegen nicht überraschen. Die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen erwiesen sich als bemerkenswert vollständig. 74 % der Entscheidungen waren im Volltext zugänglich, 24 % lagen mit mehr oder weniger weit gehenden redaktionellen Kürzungen vor, und lediglich 2 % beschränkten sich auf einen Leitsatz.

Eine (Mindest-)Anzahl der Beschuldigten ließ sich für fast alle Entscheidungen ermitteln. Danach entfielen allein 62 % auf Entscheidungen gegen eine einzige beschuldigte Person, bei 19 % richtete sich das Verfahren gegen zwei und bei 5 % gegen drei Beschuldigte. Verfahren gegen eine Vielzahl von Beschuldigten - im Extremfall wurden 60 Personen genannt[16] - sind insgesamt aber nicht zu vernachlässigen; immerhin 5 % betrafen mehr als 10 Beschuldigte. Erwartungsgemäß handelte es sich bei den meisten Entscheidungen um Haftprüfungen durch das Oberlandesgericht (§ 121 StPO); auf sie entfielen 67 %. Immerhin 17 % der Fälle betrafen Haftbeschwerden. Entscheidungen über die Zulässigkeit der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht und solche über Verfassungsbeschwerden waren mit jeweils 6 % gleich häufig. Die übrigen Fälle verteilten sich auf Beschwerden der Staatsanwaltschaft und Haftentscheidungen gem. § 120 I StPO.

Nach der Arbeit von Hoch überwogen in den veröffentlichten Entscheidungen aus den 1990er Jahren die Ablehnungen einer Haftfortdauer bei weitem.[17] Dies ist für den hier untersuchten Zeitraum seit 1998 zu relativieren. Zwar liegen Haftbefehlsaufhebungen auch in der vorliegenden Untersuchung an der Spitze; auf sie entfallen 40 % der 281 Entscheidungen, deren Ergebnis feststellbar ist. Die Haftbefehle wurden erwartungsgemäß vor allem durch die Oberlandesgerichte aufgehoben, in einzelnen Fällen jedoch durch andere Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht.[18] Bereits an zweiter Stelle folgen Anordnungen der Haftfortdauer (34 %). Allerdings stammen diese zu rund zwei Dritteln vom Kammergericht. Die restlichen Fälle verteilen sich auf Konstellationen wie die Verwerfung einer Beschwerde (9 %), Unzuständigkeit für die Haftprüfung (6 %) oder eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde (6 %). Aussetzungen des Haftvollzugs (§ 116 StPO) sind mit 4 % noch seltener festzustellen.

2. Haftverläufe

Die Dauer der bis zu der jeweiligen Gerichtsentscheidung vollzogenen Untersuchungshaft variiert zwischen wenigen Tagen und 8 Jahren 4 Monaten.[19] Berechnet wurde die tatsächliche Dauer des Aufenthalts in der Untersuchungshaft, die gerade bei diesen Verfahren häufig nicht mit dem gesetzlichen Fristenlauf übereinstimmt (§ 121 III StPO). Allein 41 % der Fälle liegen im Bereich von 6 Monaten, was angesichts der gesetzlichen Frist des § 121 I StPO nicht überrascht. In weiteren 13 % der Fälle beträgt die bisherige Haftdauer rund 7 Monate. Hinzu kommen einzelne Entscheidungen etwa zu Fragen der Überhaft, bei denen im ausgewerteten Verfahren überhaupt kein Haftvollzug stattfand. Unter den zuletzt angenommenen Haftgründen überwiegt die Fluchtgefahr (§ 112 II Nr. 2 StPO) bei weitem; sie wurde in 96 % der Fälle angegeben. Dieses Ergebnis bestätigt die Erkenntnisse aus der Strafverfolgungsstatistik und bisherigen empirischen Untersuchungen zur Haftpraxis.[20] An zweiter Stelle folgt der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 II Nr. 3 StPO) mit einem Anteil von 12 %, gefolgt von der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) mit 6 % und der Schwere der Tat (§ 112 III StPO) mit knapp 4 %.[21] Nach Erlass eines Haftbefehls kann es während des Verfahrens zu weiteren Freiheitsentziehungen kommen. Dies war in immerhin 22 % der ausgewerteten Entscheidungen der Fall. Dabei handelte es sich überwiegend um Untersuchungshaft in anderer Sache (39 %) und Straf- oder Maßregelvollzug in anderer Sache (34 %). Doch waren auch Auslieferungshaft (18 %) und einstweilige Unterbringung gem. § 126a StPO (15 %) nicht zu vernachlässigen. Abschiebungshaft und (vorläufige) Unterbringungen nach § 81 StPO oder den Landesgesetzen für

