HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2007
8. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

203. BGH 1 StR 605/06 - Beschluss vom 9. Januar 2007 (LG Passau)

BGHSt; nachträgliche Sicherungsverwahrung (neue Tatsache: im Strafvollzug aufgetretene psychische Erkrankung des Verurteilten und Gefährlichkeitsprognose nach Verhaltenssymptomen, Therapieunwilligkeit des Verurteilten; symptomatischer Zusammenhang mit der Anlasstat; hinreichende Tatsachengrundlage; Erforderlichkeit des Hanges); polizeirechtliches Parallelverfahren nach dem landesrechtlichen Unterbringungsgesetz einzuleiten; keine nachträgliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 66b StGB; § 63 StGB; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 5 EMRK

1. Eine im Strafvollzug aufgetretene psychische Erkrankung des Verurteilten kann für sich genommen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB regelmäßig nicht begründen. Maßgebliches Kriterium ist, dass sich die Erkrankung während der Strafhaft in einer für die Gefährlichkeitsprognose relevanten Weise im Verhalten des Verurteilten ausgedrückt hat. (BGHSt)

2. Die Verhaltensauswirkungen werden regelmäßig im Vollzugsverhalten des Verurteilten zu suchen sein. Sie müssen nicht bereits für sich genommen geeignet sein, die Anordnung der Maßregel zu tragen; sie dürfen sich andererseits aber auch nicht in prognoseneutralen Symptomen der psychiatrischen Krankheit erschöpfen, sondern müssen einen Rückschluss auf die krankheitsbedingt erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten zulassen. (Bearbeiter)

3. Der Senat hält auch in dem Fall, in welchem sich die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf § 66b Abs. 2 StGB stützt, Feststellungen zum Vorliegen eines Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB für erforderlich (so auch BGHSt 50, 373, 381 gegen BVerfG - Kammer - NJW 2006, 3483, 3484). (Bearbeiter)

4. Alle neuen Tatsachen müssen eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten und in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen (BGH NStZ 2006, 276, 278). (Bearbeiter)

5. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung muss sich auf eine hinreichende Tatsachengrundlage stützen und dem Charakter einer auf seltene Ausnahmefälle beschränkten Maßnahme bewahren. (Bearbeiter)

6. Die Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht gehörende Maßnahme (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) verlangt, dass ihre Anordnung an eine Straftat anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung aus ihr beziehen kann (BVerfGE 109, 190). In den neuen Tatsachen muss sich die bei der Anlasstat hervorgetretene spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten widerspiegeln, mithin ein prognoserelevanter symptomatischer Zusammenhang mit der Anlassverurteilung bestehen. (Bearbeiter)


Entscheidung

211. BGH 4 StR 514/06 - Urteil vom 1. Februar 2007 (LG Saarbrücken)

Minder schwerer Fall der Geiselnahme; sexuelle Nötigung und Vergewaltigung; Strafzumessung (Maßgeblichkeit deutscher Wertvorstellungen: Jesiden, herabgesetzte Hemmschwelle; begrenzte Revisibilität); Eheschließungsfreiheit.

§ 239b Abs. 2 StGB; § 239a Abs. 2 StGB; § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB; Art. 6 GG; Art. 11 EMRK

Einzelfall der Verneinung einer Vergewaltigung trotz des erfüllten Regelbeispiels, mit dessen Verwirklichung ein unter Jesiden verbreitet als verbindlich betrachtetes Heiratsversprechen durchgesetzt werden sollte.


Entscheidung

240. BGH 2 StR 582/06 - Beschluss vom 26. Januar 2007 (LG Kassel)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Persönlichkeitsstörung, Zustand; schwere andere seelische Abartigkeit).

§ 20 StGB; § 63 StGB

1. Das bloße Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung reicht für die Annahme einer die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigenden Störung im Sinne eines länger andauernden "Zustands" (§ 63 StGB) nicht aus. Für einen so schwerwiegenden Eingriff, wie ihn die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darstellt, kann die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung stets nur unter engen Voraussetzungen und nur dann genügen, wenn feststeht, dass der Täter auf Grund dieser Störung aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat.

2. Für diese Annahme bedarf es einer Gesamtschau, ob die Störungen beim Täter in ihrer Gesamtheit sein Leben vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen. Für die Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsstörung und der Erheblichkeit der darauf beruhenden Verminderung der Schuldfähigkeit ist deshalb maßgebend, ob es auch im Alltag außerhalb der Straftaten zu Einschränkungen des beruflichen oder sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens und Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB angesehen werden.


Entscheidung

220. BGH 5 StR 444/06 - Urteil vom 1. Februar 2007 (LG Neuruppin)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Intelligenzminderung und Verhaltensauffälligkeit; Schwachsinn; Gefahrenprognose: Gesamtwürdigung bei Tat im Rahmen einer Heimunterbringung); Sicherungsverfahren; unzulässige Aufklärungsrüge (Benennung eines konkreten Beweismittels).

§ 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 413 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO

Wurzelt die Tat des Beschuldigten in dessen im Rahmen einer Heimunterbringung durch Konfrontation entstandener Aggression gegen Betreuungspersonal, kann dies - ähnlich den Taten zum Nachteil von Angehörigen einer psychiatrischen Klinik (vgl. BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 26) - nur eingeschränkt Anlass für eine Anordnung einer strafrechtlichen Unterbringung sein.