HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2007
8. Jahrgang
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Schrifttum

Backes, Otto / Lindemann, Michael: Staatlich organisierte Anonymität als Ermittlungsmethode bei Korruption. C.F. Müller Wissenschaft, Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm, Heidelberg 2006. IX, 116 Seiten, Kartoniert, ISBN 3-8114-5222-3, EUR 28,00.

I. Wirtschaftsstraftaten, insbesondere die Korruptionsdelikte, sind dadurch gekennzeichnet, dass wenigstens unmittelbar oft kein Opfer erkennbar ist. Daher hängt es häufig nur vom Zufall ab, ob die Strafverfolgungsbehörden überhaupt Kenntnis von entsprechenden Sachverhalten erlangen, denn Mitarbeiter in Unternehmen, scheuen aus Angst vor Repressalien, insbesondere dem Verlust des Arbeitsplatzes, i.d.R. davor zurück, eine Anzeige zu erstatten. Um dem Phänomen der Wirtschaftskriminalität mit strafrechtlichen Mitteln Herr zu werden, sehen die Strafverfolgungsbehörden teilweise die Lösung dieses Problems in der Etablierung anonymer Anzeigesysteme. In der vorliegenden Untersuchung stellen Backes und Lindemann die Ergebnisse ihres Forschungsprojektes vor, das sich mit einer solchen Methode, dem anonymen Meldeverfahren "Business Keeper Monitoring System" (im Folgenden BKMS), zur Annahme von Meldungen über Vorfälle im Bereich der Wirtschaftskriminalität und Korruption über das Internet auseinandersetzt. Im Oktober 2003 wurde dieses Projekt vom LKA Niedersachsen eingeführt. Das LKA Niedersachsen ist allerdings nicht das einzige Bundesland, das sich für das BKMS interessierte. Im Februar 2004 wurde eine Bund-Länder-Gruppe gegründet, die das System auf seine Tauglichkeit für die Polizeiarbeit prüfte (S. 10 f.). Eine künftige Einführung des BKMS in anderen Bundesländern oder auch auf Bundesebene ist daher nicht auszuschließen.

Die Untersuchung von Backes/Lindemann zeigt deutlich, dass anonyme Anzeigensysteme sowohl im Hinblick auf ihre Effektivität, als auch ihre Vereinbarkeit mit rechtstaatlichen Grundsätzen, insbesondere aufgrund des z.T. fragwürdigen Umgangs mit offenkundig haltlosen Vorwürfen durch die Strafverfolgungsbehörden, mehr als bedenklich sind.

II. Backes/Lindemann gehen zunächst auf die Herkunft und Funktionsweise des BKMS und dessen Nutzung durch das LKA Niedersachsen (S. 8 ff.) ein und stellen anschließend, nach einer kurzen Erklärung dazu, worin die Besonderheiten bei einer Evaluation der Datenmaterialen lag (S. 16 ff.), die Ergebnisse ihrer Untersuchung dar (S. 18 ff.).


1. Das BKMS verdankt seinem Namen dem Unternehmen, das es entwickelt hat, nämlich der Business Keeper AG aus Potsdam, die mit ihrem Programm zunächst vor allem Wirtschaftsunternehmen ansprechen wollte (S. 8). Backes/Lindemann erklären, dass das Unternehmen für das BKMS wirbt, indem es auf die verschärften zivil- und strafrechtlichen Haftungsnormen für Unternehmen hinweiste, was durch den im Jahre 2002 in den USA erlassenen Sarbanes-Oxley Act (abrufbar unter: http://fl1.findlaw.com/news.findlaw.com/hdocs/docs/gwbush/sarbanesoxley072302.pdf), der die an den US-Börsen notierten Unternehmen seit April 2003 zwingt bestimmte Corporate Covernance-Regeln einzuhalten, untermauert werde. Hiernach sei nämlich die Errichtung eines dem BKMS entsprechenden Hinweisgebersystems vorgesehen, um so genannte "whistle blower" zu schützen. Die absolute Anonymität der Hinweisgeber werde dadurch gewahrt, dass der Datenverkehr über einen von der Business Keeper AG gestellten Server abgewickelt werde, der sowohl die Übertragung von Verbindungsdaten an das Kundenunternehmen als auch die Business Keeper AG selbst verhindere (S. 9).

Beim LKA Niedersachsen wurden die seit dem 1.10.2003 über das BKMS eingegangenen Hinweise über die Zentralstelle Korruption, bearbeitet und anschließend nach teilweise eigenen Ermittlungen an die zuständige Polizeibehörde oder Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Die Kunden der Business Keeper AG, wie auch das LKA Niedersachsen, können zwischen zwei Zugangsmöglichkeiten zum BKMS wählen, indem sie entweder einen eigenen Zugang zum BKMS auf ihrer Homepage einrichten oder in dem sie über die Homepage der Business Keeper AG (http://www.business-keeper.com/) gehen (S. 13). Das LKA Niedersachsen hat einen eigenen Zugang zum BKMS auf seiner Homepage eingerichtet (http://www.lka.niedersachsen.de/), über den der Hinweisgeber seine Meldung machen kann.

2. Von den insgesamt 553 BKMS-Meldungen in der Zeit von Okt. 2003 bis Dez. 2004 standen schließlich 410 Backes/Lindemann zur Auswertung zur Verfügung. 143 Hinweise sind aus unterschiedlichen Gründen, etwa weil wegen fortlaufender Ermittlungen eine Akteneinsicht verweigert wurde oder bei Abschluss des Forschungsprojekts auf Nachforschungen hin noch kein Ergebnis eingegangen war, nicht in die Untersuchung mit aufgenommen worden (vgl. Tabelle 1, S. 19). Backes/Lindemann nahmen nicht nur in die protokollierten Hinweismeldungen Einsicht, sondern stellten für die aus den Hinweisen resultierenden Ermittlungs- und Vorermittlungsakten nach § 476 StPO Akteneinsichtsersuchen. Das Material wurde sodann in quantitativer und qualitativer Hinsicht untersucht (S. 16 f.).

a) Bei der quantitativen Evaluation der Hinweise, stellten Backes/Lindemann fest, dass nur gut die Hälfte, nämlich 208, der ausgewerteten Meldungen überhaupt Eingang in die Ermittlungstätigkeit von Staatsanwaltschaft und Polizei fanden, während 202 Meldungen aussortiert und abgelegt wurden (S 21). Die Gründe hierfür liegen z.B. darin, dass es sich zu großem Teil nicht um ernst gemeinte Anzeigen handelte, einige Meldungen nur das Ziel hatten das System einmal "auszuprobieren" und es gerade zu Beginn der Untersuchung teilweise zu "Protest-

meldungen" über das Projekt selbst kam (S. 21 f.). Viele Meldungen ließen konkrete Hinweise auf strafrechtlich relevante Sachverhalte vermissen oder es handelte sich um Meldungen, in denen die Hinweisgeber eher reine Unmutsäußerungen tätigten, weil etwa persönliche Interessen nicht zur Geltung kamen oder sie sich im eigenen beruflichen Umfeld übergangen fühlten. Gerade die zu unbestimmten Meldungen wurden abgelegt, wenn sich der Hinweisgeber nach ein- oder zweimaliger Aufforderung zur Konkretisierung nicht erneut beim LKA gemeldet hat (S. 22).

Bei den Staatsanwaltschaften landeten insgesamt 166 Vorgänge, wobei in etwa einem Drittel aller Verfahren so genannte Js-Aktenzeichen vergeben wurden, also Ermittlungsverfahren, bei denen der oder die Beschuldigten bekannt sind. Neben 131 Js-Verfahren, kam es zu 8 Ujs-Akten, also Verfahren gegeben Unbekannt, und 22 AR-Akten, so genannten "Vorermittlungsverfahren" bei denen zunächst einmal geprüft wird, ob sich die Einleitung eines formellen Ermittlungsverfahrens überhaupt lohnt (vgl. S. 27).