psychisch Kranke betrafen jeweils nur einzelne Fälle.[22] Die mittlere Dauer weiterer Freiheitsentziehungen liegt mit 5 1/2 Monaten etwas unter derjenigen der vollzogenen Untersuchungshaft. Betrachtet man die schwersten Tatvorwürfe nach dem Haftbefehl, der Gegenstand der ausgewerteten Entscheidung ist, so liegen Eigentums- und Vermögensdelikte mit einem Anteil von 38 % an der Spitze. Innerhalb dieser Deliktsgruppe waren Betrugsvorwürfe etwas häufiger als Fälle von Raub und Erpressung sowie von Diebstahlsdelikten. Weitere 27 % entfielen auf Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, rund 10 % auf Sexualdelikte.

Die in erster Instanz durch das Gericht verhängte Sanktion ließ sich nur in 28 Fällen ermitteln; in den weiteren Verfahren lag zum Zeitpunkt der ausgewerteten Entscheidung noch kein Urteil vor. Es wurden Freiheitsstrafen zwischen 6 Monaten und einer lebenslangen Strafe verhängt; in einem Verfahren wurde die Sicherungsverwahrung angeordnet.

3. Verzögerungen und Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung

Die in den ausgewerteten Entscheidungen angesprochenen Verzögerungen des Verfahrens wurden zunächst den gesetzlichen Verfahrensstadien zugeordnet. Eine mehr oder minder bedeutsame Verzögerung konnte bei immerhin 246 Entscheidungen festgestellt werden. Erfasst wurden mit dieser Zählung alle Verfahrensabläufe, die in den Entscheidungstexten ausdrücklich mit der Verfahrensdauer in Verbindung gebracht wurden, einschließlich solcher Vorgänge, die ausdrücklich als vertretbar oder unvermeidlich geschildert wurden. Auf diese Weise wurde eine vorgängige Bewertung möglichst weitgehend vermieden. Wie Tabelle 1 zeigt, ergaben sich Konzentrationen im Ermittlungsverfahren (40 %) und im Hauptverfahren (26 %). Das Zwischenverfahren (16 %) und das Rechtsmittelverfahren (5 %) waren von geringerer Bedeutung. In einigen Fällen ergaben sich Verzögerungen in mehreren Verfahrensstadien, wobei die Kombination von Ermittlungs- und Zwischenverfahren (6 %) am häufigsten genannt wurde.

Tabelle 1: Schwerpunkt der Verzögerung nach Verfahrensstadium

  Häufigkeit %
Ermittlungsverfahren 99 40,2
Ermittlungs- und Zwischenverfahren 15 6,1
Zwischenverfahren 39 15,9
Ermittlungs- und Hauptverfahren 4 1,6
Zwischen- und Hauptverfahren 9 3,7
Hauptverfahren 64 26,0
Haupt- und Rechtsmittelverfahren 3 1,2
Rechtsmittelverfahren 13 5,3
Gesamt 246 100,0


Die aufgrund veröffentlichter Gerichtsentscheidungen auf diese Weise ermittelten Verzögerungen des Verfahrens hängen nicht nur davon ab, was in diesen Entscheidungen überhaupt thematisiert wird. Sie lassen sich auch unmittelbar mit dem Zeitpunkt im Verfahrensablauf in Verbindung bringen, zu dem die Entscheidungen jeweils ergangen sind. Die Gerichte können sich bei der Ermittlung möglicher Verzögerungen nur auf Verfahrensteile beziehen, die bereits geschehen sind - von gelegentlich anzutreffenden Prognosen über die Dauer bevorstehender

Vorgänge sei hier abgesehen. Dass das Ermittlungsverfahren in einer solchen Aufstellung dominiert, verwundert daher nicht.

Etwas konkretere Aussagen gestattet das Merkmal "Urheber der Verzögerung", das für 207 Entscheidungen erhoben werden konnte. Berücksichtigt man die hier möglichen Mehrfachnennungen (Tabelle 2), so liegt das Gericht klar an der Spitze. Ein weiterer bedeutsamer Anteil kommt aus der Sphäre der Staatsanwaltschaft. Alle anderen Akteure von der Polizei bis zur Justizverwaltung scheinen quantitativ gesehen von deutlich geringerer Bedeutung zu sein.

Tabelle 2: Urheber der Verzögerung (Mehrfachnennungen)

  Häufigkeit % der Fälle
Polizei 20 9,7%
Staatsanwaltschaft 76 36,7%
Gericht 129 62,3%
Beschuldigte 10 4,8%
Verteidigung 18 8,7%
Sachverständige 18 8,7%
Gerichtspräsidium 11 5,3%
Justizverwaltung 3 1,4%
Gesamt 285 137,7%


Gezielte Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens wurden ohne vorher festgelegte Antwortkategorien in Stichworten erhoben. Sie waren in 51 Entscheidungen erkennbar. Am häufigsten wurden Verfahrensteile abgetrennt, um im Übrigen Entscheidungsreife herzustellen (12 Nennungen). In 7 Fällen wurden Prozesshandlungen sofort nach Eintritt ihrer Voraussetzungen ausgeführt. Änderungen der Geschäftsverteilung (oder zumindest darauf gerichtete Bemühungen) waren mit 6 Nennungen ebenso häufig wie die nicht weiter konkretisierte "beschleunigte Sachbehandlung". In weiteren 4 Verfahren wurden Doppelakten angelegt. Andere Maßnahmen wie die fristgerechte Ausführung von Prozesshandlungen, die beschleunigte Sachbehandlung zum Ausgleich einer bereits eingetretenen Verzögerung, Bemühungen um Absprachen unter Prozessbeteiligten (auch über Termine), das Zurückstellen aktuell nicht ausführbarer Prozesshandlungen, frühe Gewährung von Akteneinsicht, Fristsetzungen für bevorstehende Prozesshandlungen sowie die Ausweitung der Arbeitszeit oder die Einführung zusätzlicher Sitzungstage betrafen jeweils wenige Einzelfälle.

Auch die wesentlichen Entscheidungsgründe wurden, soweit sie im Hinblick auf Verzögerungen des Verfahrens und die Verhältnismäßigkeit der Haftdauer von Bedeutung waren, qualitativ ohne vorher festgelegte Antwortkategorien erhoben, wobei für jede Entscheidung bis zu 3 Begründungselemente vergeben werden konnten. Für 274 der ausgewerteten Entscheidungen wurden auf diese Weise 509 Begründungselemente ermittelt (Tabelle 3). Diese deckten ein sehr breites Spektrum von Argumentationsmöglichkeiten ab.

Tabelle 3: Wesentliche Entscheidungsgründe (Mehrfachnennungen)

  Nennungen Prozent der Fälle
Umfang der Ermittlungen oder des Verfahrens 40 14,6%
Begehren nach Hinzuziehung weiterer Beweismittel 40 14,6%
Verzögerung im Zwischenverfahren und bei Vorbereitung der HV 38 13,9%
Interesse an umfassender Tataufklärung (auch über HB hinaus) 37 13,5%
Verzögerungen bei Entscheidung über Anklageerhebung 33 12,0%
Fristberechnung nach § 121 II StPO 31 11,3%
Arbeitsüberlastung 26 9,5%
Terminsaufhebung, Aussetzung der Hauptverhandlung 25 9,1%
keine organisatorischen Maßnahmen gegen Verzögerung 21 7,7%
Zuständigkeitsstreit 18 6,6%
Geschwindigkeit der Verfahrensführung 16 5,8%
Abtrennung oder Verbindung von Verfahren 16 5,8%
Schwierigkeit des Verfahrens 16 5,8%
Verzögerung in der Sphäre der Verteidigung, Aussageverhalten 15 5,5%
Dringlichkeitsvergleich mit anderen Verfahren 15 5,5%
Verzögerungen im Rechtsverkehr mit dem Ausland 14 5,1%
Verzögerung in der Sphäre von Sachverständigen 13 4,7%
Dauer der Haft 11 4,0%
Verhältnis der Haftdauer zu einer erwartbaren Strafe 11 4,0%
kein Haftvollzug im vorliegenden Verfahren, Überhaft 8 2,9%
Verzögerung beim Aktenversand und der Rückgabe 8 2,9%
Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Freiheit der Person 8 2,9%
unzureichende Vorbereitung der Hauptverhandlung 8 2,9%
Prognose des weiteren Verfahrensverlaufs 7 2,6%
Verzögerung im Rechtsmittelverfahren 7 2,6%
Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens 5 1,8%
neuer Haftbefehl nach oder bei Aufhebung eines früheren 5 1,8%
Verzögerung bei Urteilsabsetzung und -zustellung 3 1,1%
Verzögerung im Haftbeschwerdeverfahren 3 1,1%
begründete Revisionsbegehren 2 0,7%
Gründe für Verzögerungen nicht erkennbar 2 0,7%
Zuständigkeitswechsel 2 0,7%
Besetzungswechsel 1 0,4%
Haftvollzug im Interesse der beschuldigten Person 1 0,4%
Konflikt über Verfahrenseinstellung 1 0,4%
Aufhebung eines fehlerhaften erstinstanzlichen Urteils 1 0,4%
Fehlverhalten von Schöffen 1 0,4%
Gesamt 509 185,8%


