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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1048

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 482/24, Urteil v. 02.04.2025, HRRS 2025 Nr. 1048


BGH 6 StR 482/24 - Urteil vom 2. April 2025 (LG Hannover)

Jugendstrafe (Voraussetzungen: Schwere der Schuld).

§ 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 21. März 2024 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit von Jugendstrafe abgesehen worden ist und Zuchtmittel angeordnet worden sind.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen. - Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten D. der versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung schuldig gesprochen und ihm auferlegt, 200 Euro an den Geschädigten sowie 1.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen. Den Angeklagten S. hat es der versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung schuldig gesprochen und ihm auferlegt, 200 Euro an den Geschädigten zu zahlen und darüber hinaus 120 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren jeweils auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts begründeten Revisionen. Die vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Animiert durch Videos von Raubüberfällen und fasziniert von einem „Gangster-Lifestyle“ planten der zur Tatzeit 19 Jahre und sechs Monate alte Angeklagte D. und der 20 Jahre und vier Monate alte Angeklagte S. aus Langeweile und Unzufriedenheit mit ihrer schulischen und beruflichen Situation, einen Raubüberfall zu begehen. Sie kamen überein, sich schwarz zu kleiden und sich jeweils mit einer schwarzen Sturmhaube zu maskieren; außerdem wollten sie eine Softairpistole und ein Messer zu Drohzwecken mit sich führen. Neben der Erlangung von Bargeld kam es ihnen insbesondere darauf an, sich durch die Tatbegehung „einen Kick zu verschaffen“.

In der Nacht zum 4. September 2022 entschlossen sie sich, ihren Plan in die Tat umzusetzen und einen Raubüberfall auf ein kleines Ladengeschäft zu verüben, das an den Wochenenden bis 3 Uhr früh geöffnet war. Kurz vor Ladenschluss betraten sie, schwarz bekleidet und mit schwarzen Sturmhauben maskiert, den Verkaufsraum. S. führte ein Springmesser bei sich, D. eine Softairpistole. Der Geschädigte hielt sich zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit einem Bekannten in einem Raum hinter dem Verkaufsbereich auf. Als der Geschädigte den Verkaufsraum betrat, um die vermeintlichen Kunden zu bedienen, zielte D. mit der Pistole auf ihn, während S. das Messer hin und her schwang und die Herausgabe von Geld verlangte. Der Geschädigte verspürte wegen des Messers und der von ihm für eine scharfe Schusswaffe erachteten Softairpistole Angst, war aber gleichwohl nicht bereit, den Kasseninhalt von etwa 150 Euro auszuhändigen, und ergriff zu seiner Verteidigung zwei Bierflaschen.

Aus dem hinteren Raum trat nun der Bekannte hinzu und bewaffnete sich ebenfalls mit einer Bierflasche. Die Angeklagten, die nicht mit der Anwesenheit einer zweiten Person gerechnet hatten, erkannten, dass sie ihr Ziel, sich ohne Einsatz von Gewalt Bargeld zu erlangen, nicht mehr erreichen konnten, und ergriffen die Flucht.

Der Geschädigte verfolgte den Angeklagten S., holte ihn ein, hielt ihn fest, nahm ihm das Messer ab und steckte es in seine Hosentasche. S. versuchte sich zu befreien, und versetzte dem Geschädigten „mindestens einen Faustschlag ins Gesicht und gegen den Hals“. Der Geschädigte erlitt, wie von S. zumindest billigend in Kauf genommen, hierdurch Schmerzen und Hautrötungen. Zudem erlitt der Geschädigte bei einem Griff nach seinem in seiner Hosentasche befindlichen Mobiltelefon durch S. s Messer, das sich dort ebenfalls befand, eine Schnittverletzung an der Hand. Es gelang ihm gleichwohl, S. bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Im Polizeigewahrsam äußerte S. gegenüber einem der Polizeibeamten, dass er für die Tat „ja sowieso nur Bewährung“ bekommen werde.

2. Das Landgericht hat bei beiden Angeklagten Jugendstrafrecht zur Anwendung gebracht. Von der Verhängung von Jugendstrafe hat es jeweils abgesehen, weil bei den Angeklagten weder schädliche Neigungen im Sinne des § 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG vorlägen noch die Schwere der Schuld (§ 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG) Jugendstrafe gebiete und hat daher Zuchtmittel gegen die beiden Angeklagten verhängt.

II.

Die jeweils zuungunsten der Angeklagten eingelegten und wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revisionen der Staatsanwaltschaft haben Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts, gegen die Angeklagten nicht auf Jugendstrafe zu erkennen, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Die Entscheidung über die Verhängung von Jugendstrafe ist Sache des Tatgerichts. Ihm obliegt es, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die für die Rechtsfolgenentscheidung wesentlichen Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 28. November 2024 ‒ 3 StR 493/23, Rn. 17; vom 2. Februar 2022 ‒ 2 StR 295/21, Rn. 17). Rechtsfehlerhaft ist eine solche Rechtsfolgenentscheidung aber, wenn sie beachtliche Lücken oder Wertungsfehler aufweist.