Bemerkenswert ist, dass nach den Untersuchungsergebnissen von Backes/Lindemann 85% aller Fälle aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nach § 170 II StPO eingestellt werden mussten oder durch einfaches Weglegen nicht weiterbearbeitet wurden (S. 30). In nur 4,9% aller Fälle kam es zu einer Einstellung aus Opportunitätsgründen nach § 153 f. StPO. Die Staatsanwaltschaft erhob bei den verbleibenden 6 Fällen nur ein einziges Mal Anklage und beantragte in 5 weiteren Fällen den Erlass eines Strafbefehls, wobei das Gericht in 2 der 6 Fälle auch hier eine Opportunitätseinstellung vornahm. Ergebnis der Untersuchung von Backes/Lindemann ist daher der Erlass von drei Strafbefehlen und einer Verurteilung, was auf alle Beschuldigten bezogen einem Anteil von etwa 2% entspricht (S. 33). Im Hinblick auf eine verschärfte und effektive Strafverfolgung zeigt sich zumindest quantitativ kein durchschlagender Erfolg des BKMS.

b) Die qualitative Aufgliederung der Forschungsergebnisse (S. 34 ff.) ist zugleich der umfangreichste Teil der Untersuchung von Backes/Lindemann. Im Rahmen der Korruptionsdelikte, bei denen Backes/Lindemann sich auf die §§ 331-334 und § 299 StGB beschränken, wurde festgestellt, dass die Anzahl der Hinweise mit maximal 50 von 232 sehr gering ausfiel. In keinem der auf diesen Hinweisen beruhenden Verfahren kam es zu einer Verurteilung oder auch nur Einstellung aus Opportunitätsgründen nach § 153 f. StPO. In 18 Fällen erfolgte eine Einstellung nach § 170 II StPO oder es wurden bei den so genannten AR-Vorgängen erst gar keine Ermittlungsverfahren eingeleitet (S. 34 f.).

Um sowohl die Art der Hinweise als auch den Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit diesen zu veranschaulichen, schildern Backes/Lindemann im Folgenden die Sachverhalte und Verfahrensabläufe (S. 35 ff.). Der Umgang der LKA-Beamten bzw. Polizeibehörden mit manchen Meldungen wirkt hierbei zum Teil mehr als befremdlich. Exemplarisch sei an dieser Stelle nur ein Fall erwähnt, bei dem ein Beamter des LKA einen Hinweisgeber ausdrücklich aufforderte auch solche Informationen mitzuteilen, bei denen es sich um bloßes "Flurgerede" handle (vgl. Fall 49, S. 42).

In 8 Verfahren wurde eine so genannte Finanzermittlung durchgeführt, also ein Auskunftsersuchen an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nach § 24c KWG gestellt (S. 70 ff.; vgl. auch ausführlich zu dieser Ermittlungsmethode Backes, StV 2006, 712, 715). Abgesehen davon, dass das Vorgehen des Staatsanwaltschaft nur in etwa der Hälfte der Fälle erforderlich gewesen sei, weil sich etwa bereits zuvor herausgestellt hatte, dass kein Anfangsverdacht bestand (S. 74), ist vor allem strittig, ob die Staatsanwaltschaft befugt ist bei Banken die Herausgabe von Kontenübersichten und - bewegungen nach § 95 I StPO zu verlangen, oder ob dies die unzulässige Umgehung einer richterlichen Überprüfung der Erforderlichkeit solcher Maßnahmen darstellt (S. 75 ff.). Backes/Lindemann beklagen zu Recht die Reformbedürftigkeit der Regelung, die vor dem Hintergrund des uneinheitlichen Umgangs im Zusammenhang mit BKMS-Fällen besonders deutlich wird (S. 78).

Backes/Lindemann untersuchten aber auch die Konsequenzen, die die BKMS-Meldungen für die Verdächtigen mit sich brachten (S. 78 ff.). Allgemein kann die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens unabhängig von seinem Ausgang negative Folgen für den Beschuldigten mit sich bringen. Erwähnt sei hier allein die Tatsache, dass bereits mit Anlegen einer Js-Akte diese im Staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister gespeichert und auch trotz Einstellung nach § 170 II StPO (!) erst dann gelöscht wird, wenn ohnehin der Zeitpunkt der Verjährung erreicht wäre; bei Erwachsenen aber frühestens nach 10 Jahren gem. § 489 IV Nr.1 StPO. Noch schwerer wiegen für den Verdächtigen aber wohl die Nachteile, die ihm aufgrund von Ermittlungen in seinem persönlichen Umfeld erwachsen können. Ermittlungen am Arbeitsplatz, sei es in Form von Durchsuchungen oder Vernehmungen von Arbeitskollegen können für den Betroffenen bis zum Verlust des Arbeitsplatzes führen. Aber auch Ermittlungen bei Ministerien oder sonstigen Aufsichtsbehörden können sich insbesondere für das gesamte Unternehmen, bei dem der Verdächtige beschäftigt ist, negativ auswirken. So kam es z.B. in einem der von Backes/Lindemann untersuchten Fälle bei dem der Geschäftsführer eines Unternehmens beschuldigt wurde auf betrügerische Weise Fördergelder erhalten zu haben dazu, dass das Ministerium zwar bisherige Förderungen verneinte, aber einen vom Unternehmen zu diesem Zeitpunkt gestellten Förderantrag bis zum Ausgang des Ermittlungsverfahrens darauf hin nicht bearbeitete (S. 86 f.).

Erschreckend ist der teilweise fast freundschaftlich anmutende Ton, den die LKA-Beamten den Hinweisgebern gegenüber anschlagen (S. 92 ff.). So finden sich Formulierungen wie z.B. "(...), ich habe mich wirklich sehr über ihre Antwort gefreut.(...)" (S. 93 Fall 3) oder "(...) ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute für das Jahr 2004; vor allen Dingen Gesundheit." (S. 94 Fall 92)

oder auch nach der Rückkehr eines LKA-Beamten aus dem Urlaub "Hallo vielen Dank noch mal für die Post. Ich hoffe, es geht Ihnen gesundheitlich wieder gut." (S. 95 Fall 83). Gegen einen höflichen Umgangsstil ist selbstverständlich nichts einzuwenden, doch lassen diese Formulierungen den sachlich distanzierten Umgang, der für eine solche Korrespondenz angemessen wäre deutlich vermissen. Vielmehr scheinen sich die Beamten einer besonders freundlichen Ausdrucksweise bemüht zu haben, um die Hinweisgeber zum "Plaudern" anzuregen.

III. In ihrer Auswertung der Untersuchungsergebnisse (S. 97 ff.) kommen Backes/Lindemann zunächst zu dem Ergebnis, dass die Staatsanwaltschaften zum Teil sehr uneinheitlich mit den Hinweisen umgingen. Während teilweise sorgfältig geprüft worden sei, ob ein Anfangsverdacht gegeben und damit die Anlegung einer Js-Akte erforderlich sei oder bloß die Einleitung eines AR-Verfahrens, sei die Handhabung anderer Staatsanwaltschaften diesbezüglich willkürlich (S. 98). Zum Teil seien AR-Verfahren unnötiger Weise förmlich nach § 170 II StPO eingestellt worden, während ein Js-Verfahren einfach weggelegt worden sei, obwohl es hier einer förmlichen Einstellung bedurft hätte (S. 99). Aufgrund dieser Feststellung schlagen Backes/Lindemann eine restriktive Handhabung bezüglich der Einleitung von JS-Verfahren vor. Sinnvoller erscheint es den Autoren zunächst nur eine AR-Akte anzulegen, um durch diese Vorermittlungen zu untersuchen, ob sich ein weiteres Vorgehen überhaupt lohnt (S. 99). Zudem weisen Backes/Lindemann auf den Konflikt des BKMS-Systems mit der Strafnorm der falschen Verdächtigung nach § 164 StGB hin (S. 102 f.). Auch wenn der Form halber den Hinweisgebern gegenüber der Hinweis erfolgt sei, dass sie keine Angaben wider besseren Wissens machen dürften, dürfe nicht vergessen werden, dass das BKMS von der Anonymität der Hinweisgeber lebe und damit faktisch die Anwendung von § 164 StGB ausgeschlossen sei (vgl. hierzu auch Backes, StV 2006, 712, 716).

Besonders bedenklich ist der Umstand, dass Backes/Lindemann feststellen mussten, dass grundrechtsintensive Zwangsmaßnahmen teilweise allein mit dem Ziel durchgeführt worden seien, erst hierdurch einen Anfangsverdacht zu erhalten, obwohl das Bestehen eines entsprechenden Verdachtgrades Voraussetzung zur Durchführung solcher Maßnahmen ist (S. 103 f.).

IV. Die Untersuchung von Backes/Lindemann macht deutlich, warum bei anonymen Anzeigesystemen wie dem in Niedersachsen eingeführten BKMS äußerste Zurückhaltung geboten ist. Hält man sich vor Augen, dass es bei insgesamt 166 den Staatsanwaltschaften vorgelegten Vorgängen nur in einem einzigen Verfahren zu einer Anklage kam und in einem weiteren Verfahren ein Strafbefehl erlassen wurde, besteht kein Zweifel daran, dass das BKMS zur effizienteren Strafverfolgung von Wirtschaftsstraftaten ungeeignet ist. Aufgrund der Anzahl der dargestellten Sachverhalte und der Tatsache, dass allein zwei Fälle wegen fortdauernder Ermittlungen nicht abschließend bewertet wurden (S. 59), sowie der sorgfältigen Auswertung des Materials handelt es sich auch um repräsentative Ergebnisse und keine bloßen Zufallserkenntnisse.

Die negativen Folgen des BKMS sind sowohl für die größtenteils zu Unrecht Verdächtigten als auch für die Allgemeinheit aufgrund der nicht zu unterschätzenden Kosten für die meist unnötige Ermittlungstätigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft weit reichend. Bedenklich erscheint zudem der Umgang der LKA-Beamten mit den Meldungen, aber auch die Verfahrensweise mancher Staatsanwaltschaften, die nach den Ergebnissen der Untersuchung oft vorschnell reagieren, wenn es um die Frage geht, ob die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens notwendig ist. Da ein solches Verfahren einschneidende Konsequenzen für den Beschuldigten nach sich ziehen kann, ist eine sorgfältige Prüfung des Anfangsverdachts i.S.v. § 152 II StPO unerlässlich. Insgesamt spricht nach der Untersuchung vieles gegen und so gut wie nichts für die Einführung des BKMS. Mit der Einführung des BKMS hat das LKA Niedersachsen keine effiziente Methode zur Aufdeckung wirtschaftsstrafrechtlicher Sachverhalte, sondern vielmehr eine Plattform für Denunzianten geschaffen. Es bleibt nach allem zu hoffen, dass die Untersuchung von Backes/Lindemann dazu beiträgt das BKMS nicht auch in anderen Bundesländern oder sogar auf Bundesebene zu etablieren.

Akad. Rätin Silke Noltensmeier, Universität Erlangen-Nürnberg

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Karsten Gaede: Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK. Ein Beitrag zur Dogmatik des fairen Verfahrens in europäischen Strafverfahren und zur wirksamkeitsverpflichteten Konventionsauslegung unter besonderer Berücksichtigung des Rechts auf Verteidigerbeistand. Erschienen im Januar 2007 bei Duncker & Humblot in der Reihe Strafrechtliche Abhandlungen, N.F. - Band 185; 992 Seiten in gebundener Ausgabe, 114,- €; ISBN 978-3-428-12272-1; Berlin 2007.

"The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial, from which they derive”

Für dieses Zitat zum Menschenrecht auf konkret und wirksame Strafverteidigung vgl. The European Court of Human Rights, Case of Artico vs. Italy, Series A Nr. 37, § 33 (13/05/1980) .

Das Recht auf ein faires Strafverfahren darf keine beliebige Option, sondern muss in der Prozessrealität praktisch wirksam sein. Ausgehend von dieser These des EGMR arbeitet Karsten Gaede in seiner Dissertation den bis in das Jahr 2005 hinein entstandenen Rechtsprechungskorpus zu Art. 6 EMRK auf. Die mit dem Jahrespreis der Universität Zürich 2006 ausgezeichnete Abhandlung zeigt auf, zu welchen Maßstäben und Verteidigungschancen die Judikatur des EGMR heute führt, wenn man die These von konkreten und wirksamen Verteidigungsrechten ernst nimmt. Diese Maßstäbe sind nicht nur für das europäische Strafverfahrensrecht etwa der EU existentiell, sondern sie haben ein Niveau erreicht, das zum Beispiel auch Deutschland zunehmend herausfordert (vgl. beispielhaft jüngst EGMR Jalloh v. Deutschland, HRRS 2006 Nr. 562 gegenüber BVerfG StV 2000, 1 f.). Die vorliegenden Potentiale für eine wirksame Strafverteidigung könnten vor allem für Rechtsanwälte von Interesse sein. (Deutsche) Gerichte und Staatsanwaltschaften sind gleichermaßen verpflichtet, diejenigen Anforderungen zu beachten, die zur unmittelbar anwendbaren (E)MRK bereits anerkannt sind oder die sich zukünftig aus der erklärtermaßen evolutiven Rechtsprechung des EGMR ergeben können.

Für die praktische Einbeziehung der EMRK im deutschen Strafverfahren wird dem Rechtsanwender in den ersten beiden Kapiteln über gut 100 Seiten zunächst die Auslegungsmethodik des EGMR und der gebotene Umgang mit den vermeintlich nur einzelfallbezogenen Entscheidungen des EGMR nicht nur zu Art. 6 EMRK näher gebracht. Dass die EMRK nicht vorschnell nur als Mindeststandards abzutun ist, der - wenn überhaupt - nur nach einer konkreten Fallentscheidung des EGMR heranzuziehen ist, wird hier unterstrichen. Im dritten und zentralen Kapitel der Arbeit wird der Rechtsprechungs- und Meinungsstand zum Recht auf konkrete und wirksame Strafverteidigung bzw. auf ein faires Strafverfahren auf rund 200 Seiten dargestellt. Es folgt ein prozessdogmatisches Kapitel, das zum einen das Gesamtrecht auf Verfahrensfairness konkretisiert und systematisiert. Zum anderen wird in diesem Kapitel die wichtige Gesamtbetrachtung des fairen Verfahrens durch den EGMR dargestellt und analysiert. Auch der Frage, wie unterschiedliche Prozesssysteme bzw. Entscheidungen zu fremden Rechtsordnungen zu beurteilen sind, widmet sich dieses Kapitel. Schließlich wird im Kapitel fünf der für die Verfahrensfairness ganz zentrale Verteidigerbeistand auf rund 100 Seiten behandelt, wobei die Unabhängigkeit des Verteidigers und die Pflichtverteidigung im Zentrum des Interesses stehen.

In den Kapiteln sechs bis neun wird themenbezogen der geschilderte Rechtsprechungsstand zum Recht auf konkrete und wirksame Strafverteidigung anhand des systematisierenden Teilhabeansatzes vertieft und ergänzt. Es wird so weiter darüber informiert, welche Rechtsansprüche sich aus der Rechtsprechung des EGMR ableiten lassen, wenn man diese ernst nimmt und vor allem den Anspruch des EGMR aufgreift, den Art. 6 EMRK widerspruchslos zu entfalten. In allen Kapiteln wird besonderer Wert darauf gelegt, dem Rechtsanwender umfangreiche Quellen und Belege insbesondere zur Rechtsprechung zu erschließen. Dies soll zum einen die Darlegungen der Arbeit überprüfbar machen, zum anderen aber auch den Zugang zu weiteren Detailstandards und zu weiteren Lösungsansätzen eröffnen, um damit gerade die Auswirkungen einzelner Sachverhaltsdetails besser abschätzen zu können. In der gesamten Abhandlung werden gerade auch die Entscheidungen berücksichtigt, die im deutschsprachigen Raum bislang nicht publiziert worden sind. Ausschlaggebende Passagen einzelner Entscheidungen insbesondere des EGMR werden zum Teil im Zitat wieder gegeben. Der Zugang zu den im Einzelnen behandelten Problemstellungen des nationalen Strafverfahrens wird ergänzend durch ein umfangreiches Sachwortverzeichnis erschlossen.

Die Abhandlung berücksichtigt systematisch die deutsche, englische, österreichische und schweizerische Judikatur sowie das für die Entwicklung einer europäischen Fairnessdogmatik in Deutschland, in England und in der Schweiz verfügbare strafrechtliche und rechtsphilosophische Schrifttum. Sie ist bestrebt, die Analyse des europäischen Rechts nicht nur aus einer deutschen Perspektive vorzunehmen. Besonders kommt etwa die im Vergleich zur deutschen Judikatur konventionsfreundlichere Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts zur Geltung. Auch die allgemein wesentlich routiniertere Wahrnehmung und Einbeziehung des Konventionsrechts in der Schweiz und in England fand Eingang in die Abhandlung, die in Deutschland, England und der Schweiz erarbeitet wurde.

Als Ergebnis der Untersuchung stellt sich das Recht auf ein faires Verfahren einschließlich seiner Teilrechte im Anschluss an den EGMR als Gesamtrecht auf Teilhabe durch Verteidigung dar. Nach Ansicht des Autors weist dieses Gesamtrecht sowohl für einzelne nationale Strafverfahren als auch in einem möglichen europäischen Strafverfahren beträchtliche Entwicklungspotentiale auf. Die Arbeit zeigt die existierenden Schutzbereiche des Rechts auf. Sie hinterfragt, ob und wann diese Schutzbereiche in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EGMR tatsächlich auf einer gesetzlichen Grundlage Einschränkungen erfahren dürfen. Inhaltliche Schwerpunkte der Arbeit bilden die Gesamtbetrachtung des Art. 6 EMRK, die freie Verteidigung, die Waffengleichheit, Verwertungsverbote nach Konventionsverletzungen und das Konfrontationsrecht. Bezogen auf das zentral behandelte Recht auf Verteidigerbeistand wird - auch unter Rückgriff auf den U.S. Supreme Court - eine neue Sichtweise der Unabhängigkeit des Verteidigers begründet. Es wird veranschaulicht, dass eine vermehrte Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren gerade bei Untersuchungshaft unabweisbar ist und dass der Angeklagte verstärkt vor Verteidigerfehlern bewahrt werden muss. Insbesondere Tendenzen in Deutschland, sich über offensichtliche formelle Fehler von Verteidigern etwa bei Verfahrensrügen gleichsam zu freuen oder diese routiniert hinzunehmen, anstatt diese - wie zum Teil in Europa bereits praktiziert - als offensichtlichen Ausfall einer konkreten und wirksamen Verteidigung zu bewerten, werden nach Auffassung des Autors langfristig nicht zu halten sein.

Ebenso wird die Frage behandelt, ob und wann der Staat einem Angeklagten zur Rechtsverwehrung einen Verzicht (seines Verteidigers) oder eine (durch seinen Verteidiger ausgelöste) Verwirkung vorhalten kann, was etwa bei Absprachen und der Widerspruchslösung praktiziert wird. Auch damit werden Themen aufgegriffen, die in Deutschland noch immer in selbstbewusster Grundrechtsorientiertheit erörtert werden, ohne vorhandene oder anknüpfungsfähige Konventionsansätze ernsthaft einzubeziehen.

Vgl. auch das Inhaltsverzeichnis der Abhandlung (via Link auf http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/ueber/diss_gaede.pdf).

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Lothar Kuhlen: Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, C.F. Müller, Heidelberg 2006, 112 Seiten, ISBN 3-8114-5232-0, € 34.00.

Der Mannheimer Strafrechtler Lothar Kuhlen hat mit einer Untersuchung über die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen eine Studie vorgelegt, von der man prognostizieren darf, dass ihr in der juristischen Fachwelt eine hohe Aufmerksamkeit zuteil werden wird. Das Buch belegt, dass auch juristische Monographien nicht notwendigerweise umfangreich sein müssen, um inhaltlich gewichtig zu sein. Auf wenig mehr als hundert Seiten behandelt Kuhlen eine beachtliche Menge kritischer und diskussionswürdiger Fragen im Umfeld des methodischen Instituts der verfassungskonformen Auslegung, wobei er ganz selbstbewusst eine Grenzlinie zieht zwischen solchen Fragen, die für ihn im Mittelpunkt des Interesses stehen und solchen, die er um der Konsequenz und Übersichtlichkeit der Darstellung willen allenfalls andeutet, aber nicht weiter thematisiert. Das sind insbesondere Fragen, die eine von der Rechtspraxis abgehobene, rein theoretische Erörterung semantischer Probleme erheischen. Wenn Kuhlen solche Fragen zurückstellt, so zumindest teilweise auch deswegen, weil er sich gegenüber der reinen Theorie skeptisch zeigt.

Damit steht er nicht allein. Die goldenen Jahre der Rechtstheorie sind Vergangenheit, vorbei die Zeit, in der man die Anwendungsenthobenheit einer Metadisziplin selbstbewusst gerade auch in der Bereitschaft zur Rezeption außerjuristischer Literatur zu erkennen gab. Man mag dies bedauern und die weitgehende Unterwerfung auch der Rechtstheorie und Rechtsmethodologie unter den Imperativ der Praxiskompatibilität schmerzlich empfinden, es entspricht jedenfalls jener Rechtswirklichkeit, deren Verkennung Kuhlen einigen Autoren kritisch ins Stammbuch schreibt. Dabei ist nicht zu übersehen, dass seine Untersuchung zu einer jüngeren Entwicklung gehört, die zumindest die Vermutung erlaubt, dass wir, vielleicht unter anderen, "pragmatischeren" Vorzeichen, so etwas wie eine Renaissance der juristischen Methodenlehre zu erwarten haben. Schon seit einiger Zeit stößt man vermehrt auf Veröffentlichungen, die sich gerade dem klassischen Kernbereich der Rechtsmethodologie, nämlich der Auslegungslehre zuwenden. Die Frage der richterlichen Gesetzesbindung wird in einer Weise kontrovers diskutiert, als lägen zu diesem Problem nicht schon ganze Regale an Literatur vor. Insbesondere an der Frage der Wortlautgrenze haben sich in letzter Zeit eine ganze Reihe scharfsinniger Diskussionen entzündet, und die im Prozess der europäischen Rechtsintegration erfolgenden Auseinandersetzungen mit Methodenlehren, die etwa die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nicht oder jedenfalls nicht in jener uns vertrauten Weise anerkennen, macht die längere Zeit abstinente Jurisprudenz wieder auf den Wert der juristischen Grundlagenforschung aufmerksam.

I. Zu dieser leistet Kuhlen mit seiner Untersuchung über die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen einen (nicht nur für die Strafrechtsrechtswissenschaft) wichtigen Beitrag. Wie der Autor zahlreich belegen kann, haben sich Argumente, die zwischen verschiedenen möglichen Auslegungsvarianten im Hinblick auf die Konformität mit dem Verfassungsrecht unterscheiden bzw. anhand dieser Unterscheidung Deutungsvarianten auswählen oder verwerfen, mittlerweile zu einem Topos verdichtet, der die Annahme eines etablierten methodischen Instituts der juristischen Auslegungslehre begründet (vgl. S. 39). Kuhlen bezeichnet seinen Ansatz als "induktiv" (S. 101); die kritische Rekonstruktion der verfassungskonformen Auslegung möchte er in enger Anbindung an die verfassungs- und fachgerichtliche Argumentationspraxis vornehmen und deren - womöglich implizite - Kriterien bei der Konkretisierung des fraglichen Instituts sichtbar machen.

Er beginnt gleichwohl nicht kasuistisch, sondern mit einer Reihe von ersten, das Problemfeld strukturierenden Definitionen. In Anknüpfung an die insbesondere durch die Alexy-Schule prominent gewordene Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien entnimmt er dem Erfordernis der Verfassungsgemäßheit juristischer Norminterpretationen einen zweifachen methodischen Sinn. Zum einen deutet er es als zwingende Anordnung, dass verfassungswidrige zugunsten verfassungsgemäßer Normverständnisse zu verwerfen sind (= verfassungskonforme Auslegung), zum anderen als - mehr oder weniger erfüllbares - Gebot, bei der juristischen Auslegung unter anderem auch die Vorgaben der Verfassung zu berücksichtigen (= verfassungsorientierte Auslegung), vgl. S. 1 ff. Dass die Grenzen zwischen verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung in der Praxis der juristischen Argumentation fließend sind (S. 3), muss kaum hervorgehoben werden und ändert nichts am idealtypischen Sinn der Unterscheidung. Ihre Leistungsfähigkeit erweist sich schon in der Vorzeichnung einer Antwort auf die institutionell-methodische Frage nach einer unterschiedlichen Bedeutung verfassungsrechtlicher Argumentationstopoi für das BVerfG einerseits und die Fachgerichtsbarkeit andererseits. Ersichtlich ist der Entscheidungsmodus zwingender Verwerfung charakteristisches Merkmal verfassungsrichterlicher Jurisdiktion, während die Fachgerichte gut daran tun, sich hier eher zurückhaltend zu verhalten (was sie, nach Kuhlens Analyse, im Großen und Ganzen auch tun, vgl. S. 41).

Unklar bleibt Kuhlens Argument, dass »die Anwendung des Gesetzes auf einzelne Fälle [...]auf die allgemeine Auslegung des Gesetzes nicht zurückwirkt« (S. 7). Hier hätte man gerne mehr erfahren, denn interessant ist diese geradezu ins Zentrum der juristischen Methodenlehre zielende These allemal. Vorherrschend ist nämlich eher die Ansicht, dass der semantische Gehalt von Rechtsregeln nicht unabhängig von kasuistischen Konkretionen festgestellt werden kann. Demgegenüber ist der Gedanke einer semantischen Autonomie des Rechts seit den ersten etwas kruden Konzeptionen der Begriffsjurisprudenz immer Gegenstand harscher Kritik gewesen, und es wäre zu überlegen, wie er - möglicherweise auf einem höheren Niveau der bedeutungstheoretischen Reflexion - wieder eingeholt werden könnte. Dass solche Fragen viel Theorie erfordern, sollte jedenfalls nicht von vornherein gegen sie verwendet werden, auch wenn man eher geneigt ist, die alten, ewigen Probleme der Methodenlehre tiefer zu hängen.

Was die vielfach geäußerte Skepsis gegenüber dem Bedeutungszuwachs verfassungsrechtlicher Argumente in der strafrechtlichen Judikatur anbetrifft, ist deren Grund für Kuhlen leicht ersichtlich. Wie exemplarisch am besonders oft in bezug genommenen Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) zu sehen ist, sind die Vorgaben der Verfassung ihrerseits sehr unbestimmt. Dass man das Argument der Verfassungskonformität hinzuzieht, löst eben nicht das Problem der Norminterpretation. Das Gebot verfassungskonformer Auslegung ist, wie Kuhlen schreibt, »einfach zu befolgen, wenn feststeht, welche verfassungsgemäßen und verfassungswidrigen Auslegungen eines bestimmten Gesetzes möglich sind« (S. 10). Aber wie kommt man zu dieser Feststellung? Das ist unverändert das traditionelle Problem der juristischen Auslegung und eine, mit Kuhlens Worten, »komplexe und nicht immer konsensfähig lösbare Aufgabe« (S. 10). Am Ende solcher Überlegungen droht immer die Blankettauskunft der Wertungsjurisprudenz als Weisheit letzter Schluss. M.a.W. auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben bedürfen, bevor sie als Maßstab einer Überprüfung einfachgesetzlicher Auslegungsvarianten dienen können, ihrerseits einer Auslegung, »die vielfach von Wertungen des Rechtsanwenders abhängt« (S. 11). Dass gerade verfassungsrechtlich orientierte Rechtsinterpretation nicht selten verkappte Rechtspolitik ist, ist ein hinlänglich bekanntes und hinreichend problematisiertes Phänomen.

Im Zusammenhang mit dem Problem der Unbestimmtheit der verfassungsrechtlichen Vorgaben nennt Kuhlen als zweiten "neuralgischen Punkt" (S. 13) die Schwierigkeit zu bestimmen, wo Verfassungsrecht noch als Auslegungshilfe fungiert oder bereits als Legitimationsquelle gerichtlicher Normsetzung (S. 11). In dieser Frage tendiert Kuhlen zu einer pragmatischen, die Realität der Rechtspraxis zur Kenntnis nehmenden Auffassung. Im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung sieht er - trotz der Problematik der Gewaltenteilung und des Erfordernisses von judicial self-restraint (S. 14) - keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung (vgl. S. 13 o.), wie sie im strafrechtlichen Begründungskontext häufig unter dem Titel der teleologischen Reduktion begegnet. Kuhlen hält wenig von der Dramatisierung der Gefahr einer sich verselbständigenden Auslegung und vertraut offenkundig auf die funktionierende Selbstkontrolle der Justizpraxis (vgl. S. 15).

II. Dem entspricht es, wenn er die Konkretionen der verfassungskonformen und verfassungsorientierten Auslegung von Strafgesetzen in einer Übersicht über einschlägige Entscheidungen des BVerfG und des BGH zunächst einmal ohne Kommentar zur Darstellung bringt (S. 17-38). In diesem »Rechtsprechungsüberblick« (S. 40) finden sich zum Teil ganz prominente verfassungsgerichtliche Entscheidungen wie das Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe (BVerfGE 45, 187) oder die sog. dritte Sitzblockaden-Entscheidung zum Gewaltbegriff in § 240 Abs. 1 StGB (BVerfGE 92, 1). Exemplarisch verdeutlicht das BVerfG in beiden Entscheidungen die Gebotenheit einer restriktiven Auslegung, wobei es das Wie einer solchen Auslegung der Kompetenz der fachgerichtlichen Jurisdiktion zuweist.

Deren Handhabung verfassungsrechtlicher Kriterien bei der Auslegung strafrechtlicher und strafprozessualer Normen zeigt Kuhlen an einer ganzen Reihe von BGH-Entscheidungen auf. Es beginnt 1959 mit einem Urteil zu § 450 Abs. 2 S. 1 AO (BGHSt 13, 102), in dem sich das Betreten von »Neuland« (S. 26) schon daran zeigt, dass der vom BGH zugunsten einer geltungserhaltenden Reduktion des § 450 Abs. 2 S. 1 AO verwendete Terminus der Verfassungskonformität noch durchweg in Anführungszeichen gesetzt ist. Kuhlen zufolge kommt darin zum Ausdruck, dass hier neuartige methodische Erwägungen eingeführt werden, »denen ein dem Herkommen verpflichtetes Gericht einstweilen noch nicht ganz traut« (S. 26). Wenn in einer späteren Entscheidung des BGH zu §§ 94 ff. StPO (Zulässigkeit der Beschlagnahme von Behördenakten, wenn die oberste Dienstbehörde keine Sperrerklärung abgibt) der Hinweis erfolgt, das Prinzip der Gewaltenteilung gebiete geradezu eine verfassungskonforme Auslegung problematischer Normen (BGHSt, 38, 237, 245), wird das Kernproblem der verfassungskonformen Auslegung erkennbar. Denn man kann es mit guten Gründen auch anders sehen und argumentieren, dass mit dem Mittel der verfassungskonformer Auslegung der dritten Gewalt genau jene quasi-legislatorische Kompetenz eingeräumt wird, die sie im gewaltengeteilten Staat nicht haben soll.

Man kann ohne weiteres sagen, dass die Lektüre von Kuhlens Studie sich allein schon wegen der sorgfältig zusammengestellten und analysierten Rechtsprechungsbeispiele lohnt. Vergleichbares findet sich zur Frage der verfassungskonformen Auslegung im Strafrecht bislang nicht. In diesem Zusammenhang ist es auch ganz wohltuend, dass der Autor die Rechtsprechung wirklich zu Wort kommen lässt, ohne sie sogleich mit Änderungswünschen und Verbesserungsvorschlägen zu traktieren.

III. Wenngleich die verfassungskonforme Auslegung noch nicht zum Alltagsgeschäft der strafrichterlichen

Argumentationspraxis zählt, so Kuhlens »Zwischenbilanz« (S. 39 ff.), gehören ihre Argumentformen mittlerweile unübersehbar zum methodischen Kanon auch der strafrechtlichen Rechtsprechung. Das wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass auch bei der Lösung rechtspolitisch wenig brisanter und unspektakulärer Fälle auf Vorgaben des Verfassungsrechts zurückgegriffen wird, vgl. S. 39.

Mit Blick auf die Judikatur unterscheidet Kuhlen zwischen einer verfassungskonformen Auslegung in einem engen und einem weiten Sinn. Da letztere darauf zielt, das durch eine bestimmte Norm aufgeworfene verfassungsrechtliche Problem durch verfassungskonforme Auslegung einer anderen Norm zu lösen (S. 39 f.), könnte man insoweit vielleicht besser von indirekter verfassungskonformer Auslegung sprechen, aber das sind lediglich terminologische Fragen. Die Unterscheidung zwischen materieller und formeller Verfassungsgemäßheit von Gesetzesauslegungen (S. 45 ff.) ist mir nicht ganz klar geworden. Sie knüpft an dem Umstand an, dass sich verfassungsrechtliche Probleme bei der strafjuristischen Auslegung zum einen durch einen möglichen Verstoß (einer Norm oder einer Normdeutungsvariante) gegen Grundrechte ergeben können, zum anderen durch einen Verstoß gegen die durch Art. 103 Abs. 2 GG normierte Garantiefunktion gesetzlicher Bestimmtheit. Wenn Kuhlen den Begriff der formellen Verfassungswidrigkeit von Gesetzesinterpretationen aus dem letzteren Gesichtspunkt herleitet, dann ist jedenfalls nicht ohne weiteres erkennbar, was spezifisch einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG weniger "materiell" macht, als etwa einen Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Kuhlen sieht diese Schwierigkeit durchaus, ordnet denn auch z.B. das Rückwirkungsverbot der materiellen Verfassungswidrigkeit zu (S. 47 f.) und spricht von Modifikationen, die der Umstand erfordert, dass materielle und formelle Verfassungsmäßigkeit sich nicht selten verschränken (S. 49 ff.). Gleichwohl meint er, dass die Unterscheidung im Kernbereich »unproblematisch« ist (S. 49).

IV. Im Fortgang wendet sich der Autor in besonders skrupulöser Weise zwei Entscheidungen aus neuerer Zeit zu, die auch in der Literatur sehr kontroverse Diskussionen ausgelöst haben. Zum einen die Entscheidung des BVerfG zur Frage der Strafbarkeit von Verteidigern wegen Geldwäsche (BVerfGE 110, 226), zum anderen das Urteil des BGH zur Frage der Vorteilsannahme bei Einwerbung von Wahlkampfspenden durch einen Amtsträger (BGHSt 49, 275). Die Rekonstruktion beider Entscheidungen kann hier nicht in all ihren Subtilitäten wiedergegeben werden. Dem Anspruch einer induktiven, der Rechtsprechung ihre Kriterien gleichsam ablauschenden Analyse, wird die überaus sorgfältige Darstellung voll gerecht. Nunmehr zeigt sich aber auch, dass Kuhlen der Argumentation der Justizpraktiker in der ein oder anderen Frage zuweilen deutlich widerspricht. So etwa hält er es im Zusammenhang der Problematik zur Geldwäsche für unzulässig, dass sich das BVerfG über die Klarstellung der Gebotenheit einer restriktiven Auslegung hinaus für eine bestimmte Auslegungsvariante entschieden hat, ohne diese Entscheidung der Fachgerichtsbarkeit zu überlassen (S. 63 ff.).

Im Rahmen der Rekonstruktion des Parteispenden-Urteils gelangt der Autor schließlich zu einem Gesichtspunkt, den man sicherlich zu den zentralen Anliegen seiner Untersuchung rechnen kann. Kritisch fragt er, ob es aus der institutionellen Perspektive des Fachgerichts pragmatisch sinnvoll ist, bestimmte Bedenken, die bei offenkundig zu weiten Tatbestandfassungen gewissermaßen zum strafjuristischen Alltagsgeschäft gehören, stets mit dem Verweis auf Verfassungsrecht zu "überhöhen" (S. 75). Seiner Ansicht nach ist dies weder geboten noch sinnvoll. Technisch ist eine argumentative Anbindung ans Verfassungsrecht zwar leicht zu bewerkstelligen, wie Kuhlen zeigt (S. 76), doch ist es aus Gründen der institutionellen Rationalität vernünftig, »dass Strafgerichte selbst dort, wo verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine naheliegende Gesetzesauslegung bestehen, die Entscheidung für ein anderes Verständnis nur dann mit dem Gebot verfassungskonformer Normerhaltung rechtfertigen, wenn dafür besondere Gründe sprechen« (S. 81). Dazu gehören etwa der explizite verfassungsgerichtliche Auftrag einer verfassungskonformen Auslegung oder Fälle, in denen es »als praktisch sicher erscheint, dass ein bestimmtes Gesetzesverständnis nicht nur sachlich verfehlt ist, sondern gegen die Verfassung verstößt, und wenn die verfassungsrechtliche Begründung die Überzeugungskraft der Argumentation steigert« (S. 81). Das letztgenannte Kriterium steht freilich auf schwankendem Grund, denn es ist ja gerade die Ansicht, dass der Bezug auf Verfassungsrecht die Argumentation kräftigt, warum in zunehmender Weise von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird. Wenn man mit einem so hohen Vertrauen an die Praxis der Gerichte herangeht, wie es Kuhlen tut, wird man es auch in dieser Frage dem Gespür der Praktiker überlassen müssen, dass sie es schon selbst merken, ab wann der inflationäre Gebrauch verfassungsrechtlicher Topoi kontraproduktive Effekte in bezug auf die argumentative Wirksamkeit hat.

V. Der Bedeutungszuwachs des Rekurses auf Verfassungsrecht, insbesondere auf Art. 103 Abs. 2 GG, so die Kerndiagnose von Kuhlen im letzten Abschnitt seiner Untersuchung, ist ambivalent (S. 87, s. auch S. 95) bzw. läuft sogar Gefahr, Widersprüche zu generieren (S. 90). Zwar sei es grundsätzlich zu begrüßen, dass gerade mit dem argumentativen Rekurs auf das Gesetzlichkeitsprinzip »einem Grundpfeiler unseres rechtsstaatlichen Strafrechts« (S. 87) zur Geltung verholfen werde, doch messe die juristische Argumentation im Umfeld von Art. 103 Abs. 2 GG häufig mit zweierlei Maß. In der fast schon routinierten Präferenz für teilweise auch fernliegende Deutungsvarianten aus dem Gesichtspunkt verfassungskonformer Restriktion werde verkannt oder übersehen, dass damit die Anforderungen an die gesetzliche Bestimmtheit überhaupt herabgesetzt werden (vgl. 89 f.). Mir leuchtet allerdings nicht ein, warum Kuhlen meint, man könne den drohenden Konflikt »nicht dadurch vermeiden, dass man bei der Verwerfung bestimmter Normverständnisse und bei Anerkennung anderer, normerhal-

tender Interpretationen unterschiedliche Anforderungen[...]stellt« (S. 90). Denn dass man in der Frage der Bestimmtheit mit zweierlei Maß misst, ist nur auf den ersten Blick unzulässig oder ungerecht. Der Konflikt kann dadurch aufgelöst werden, dass man die interpretatorische Ungleichbehandlung aus jenem Gedanken rechtfertigt, den man in der Frage des strafrechtlichen Analogieverbots ganz selbstverständlich zu handhaben gelernt hat. Analogieverbot heißt nichts anderes als das Verbot täterbelastender Analogie; damit sind den Täter begünstigende analoge Norminterpretationen gerade nicht ausgeschlossen. Der Vorschlag wäre also, bei täterbelastender Auslegung generell höhere Anforderungen an die semantische Bestimmtheit (etwa die Wortlautgrenze, vgl. S. 94) zu richten, während man im Falle täterbegünstigender Normauslegungen ein weitaus größeres Maß an semantischer Unbestimmtheit (gerade auch in Form der Privilegierung fernliegender Auslegungsvarianten) zulassen kann.

VI. Damit sind selbstverständlich nur vorläufige Argumente für eine mögliche Anschlussdiskussion gegeben. Es ist das große Verdienst von Kuhlen, mit der Erörterung der verfassungskonformen Auslegung von Strafgesetzen einen weiteren wichtigen Grund für die Notwendigkeit einer Wiederbelebung der juristischen Methodenlehre sichtbar gemacht zu haben. Man wird in der neueren Methodendiskussion kaum um dies Untersuchung herumkommen.

In einem letzten kurzen Abschnitt fasst der Autor die Ergebnisse seiner Studie noch einmal übersichtlich und prägnant zusammen. Allein auf diesen etwas mehr als vier Seiten (S. 101 ff.) finden sich derart viele diskussionswürdige Überlegungen, dass man vielleicht am besten die folgende - strategische - Lektüreempfehlung gibt: Man lese zunächst die eben genannten letzten Seiten, die vom Autor so genannte »Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse«. Man wird sie natürlich nicht verstehen, ohne das Buch gelesen zu haben. Da man aber bei der Lektüre dieser Seiten schon ahnt, dass man es sich kaum leisten kann, sie nicht zu verstehen, muss man das Buch lesen.

Dr. Jochen Bung, Universität Frankfurt am Main.

***

Wolfgang Schomburg; Otto Lagodny; Sabine Gleß und Thomas Hackner: Internationale Rechtshilfe in Strafsachen - International Cooperation in Criminal Matters. Kommentar zum IRG unter Einbeziehung der für den gesamten deutschsprachigen Raum wichtigsten Rechtshilfeinstrumente ergänzt um Rechtshilfetabellen sowie die wichtigsten Texte auch in englischer Sprache. 4., völlig neu bearbeitete Auflage, in Leinen, 2450 Seiten, 248,00 €, ISBN 3-406-52572-5, C.H.Beck, München 2006.

Mit dieser 4. Auflage des Schomburg/Lagodny steigt der Kommentar in der Beck’schen Kurzkommentarreihe nicht nur vom Zuschnitt her in die Liga des Palandt auf. Über die Aufnahme von zwei weiteren Stammbearbeitern (Prof. Dr. Sabine Gleß, Basel und Dr. Thomas Hackner, Hannover) und drei Gastkommentatoren (Francois Bohnert, Eurojust, Wiss. Ass. Dr. Christian Rosbaud, LL.M, Univ. Salzburg und Dr. Jan Christoph Nemitz, ICTY/ICTR) wurde der Kommentar auch inhaltlich beträchtlich erweitert. Man reagiert so auf die seit der 3. Auflage aus dem Jahr 1999 eingetretenen zahlreichen Neuerungen auf dem Gebiet der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, die bei deren Regulierung und Verbesserung nicht nur hilfreich waren, sondern die auch das - wie es die Autoren bezeichnen - wachsende "Vertragschaos" befördert haben. Dieser Herausforderung haben sich die Autoren gestellt und sich neben einer Darstellung der großen Leitlinien und Wandlungsprozesse der internationalen Kooperation auch mit großer Akribie der Aufarbeitung und Entwirrung der völkervertraglichen Regelungsbestandes gewidmet. Wenn das Werk auch einen stolzen Preis hat, wurde mit ihm doch ein enormes Kompendium an Rechtsgrundlagen und Kommentierungen auf dem Stand November 2005 zusammen getragen, das seines Gleichen sucht. Dies sollte wie folgt zu erhellen sein:

Zunächst bringt der Kommentar systematisch Licht ins Dunkel der zahlreichen und vielgestaltigen Rechtsgrundlagen des Rechtshilferechts, indem er die im deutschsprachigen Raum anwendbaren Rechtsgrundlagen zusammen trägt. Auch dem mit den verschiedenen Ebenen der Rechtshilfekooperationen noch nicht vertrauten Leser wird schon in der vorzüglichen Einleitung des Kommentars geholfen: Hier wird das Rechtshilferecht als Recht verschiedener Ebenen ("konzentrischer Kreise") und Rechtsgrundlagen vorgestellt. Die wechselseitigen Abhängigkeiten und diesen Ebenen werden ebenso klar erläutert wie die gegenwärtigen Entwicklungsprozesse, die nachhaltig durch die Aktivitäten der Europäischen Union und die Etablierung internationaler Gerichtshöfe geprägt sind.

Was gehört nun zu den aufgenommenen Rechtsgrundlagen, die in sieben Hauptteile gegliedert und oftmals mit (den authentischen) englischen Übersetzungen publiziert werden? Natürlich findet sich eingangs das als nationales "Rechtshilfegrundgesetz" dienende IRG. Ihm folgen die wichtigen Übereinkommen im Rahmen des Europarates einschließlich etwaiger Ergänzungsabkommen. Sodann werden die Übereinkommen der EU/EG und ihre Umsetzungsmechanismen aufgeführt, gefolgt vom Schengener Durchführungsübereinkommen in einem weiteren Hauptteil. Weitere wichtige Rechtshilfeübereinkommen Deutschlands mit einzelnen Staaten schließen sich ebenso wie deliktsbezogene multilaterale Verträge und das NATO-Truppenstatut an. Darauf folgend werden die Rechtsgrundlagen der internationalen Strafgerichtsbarkeit publiziert, um sodann auch die wichtigsten Teile des Rechtshilferechts der deutschsprachigen Länder Österreich, Schweiz und Liechtenstein abzudrucken. Dies ist aber noch nicht genug: Nach den sieben Hauptteilen

findet sich ein Anhang, in dem weitere bedeutsame Rechtsquellen abgedruckt werden, die zumeist kein originäres Rechtshilferecht darstellen. Aufgenommen sind etwa die wichtigen Menschenrechtsquellen IPbpR und EMRK, einschlägige Vorschriften des deutschen Bundesrechts (z.B. Auszüge aus GG, StPO, BKAG), die RiVASt (ohne Länderteil), das Wiener Vertragsrechtsübereinkommen und das Konsularrecht. Überaus hilfreiche Verzeichnisse wie etwa eine Fundstellensynopse über die im Rechtshilferecht nicht selten schwer verfügbaren Entscheidungen, eine Konventionenliste oder eine Rechtshilfetabelle zu den anwendbaren Vorschriften Deutschlands im Verhältnis zu einzelnen Staaten schließen das Buch ab, das selbstverständlich ein Sachwortverzeichnis kennt. Ergänzend ist auch ein Literaturverzeichnis aufgenommen, das Quellen in immensem Umfang erschließt, in dem allein vereinzelt ein wissenswerter Beitrag fehlt oder auf Altauflagen verwiesen wird (etwa auf Villiger, Handbuch EMRK, 1993).

Wer seinen Blick den Kommentierungen zuwendet, dem fällt - wie gesagt - zuerst die gelungene Einleitung auf. Sie ist gerade für den noch nicht mit der Rechtshilfe intim vertrauten Rechtsanwender zur (ggf. auch wiederholenden) Orientierung ein großer Gewinn. Auch der Aufbau des Buches wird darin erläutert. Eingängig geschrieben erschließt die Einleitung lehrbuchartig den Zugang zum enorm verzweigten Rechtshilferecht, seinen spezifischen Erscheinungsformen und der rapiden Weiterentwicklung. Sie wirkt dem drohenden "Chaos der Rechtsgrundlagen" entgegen, das den Rechtsanwender angesichts der diversen Ebenen erwartet: Nationales Recht, Völkerrecht, das Recht der multi- und bilateralen Verträge, Recht im Rahmen des Europarates, der EG/EU etc., all dem muss der Rechtsanwender gerecht werden.

Die sodann gebotene Kommentierung des IRG im 1. Hauptteil bildet den Schwer- und Ausgangspunkt des Kommentars. Auf rund 400 Seiten wird das Gesetz näher gebracht. Die Kommentierungen zeichnen sich durch Detailfülle und auch dadurch aus, dass zu den Paragraphen einschlägige Parallelartikel völkerrechtlicher Abkommen bereits beim Normtext aufgeführt werden, was die Suche nach der Problemlösung im Fall einer Verdrängung des "Grundgesetzes IRG" sehr erleichtert. So finden sich etwa beim politischen Delikt des § 6 IRG sogleich Hinweise auf die Art. 1 ff. EuTerrÜbk, welche das politische Delikt bei terroristischen Straftaten trotz deren politischer Motivation völkerrechtlich ausschließen. Dass man einmal einen Meinungsstand zum IRG nicht im Kommentar findet, dürfte die absolute Ausnahme sein. Allenfalls findet man etwas einmal nicht auf Anhieb (vgl. z.B. § 11 IRG, wo sich keine Erläuterung dazu findet, dass der Spezialitätsgrundsatz auch die Heranziehung weiterer Delikte zur Strafschärfung untersagt, was sich dann bei Schomburg/Hackner § 72 IRG Rn. 16 f. findet).

Durchgängig kommt im Kommentar etwa zum Auslieferungs(haft)recht (vgl. etwa Schomburg/Hackner Vor § 15 IRG Rn. 2 ff. und auch § 15 IRG Rn. 31) aber zum Beispiel auch beim Ordre-Public-Vorbehalt des § 73 S. 1 IRG (siehe mit Recht Lagodny § 73 IRG Rn. 14 ff. zum "Grundrechtsexportverbot" des BVerfG) zum Ausdruck, dass die Kommentatoren bestrebt sind, den Geburtsfehler des internationalen Rechtshilferechts zu überwinden, nach dem insbesondere die Auslieferung eine Sache zwischen den Staaten allein ist, in welcher der Verfolgte mehr ein Objekt als ein Subjekt des Rechts darstellt. Die dreidimensionale Sicht, die heute überwiegend durch die Einbeziehung der völkerrechtlichen Menschenrechte Platz greift (vgl. Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen[2002]m. Rez. Gaede HRRS 2006, 422 ff. und etwa Schomburg/Hackner Vor § 15 IRG Rn. 8) und die den Rechtsbetroffenen als Rechtsinhaber und Maßstab der internationalen Rechtshilfe begreift, prägt die Kommentierungen. Die Neuregelung des Europäischen Haftbefehls berücksichtigt die Kommentierung leider noch nicht, da das neue Gesetz bei Drucklegung noch nicht verabschiedet war (vgl. Hackner Vor § 78 IRG Rn. 1). Allerdings werden zu den §§ 78 ff. IRG mit Blick auf das Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl bereits Erörterungen geboten und auch das vorbildgebende Urteil des BVerfG selbst wird abgedruckt und erläutert, so dass über den Europäischen Haftbefehl durchaus wertvolle Informationen zu erlangen sind. Es bleibt abzuwarten, ob der Verlag hierzu vielleicht eine Ergänzung publizieren wird. Ein als Ergänzung gedachter Aufsatz ist freilich in der NStZ bereits erschienen (vgl. Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, NStZ 2006, 663 ff.). Dort verneinen die Autoren allerdings eine bestehende Rückwirkungsproblematik (Art. 7 EMRK) wohl etwas schnell. Denn gibt man die beiderseitige Strafbarkeit auf und fordert man nicht stets einen maßgeblichen Auslandsbezug der Tat, kann sich die Anwendung ausländischer Strafgesetze, die in fremder Sprache abgefasst und so kaum hinreichend publiziert sind, u.U. als rückwirkende Anwendung eines erst über das 2. EUHB anwendbaren ausländischen Strafgesetzes darstellen. Es würden Verfahrens- oder Vollstreckungshandlungen vorgenommen, die auf eine Bestrafung unter Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip abzielen könnten (vgl. zum einen allgemein zum Abstellen auf ausländische Eingriffsgesetze Gaede ZStW 115[2003], 845, 863 ff., zum anderen sodann zum Haftbefehl konkret Buermeyer HRRS 2005, 273, 281 f., dessen Aufsatz die vier Autoren leider nicht berücksichtigen, obschon er eine Obiter-Äußerung des BVerfG geltend macht).

Weitere kommentierende Ausführungen finden sich sodann im 2. Hauptteil zum Europarat insbesondere zu folgenden Regelungen: Das Europäische Auslieferungsübereinkommen wird von Schomburg erläutert und in den Kontext der Verträge des Europarats überhaupt eingeordnet. Das Europäische Rechtshilfeübereinkommen wird von Lagodny eingeleitet und hin und wieder angemerkt. Auch zu den Zusatzprotokollen werden bisweilen Anmerkungen gegeben. Zur Vollstreckungshilfe geben Schomburg/Hackner Erläuterungen. Weitere Erläuterungen betreffen etwa die Bereiche "Cybercrime", Geldwäsche und Korruption. Der 3. Hauptteil zur EU beginnt mit einleitenden Ausführungen von Gleß. Kommentiert werden hier das EU-Auslieferungsübereinkommen und

das EU-Abkommen über eine vereinfachte und modernisierte Auslieferung. Der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl ist abgedruckt. Das EU-Rechtshilfeübereinkommen wird einschließlich seines Zusatzprotokolls von Gleß zum Teil eingehender kommentiert. Der "Rahmenbeschluss Sicherstellungsanordnung" (Beweismittel) wird abermals von Gleß eingeleitet, wobei sie vor allem auf eigene Vorarbeiten zurückgreift. Diverse weitere Rahmenbeschlüsse und Abkommen werden in diesem Teil gerade auch zur Strafvollstreckung und zu Delikten gegen die finanziellen Interessen der EU abgedruckt und vergleichbar erläutert bzw. eingeleitet. Hilfreiche Handreichungen zur Bedeutung von und zum Umgang mit Eurojust werden von Bohnert/Schomburg niedergelegt. Auch das Europolübereinkommen findet sich von Gleß erläutert. Bereits durch diese Zusammenstellung gibt der Abschnitt einen ersten Eindruck von den Hauptentwicklungstrends unter dem Dach der Europäischen Union, namentlich institutionalisierte Kooperation, Einführung neuer Kooperationsparadigmen, Entstehung eines "Unionsstrafrechts."

Im 4. Hauptteil wird von Schomburg/Gleß das SDÜG kommentiert, dessen praktische Bedeutung im Strafverfahren in den letzten Jahren insbesondere über sein Verbot der Doppelverfolgung nach Art. 54 SDÜ deutlich wurde, das im Kommentar von Schomburg weiterführend besprochen wurde. Die wichtigen Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen "van Straaten" (C - 150/05) und "Gaspari" (C - 467/04) ergingen erst nach Drucklegung und fanden deshalb keine Berücksichtigung. Auch der Schengen-Beitritt der Schweiz wird hier mit dem Abdruck des entsprechenden Abkommens verdeutlicht.

Bei den weiteren wichtigen Rechtshilfeverträgen des 5. Hauptteils werden zum NATO-Truppenstatut durch Lagodny Rechtsprechungshinweise gegeben. Zu den Rechtshilfeübereinkommen der Vereinten Nationen hat Schomburg hilfreiche Kurzübersichten verfasst, wobei bereits Palermo III aufgegriffen wird. Der 6. Hauptteil ist den erst in der letzten Dekade entstandenen transnationalen Strukturen des Völkerstrafrechts gewidmet. In ihm werden die Rechtsgrundlagen der internationalen Strafgerichtsbarkeit bzw. die Zusammenarbeit Deutschlands mit derselben von Schomburg und von Nemitz besprochen, der als Legal Officer am ICTY/ICTR tätig ist. Eingangs wird der Leser prägnant an die internationale Strafgerichtsbarkeit herangeführt, ein Überblick über die vorhandenen Aktivitäten und Institutionen wird dargeboten. Erfasst wird in Auszügen auch das IStGH-Statut. Das Völkerstrafgesetzbuch Deutschlands ist abgedruckt, indes nicht kommentiert. Auch die Zusammenarbeitsgesetze Österreichs, der Schweiz und Liechtensteins zum IStGH sind abgedruckt.

Im 7. Hauptteil erfolgt die Rückkehr ins nationale Recht. Es werden die Rechtshilfegesetze der deutschsprachigen Nachbarländer publiziert und zum Teil kommentiert. Für Österreich und damit für das ARHG als maßgeblicher innerstaatlicher Rechtsgrundlage erfolgt dies durch Rosbaud, nachdem Lagodny einleitend einige Vorbemerkungen zu Besonderheiten aus deutscher Sicht verfasst hat. Abgedruckt sind auch weitere österreichische Rechtstexte. Für die Schweiz hat Lagodny die Rechtsgrundlagen und damit insbesondere das ISRG zusammengestellt und kurz eingeleitet. Gleiches erfolgte zu Liechtenstein. Im Anhang finden sich schließlich einleitende Ausführungen zu den aufgenommenen Menschenrechtstexten wie dem IPbpR, nicht jedoch auch Kommentierungen.

Mit diesen geschilderten Leistungen des Kompendiums wird deutlich, dass eine enorm wichtige Quelle für die souveräne Bewältigung von Rechtshilfefragen erschienen ist. Das Werk dürfte schon wegen der vergleichsweise oft auftretenden Rechtshilfefälle zwischen deutschsprachigen Staaten (siehe etwa nun BGH HRRS 2007 Nr. 107) und der erläuterten europäischen Abkommen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz von großem Gewicht sein. Schade ist dabei nur, dass für das Schweizer ISRG noch keine Kommentierung aufgenommen wurde und dass die im Vergleich zum BVerfG oftmals konventionsfreundlichere Rechtsprechung des Schweizerisch en Bundesgerichts eher keine Rolle spielt (vgl. aber beispielsweise m.w.N. BGer 1A.225/2003, Entscheid vom 25. November 2003, zu dem in der Schweiz lang anerkannten ausnahmsweisen Auslieferungshindernis infolge familiärer Sonderumstände, das in Deutschland erst heute anerkannt wird, vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2005, 351 f. ).

Im Rahmen der weiter dynamischen und beim Europäischen Haftbefehl bereits fortgeschrittenen Europäisierung der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen nimmt das Standardwerk einen gewichtigen Platz ein: Es dokumentiert und erläutert die internationale Rechtshilfe in einer Form, die ein sehr gutes praktisches Arbeiten mit den vorhandenen und anschwellenden Rechtsgrundlagen ermöglicht. Die betonte Einbeziehung der völkerrechtlich-menschenrechtlichen Entwicklungslinie des Rechtshilferechts erscheint insoweit auch als Garant dafür, dass der Kommentar gerade auch für anstehende Konfliktfälle regelmäßig tragfähige und zukunftsweisende Empfehlungen bietet. Das beeindruckende Kompendium der Autoren und Gastkommentatoren verdient eine gute Aufnahme. Die vierte Auflage dürfte die Stellung des Schomburg/Lagodny(/Hackner/Gleß) als das einbändige Standardwerk des Rechtshilfe- und insbesondere Auslieferungsrechts weiter ausbauen.

Karsten Gaede , Bucerius Law School (Hamburg)