Selbst auf die häufigsten Begründungselemente - "Begehren nach Hinzuziehung weiterer Beweismittel" und "Umfang der Ermittlungen oder des Verfahrens" - entfielen nicht mehr als 15 % der Nennungen. Etwas weniger häufig wurden "Verzögerungen im Zwischenverfahren und bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung" und "Verzögerungen bei der Entscheidung über die Anklageerhebung" genannt, ebenso wie das "Interesse an umfassender Tataufklärung (auch über den Haftbefehl hinaus)" und die Fristberechnung nach § 121 II StPO. Erst an 7. Stelle folgt das Argument "Arbeitsüberlastung". Auf der anderen Seite gibt es Begründungen, die - wie etwa das Fehlverhalten von Schöffen[23] - singulär bleiben und darüber hinaus nicht verallgemeinert werden sollten. Dass bestimmte Begründungselemente gehäuft auftreten, ermöglicht jedoch Aussagen über einige Gründe für Verfahrensverzögerungen in der Praxis der Strafgerichte, die auch eine Verlängerung der Haftdauer mit sich bringen.

o     Der besondere Umfang der Ermittlungen ist einer der Gesichtspunkte, die als mögliche Rechtfertigung der weiteren Haftfortdauer beispielhaft bereits im Gesetzestext des § 121 I StPO genannt werden. Das Vorliegen dieses Merkmals wird meist konkret begründet.[24]

o     Das Begehren nach Hinzuziehung weiterer Beweismittel kann zu einer Vermehrung des Zeitaufwands führen. Das gilt vor allem dann, wenn dieses Bedürfnis nicht zu einem frühen Zeitpunkt nach Beginn der Ermittlungen entsteht, sondern erst später erkannt wird. Ein Beispiel ist die richterliche Vernehmung einer bereits umfassend durch Polizei und Staatsanwaltschaft vernommenen Zeugin.[25]

o     Verzögerungen im Zwischenverfahren und bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung betreffen die Arbeitsorganisation der Gerichte. Diese Kategorie enthält eher eine zeitliche Zuordnung als eine Erklärung für die Dauer von Verfahrensabläufen in der Phase vor einer Hauptverhandlung. Sie wurde dann vergeben, wenn der Begründungstext auf Verzögerungen in der Sphäre des Gerichts hinwies, aber keine besondere Erklärung für eine Verzögerung ergab.[26] Für 87 Verfahren konnte der Zeitraum zwischen Anklage und Eröffnungsbeschluss berechnet werden; er lag in der Hälfte der Fälle über 67 Tagen und erreichte im Extremfall fast 15 Monate.[27]

o     Ähnlich ist es bei den Verzögerungen bei der Entscheidung über die Anklageerhebung, welche die Sphäre der Staatsanwaltschaft betreffen.[28]

o     Das Interesse an umfassender Tataufklärung betrifft typischerweise Verfahren, in denen erste Ermittlungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft den Wunsch nach weiteren Erkenntnissen wecken, ohne dass sich diese zusätzlichen Informationen binnen kurzer Zeit ergeben. Teilweise geht es dabei nicht um die Taten, derentwegen der Haftbefehl ergangen ist,[29] teilweise um den Verdacht organisierter Kriminalität.[30]

o     Ein nicht unbeträchtlicher Teil der veröffentlichten Rechtsprechung entfällt schließlich auf Probleme der Fristberechnung nach § 121 II StPO. Hier geht es um die Berücksichtigung bestimmter Zeitabschnitte von Freiheitsentziehungen auch außerhalb der Untersuchungshaft und letztlich um die Frage der aktuellen Zuständigkeit für eine Haftentscheidung.

IV. Folgerungen und Ausblick

Die hier vorgelegte Rechtsprechungsanalyse weist zwei wichtige Beschränkungen auf. Zum einen bezieht sie sich auf veröffentlichte Entscheidungen und kann daher kein vollständiges Bild gerichtlicher Entscheidungen zur Begrenzung langer Untersuchungshaft zeichnen. Welche Kriterien für eine Veröffentlichung solcher Entscheidungen den Ausschlag geben, ist unbekannt.[31] Zum anderen konzentriert sie sich auf schriftlich vorliegende Begründungen, die nicht alle in Betracht gezogenen Erwägungen enthalten müssen und den bisherigen Verfahrensgang höchstens zusammenfassen. Dennoch ermöglicht diese Analyse einen Überblick, der über eine unsystematische Auswahl hinausgeht. Es zeigt sich, dass Verzögerungen des Verfahrens und die Verhältnismäßigkeit der Haftdauer aus der Sicht der Gerichte von vielfältigen Einflüssen geprägt werden.[32] Dabei gibt es kein Verfahrensstadium, das nicht zumindest in einer bedeutsamen Untergruppe von Einzelfällen einen Schwerpunkt der Verzögerung bilden könnte. Wenn das Ermittlungsverfahren am häufigsten genannt wird, liegt das zu einem großen Teil daran, dass die jeweiligen Verfahren (noch) nicht weiter fortgeschritten sind. Obwohl Gericht und Staatsanwaltschaft bei der Frage nach den Urhebern der Verzögerung dominieren, ist das aus der Sicht der Justiz nahe liegende Argument der Arbeitsüberlastung[33] nur eines von vielen, die in den ausgewerteten Entscheidungen angeführt werden. Andere Begründungselemente wie der Umfang der Ermittlungen, das Begehren nach der Hinzuziehung weiterer Beweismittel oder Verzögerungen in bestimmten Verfahrensphasen wie der Vorbereitung der Hauptverhandlung sind noch häufiger festzustellen. Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts wird sich zeigen, inwieweit diese ersten Eindrücke anhand von Expertenbefragungen und Aktenanalysen zu korrigieren sind.


* Der Verfasser ist Stellvertretender Direktor der Kriminologischen Zentralstelle e.V. (KrimZ) in Wiesbaden und Privatdozent an der Universität Göttingen. Für ihre Unterstützung bei den hier dargestellten Auswertungen dankt er Frau cand. iur. Carolin Hofmann.

[1] Siehe schon Sarstedt Justiz 1963, 184 (187 f.) und Schmidt NJW 1968, 2209.

[2] Hilger in Löwe/Rosenberg/Rieß StPO, 25. Aufl. 1997, Rn.   8 zu § 121 StPO; Kintzi DRiZ 2004, 348; Seebode StV 1989, 118.

[3] Schaefer in Jehle/Hoch (Hrsg.), Oberlandesgerichtliche Kontrolle langer Untersuchungshaft, 1998, 53.

[4] Siehe z.B. den - in der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages nicht wieder eingebrachten - Gesetzentwurf des Bundesrates: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der §§ 121, 122 StPO und weiterer Vorschriften vom 9. Juli 2004 (BT-Drs. 15/3651) und die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer vom 15. März 2005 (verfügbar unter http://www.brak.de/seiten/pdf/Stellungnahmen/2005/StPO121f.pdf).

[5] EGMR, Urteile vom 5. Juli 2001 - Nr. 38321/97 (Erdem ./. Deutschland) [= NJW 2003, 1439]und vom 29. Juli 2004 - Nr. 49746/99 (Čevizović ./. Deutschland)[= StV 2005, 136].

[6] Hoch in Jehle/Hoch (Fn. 3), 155.

[7] http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/db/

[8] http://www.rechtsprechung.hessen.de

[9] http://www.jm.nrw.de/RB/nrwe/index.html

[10] http://www.justiz.sachsen.de/elvis/

[11] http://www.thueringen.de/olg/infothek70.html

[12] Hoch in Jehle/Hoch (Fn. 3), 155.

[13] Siehe etwa BGH, Beschluss vom 9. Februar 2000 - 3 BJs 37/99 - 2 (7) - AK 2/2000 (= AW-Prax 2000, 90); Beschluss vom 26. Juni 2002 - AK 12/02 (= NStZ-RR 2002, 300).

[14] Hoch in Jehle/Hoch (Fn. 3), 155 (157).

[15] Schaefer (Fn. 3).

[16] KG, Beschluss vom 28.2.2005 - (5) 1 HEs 11/05 (3/05) (in Juris veröffentlicht).

[17] Hoch in Jehle/Hoch (Fn. 3), 155 (157).

[18] BVerfG, Beschluss vom 13.9.2002 - 2 BvR 1375/02 (= NStZ 2004, 82); ähnlich BVerfG, Beschluss vom 5.12.2005 - 2 BvR 1964/05 (= NJW 2006, 672).

[19] Zum letzteren Extremfall BVerfG, Beschluss vom 5.12.2005 - 2 BvR 1964/05 (= NJW 2006, 672).

[20] Statistisches Bundesamt Strafverfolgung 2004, 336; Gebauer Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, 230; Geiter Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen, 1998, 183; Jabel Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in Niedersachsen, 1988, 127.

[21] Die Prozentuierung ist zur Berücksichtigung der hier möglichen Mehrfachnennungen auf die Anzahl der Fälle bezogen, so dass die Summe der Prozentwerte 100 % übersteigt.

[22] Auch hier wurde die Prozentuierung zur Berücksichtigung von Mehrfachnennungen auf die Anzahl der Fälle bezogen, so dass die Summe der Prozentwerte 100 % übersteigt.

[23] Zu diesem Sachverhalt OLG Köln, Beschluss vom 3.5.2000 - HEs 62-64/00 - 77-79 (verfügbar unter www.justiz.nrw.de).

[24] Siehe z.B. OLG Hamm, Beschluss vom 20.1.2003 - 2 BL 3/03 (= NStZ-RR 2003, 143): Vielzahl von Betrugsfällen, Beiziehung von Fallakten auswärtiger Staatsanwaltschaften, Anfragen an Geschädigte, mehrfache Vernehmungen der Beschuldigten.

[25] OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.7.1999 - 2 (3) HEs 28/99 (= StV 2000, 37).

[26] So z.B. OLG Koblenz, Beschluss vom 19.12.2002 - 1 Ws 973/02 (= StV 2003, 519): keine Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens innerhalb von 3 Monaten nach Anklageerhebung, obwohl im Zwischenverfahren keine Einwendungen der Verteidigung zu erwarten sind.

[27] KG, Beschluss vom 8.5.2002 - 1 AR 556/02 - 4 Ws 71/02 (= StV 2002, 554); der Haftbefehl in diesem Verfahren wurde währenddessen nicht vollzogen.

[28] Als Beispiel OLG Koblenz, Beschluss vom 22.4.2004 - (1) 4420 BL - III - 17/04 (= StV 2004, 491): Anklage 3 Monate nach Abschluss der Ermittlungen, wobei ein mehrfacher Verteidigerwechsel vom Senat nicht als Erklärung akzeptiert wird.

[29] OLG Koblenz, Beschluss vom 10.1.2002 - (1) 4420 BL - III - 97/01 (= StraFo 2002, 208): "Die weiteren Ermittlungen dienten entweder der Identifizierung weiterer Tatbeteiligter oder der Prüfung, ob der Angeklagte noch andere Straftaten begangen hat (...)."

[30] OLG Köln, Beschluss vom 29.11.2002 - HEs 211/02 - 242 (verfügbar unter www.justiz.nrw.de): Verdacht der gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusung von Ausländern.

[31] Es geht hier um Veröffentlichungsmuster der juristischen Praxis und ihrer Publikationsorgane, die sich von denen der Tagespresse (dazu etwa Brüchert Autoritäres Programm in aufklärerischer Absicht, 2005, 105 ff.; Höbermann Der Gerichtsbericht in der Lokalzeitung, 1989) deutlich unterscheiden dürften.

[32] In der Literatur dokumentieren sich diese auch in alphabetischen Aufstellungen wie derjenigen von Burhoff StraFo 2002, 379 (386 f.).

[33] Dazu etwa Sarstedt (Fn. 1) und Schmidt-Sommerfeld in Jehle/Hoch (Fn. 3), 81.