2. Gemessen hieran erweist sich die tatgerichtliche Annahme, eine Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG liege nicht vor, als rechtsfehlerhaft.

a) Kommt die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht, ist der Schuldgehalt der Tat jugendspezifisch zu bestimmen (vgl. BGH, Urteil vom 20. April 2016 - 2 StR 320/15, BGHSt 61, 188, 191). Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist zwar die innere Tatseite. Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt aber insoweit Bedeutung zu, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß seiner persönlichen Schuld gezogen werden können. Er darf bei der Prüfung, ob die Verhängung von Jugendstrafe geboten ist, nicht vollends unberücksichtigt bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 ‒ 3 StR 436/21, Rn. 16; Urteil vom 13. Dezember 2021 ‒ 5 StR 115/21, Rn.13). Entscheidend ist, ob und in welchem Umfang sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Täters vorwerfbar in der Tat manifestiert hat (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 1960 - 4 StR 387/60, BGHSt 15, 224, 226). Ist wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich, ist eine Jugendstrafe zu verhängen, ohne dass es darauf ankommt, ob eine Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit festgestellt werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juni 2024 - 5 StR 205/23, NStZ 2014, 615, 616).

Insbesondere bei Gewaltverbrechen kann die Schwere der Schuld neben dem Erziehungszweck der Jugendstrafe eigenständige Bedeutung erlangen. Schwere Gewaltdelikte begründen regelmäßig die Schwere der Schuld (vgl. BGH, Urteile vom 28. November 2024 ‒ 3 StR 493/23, Rn. 20; vom 1. Dezember 2022 ‒ 3 StR 471/21, Rn. 10; vom 18. Juli 2018 ‒ 2 StR 150/18, Rn. 10; MüKo-StGB/Radtke/Scholze § 17 JGG Rn. 71). Der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs darf jedenfalls nicht völlig hinter den Erziehungsgedanken zurücktreten; denn auf die Möglichkeit der Bestrafung schwerer Straftaten durch die Verhängung einer Jugendstrafe kann auch in Fällen nicht verzichtet werden, in denen ein Jugendlicher oder Heranwachsender nicht erziehungsbedürftig oder erziehungsfähig ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 ‒ 3 StR 436/21, Rn. 17). Das Tatgericht ist zu einer umfassenden Abwägung aller insoweit maßgeblichen Zumessungserwägungen verpflichtet.

b) Gemessen hieran hält die Begründung, mit der das Landgericht die Schwere der Schuld bezüglich beider Angeklagter verneint hat, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Dabei lässt der Senat offen, ob einzelne Formulierungen in den schriftlichen Urteilsgründen darauf hindeuten, dass das Landgericht von einem zu engen Verständnis des Rechtsbegriffs der Schwere der Schuld im Sinne des § 17 Abs. 2 Var. 2 JGG ausgegangen ist. Weder ist eine „besondere“ Schuldschwere vorausgesetzt noch erfordert die Annahme der Schwere der Schuld ein „besonders verachtenswertes“ Handeln oder eine „besonders niedrige Gesinnung“.

Die Erwägungen sind jedenfalls lückenhaft. Denn es fehlt an einer Einbeziehung der Tatvorgeschichte und des äußeren Unrechtsgehalts der Tat in die dem Tatgericht obliegende Bewertung. Den Urteilsgründen ist auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen, dass das Landgericht im Rahmen der Schuldschwereprüfung bedacht hat, dass die beiden Angeklagten die Tat durch das Betrachten der Videos von Raubüberfällen, gemeinsamer Gespräche über diese Videos, die Planung der Tat sowie der Beschaffung der beiden Tatwaffen sowie der Sturmhauben sorgfältig geplant und vorbereitet haben. Weiterhin ist das konkrete Tatbild ‒ insbesondere die Maskierung der beiden Angeklagten sowie der massive Einsatz der Drohmittel - durch jeden von ihnen nicht erkennbar in den Blick genommen worden.

3. Die Rechtsfolgenaussprüche beruhen auf diesem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Ungeachtet des Zeitablaufs seit der Tat und der seither festgestellten positiven Entwicklung der beiden Angeklagten vermag der Senat nicht auszuschließen, dass das Tatgericht zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre, wenn es alle Umstände in den Blick genommen hätte. Dies führt zur Aufhebung des Urteils jeweils im gesamten Rechtsfolgenausspruch. Der Senat hebt auch die ihnen zugrundeliegenden Feststellungen mit auf (§ 353 Abs. 2 StPO), um der nunmehr zur Entscheidung berufenen Jugendkammer neue und insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird auch zu bedenken haben, dass die Verhängung von Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld ‒ entgegen der Rechtsauffassung des Landgerichts ‒ die Feststellung einer Erziehungsbedürftigkeit oder -fähigkeit nicht voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juni 2024 - 5 StR 205/23, NStZ 2024, 615).

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 1048

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede