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HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 360

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 199/24, Urteil v. 16.10.2024, HRRS 2025 Nr. 360


BGH 6 StR 199/24 (alt: 6 StR 401/21) - Urteil vom 16. Oktober 2024 (LG Braunschweig)

Freispruch, Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (lückenhafte Beweiswürdigung: unterbliebene Berücksichtigung etwaiger prozesstaktischer Erwägungen betreffend Einlassungsverhalten; unterbliebene Auseinandersetzung damit, ob Täterwissen offenbart wurde; wahrheitswidrige Selbstbezichtigung [Hypothese „eines freiwilligen Bauernopfers“]: Spekulation; unterbliebene Würdigung der Urteilsfeststellungen zur Person des Angeklagten; gebotenen Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände, Gesamtschau).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 29. November 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine Jugendkammer des Landgerichts Göttingen zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang mit Urteil vom 29. April 2021 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Auf die Revision des Nebenklägers, mit der dieser eine Verurteilung auch wegen versuchten Mordes erstrebt hatte, hob der Senat das Urteil mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurück (Urteil vom 15. Juni 2022 - 6 StR 401/21, NStZ-RR 2022, 253). Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen und eine Entschädigungsentscheidung getroffen. Dagegen wenden sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage mit ihren jeweils auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat ebenso wie die Revision des Nebenklägers Erfolg.

I.

1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt dem zur Tatzeit 17-jährigen Angeklagten zur Last, am Abend des 28. April 2020 gemeinsam mit weiteren Beteiligten, namentlich den gesondert Verfolgten B., F. und V., den Zeugen D. in Se. aufgesucht zu haben, um einen Streit zwischen B. und anderen Personen zu klären. Im Rahmen der sich dort entwickelnden Auseinandersetzung habe der Angeklagte den Nebenkläger angegriffen und diesem mit bedingtem Tötungsvorsatz einen Schraubendreher kraftvoll in den Kopf gestochen. Das Werkzeug sei 8 cm tief im Bereich der linken Schläfe in den Schädel eingedrungen. Der dadurch in latente Lebensgefahr geratene Nebenkläger habe durch ärztliche Hilfe gerettet werden können.

2. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Entsprechend einer zuvor getroffenen Verabredung fuhren die gesondert verfolgten B. und V. am 28. April 2020 mit einer unbekannten Anzahl weiterer männlicher Beteiligter, unter anderem den gesondert verfolgten F. und P., mit mehreren Fahrzeugen von G. nach Se. Dort sollte ein Streit zwischen B. und dem Zeugen D. um „illegale Geschäfte“ geklärt werden. Gegen 19:20 Uhr trafen sie in Se. ein. Auf der Straße entwickelte sich ein „Tumult aus mehreren Personen“ und ein aggressives Wortgefecht. Nachdem der Nebenkläger, der in einem Nachbarhaus bei einem Cousin des D. zu Besuch war, auf das Geschehen aufmerksam geworden war, rannte er auf die Straße. Hier stach ihm eine unbekannte Person einen spitzen Gegenstand 8 cm tief in den Kopf. Kurz darauf löste sich die Auseinandersetzung auf, die Begleiter B. s begaben sich zu ihren Fahrzeugen und fuhren davon. Der Nebenkläger wurde sofort in ein Krankenhaus verbracht und dort operativ versorgt.

b) Das Landgericht hat sich keine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten und von seiner Anwesenheit am Tatort bilden können.

Sein in der Hauptverhandlung abgelegtes Geständnis hat das Landgericht nicht für glaubhaft gehalten. Der Angeklagte habe sich lediglich im Wege einer Verteidigererklärung eingelassen und die Beantwortung von Nachfragen verweigert. Überdies habe sich seine Einlassung teilweise als unstimmig und widersprüchlich erwiesen. Zwar weise seine Einlassung eine hohe Konstanz mit seinen schon im Ermittlungsverfahren und auch in der Hauptverhandlung des ersten Rechtsgangs abgelegten Geständnissen zum Rand- und Kerngeschehen auf. Insbesondere bei der Schilderung, auf welche Art und Weise er dem Nebenkläger die Stichverletzung zugefügt haben will, zeigten sich aber zwischen diesen Einlassungen auffällige Abweichungen. So habe er vor der Haftrichterin am 31. Juli 2020 angegeben, er sei mit dem Schraubenzieher in der erhobenen Hand in den Nebenkläger „hineingelaufen“; im ersten Rechtsgang habe er sich hingegen dahin eingelassen, keine Erinnerung an einen Stich in den Kopf des Nebenklägers zu haben und in der nunmehr durchgeführten Hauptverhandlung ausgesagt, nach einem Faustschlag des Nebenklägers mit einem Schraubendreher ausgeholt und die Schläfe des abgesenkten Kopfes des Nebenklägers getroffen zu haben.

Das Geständnis werde auch nicht durch andere Beweismittel gestützt. Der Zeuge F. habe den Angeklagten zwar in einer polizeilichen Vernehmung als den bislang unbekannten vierten Insassen in dem von B. geführten Fahrzeug benannt. Dessen Angaben seien aber widersprüchlich und inkonstant. Auch habe dieser Zeuge die Tathandlung selbst nicht wahrgenommen. Der Angeklagte sei von keinem weiteren Zeugen belastet oder auch nur als Tatbeteiligter wiedererkannt worden. Schließlich sei auch nicht auszuschließen, dass der Angeklagte ein „freiwilliges Bauernopfer auf sich genommen“ habe, weil er als jüngster der ermittelten Beschuldigten eine - mit Blick auf seine fehlenden Vorstrafen - milde Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht zu erwarten habe.

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers haben Erfolg, denn die Beweiswürdigung des Landgerichts hält bereits der auf die Sachrüge hin veranlassten revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Auf die erhobenen Verfahrensbeanstandungen kommt es damit nicht mehr an.

1. Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist das durch das Revisionsgericht hinzunehmen, denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überhöhte Anforderungen stellt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 - 4 StR 371/13, Rn. 8 f.; weitere Nachweise bei Brause, NStZ-RR 2010, 329, 330 f.). Das Tatgericht ist gehalten, die Gründe für den Freispruch so vollständig und genau zu erörtern, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, anhand der Urteilsgründe zu prüfen, ob der Freispruch auf rechtsfehlerfreien Erwägungen beruht (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2016 - 1 StR 94/16, Rn. 10; Beschluss vom 25. Februar 2015 - 4 StR 39/15, Rn. 2; Urteil vom 20. November 2013 - 2 StR 460/13, NStZ-RR 2014, 56). Zudem darf das Tatgericht bei der Überzeugungsbildung Zweifeln keinen Raum geben, die lediglich auf einer abstrakt-theoretischen Möglichkeit gründen (vgl. BGH, Urteil vom 29. September 2016 - 4 StR 320/16, Rn. 12; Urteil vom 29. April 1998 - 2 StR 65/98, NStZ-RR 1998, 275 mwN).

2. Daran gemessen hält die Beweiswürdigung des Landgerichts revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Beweiswürdigung ist lückenhaft.

aa) Das Landgericht hat bei seiner im Ansatz zutreffenden Überprüfung der Einlassungen und ihrer Entwicklung (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 2003 - 3 StR 386/02, wistra 2003, 351, 352) außer Acht gelassen, dass als Erklärung für die festgestellte Inkonstanz - etwa infolge einer Anpassung an den in den Verfahrensakten dokumentierten Ermittlungsstand (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. März 2020 - 2 StR 69/19, NStZ 2021, 180, 182; vom 28. Oktober 2020 - 5 StR 411/20, NStZ 2021, 319) - auch prozesstaktische Erwägungen in Betracht kommen. Im weiteren Fortgang des Verfahrens kann es für einen Angeklagten etwa um einer erstrebten, möglichst gewichtigen Strafmilderung willen aussichtsreich erscheinen (§ 46 Abs. 1 StGB), bislang bestrittenes oder nicht zum Inhalt der Einlassung gemachtes Tatgeschehen sukzessiv wahrheitsgemäß einzuräumen.

bb) Ferner hat das Landgericht einen die Täterschaft möglicherweise stützenden Umstand nicht erwogen. Der Beweiswürdigung ist zu entnehmen, dass der Angeklagte ein bis zwei Tage nach dem Tatgeschehen gegenüber der Zeugin L. von einer Schlägerei am Abend des 28. April 2020 berichtete, bei der es nicht um ihn, sondern um B. gegangen sei. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Angeklagte damit Wissen offenbart hat, das den Schluss auf seine Täterschaft tragen kann (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 1998 - 5 StR 469/97, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30; Bender/Häcker/Schwarz, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5. Aufl., Rn. 1282 ff.; Peters, Fehlerquellen im Strafprozess, 2. Band, S. 6), lassen die Urteilsgründe indes vermissen. Eine solche war schon wegen des engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Äußerung und Tat, insbesondere aber deshalb geboten, weil die Zeugin davon berichtete, dass der Angeklagte ihre Wohnung am Tattag zu der Zeit verlassen habe, zu der nach den Feststellungen der Strafkammer die anderweitig Verfolgten zum Tatort fuhren.

b) Rechtsfehler enthält die Beweiswürdigung auch, soweit das Landgericht nicht auszuschließen vermocht hat, dass sich der Angeklagte zu Unrecht selbst der Tatbegehung bezichtigte, um andere vor Strafverfolgung zu schützen.

aa) Gestützt hat die Jugendkammer diese Hypothese „eines freiwilligen Bauernopfers“ darauf, dass der Angeklagte in „illegale Strukturen“ eingebunden sei und auf den Inhalt eines von B. an ihn in die Justizvollzugsanstalt gesandten Briefs, indem er ihm zusagt, dass sie nach seiner Haftentlassung unabhängig davon welche Entscheidung er treffe, immer hinter ihm stünden. Soweit das Landgericht diesem Schreiben durchaus eine „Doppeldeutigkeit“ in dem Sinne entnommen hat, dass es sich für ihn auszahlen werde, wenn er an seinem Falschgeständnis festhalte, entbehrt diese allein dem Tatgericht obliegende Bewertung einer tragfähigen Grundlage. Insbesondere fehlt die Auseinandersetzung der Jugendkammer mit der naheliegenden Deutungsmöglichkeit, dass B. dem Angeklagten die Mitteilung für den Fall gemacht haben könnte, auch fortan über die Hintergründe des Tatgeschehens und die Beiträge anderer Tatbeteiligter zu schweigen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Schluss auf eine falsche Selbstbezichtigung letztlich als spekulativ.

bb) Unterblieben ist in diesem Zusammenhang ferner eine Würdigung der Urteilsfeststellungen zur Person des Angeklagten, die das angenommene Motiv einer falschen Selbstbezichtigung jedenfalls zweifelhaft erscheinen lassen könnten. Dies gilt insbesondere für die konkreten Belastungen des Angeklagten durch das Verfahren. Er hat als vormals „gut integrierter Jugendlicher“ infolge des Verfahrens seinen aufenthaltsrechtlichen Status verloren; ihm droht die Abschiebung nach Albanien und damit - für ihn „emotional belastend“ - eine Trennung von seiner „Kernfamilie“. Überdies fürchtet er nach den Feststellungen der Jugendkammer die Rache der Familie des Nebenklägers.

c) Auch die Würdigung der Aussage des einzigen Belastungszeugen F. begegnet durchgreifenden sachlich rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat dessen Angaben als nicht glaubhaft bewertet; sie seien insbesondere „evident widersprüchlich und inkonstant“. Dem Senat ist eine abschließende Überprüfung dieser tatgerichtlichen Wertung verschlossen, weil die Urteilsgründe nur die Aussagen des Zeugen gegenüber der Polizei mitteilen, nicht aber seine Angaben in der Hauptverhandlung des ersten Rechtsgangs.

d) Schließlich fehlt es an der gebotenen Gesamtwürdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände. Das Landgericht hätte die das Geständnis stützenden und den Angeklagten belastenden Indizien nicht nur isoliert abhandeln dürfen, sondern in einer Gesamtschau würdigen müssen. Das gilt insbesondere für seine Äußerungen gegenüber der Zeugin L. sowie für die ihn belastenden Angaben des Zeugen F., der ihn im Zuge einer Durchsuchungsmaßnahme spontan als Täter benannt hatte.

III.

1. Das Urteil beruht auf diesen Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Jugendkammer bei einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung und der gebotenen wertenden Gesamtschau aller be- und entlastenden Beweiszeichen die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte. Die zugehörigen Feststellungen sind schon deswegen aufzuheben, weil sie den Angeklagten potentiell belasten und für ihn mangels Beschwer nicht mit einem Rechtsmittel angreifbar waren (vgl. BGH, Urteile vom 21. April 2022 - 3 StR 360/21, NJW 2022, 2349; vom 8. November 2023 - 5 StR 259/23). Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

2. Die Aufhebung des Urteils führt zugleich zum Wegfall der Entscheidung über die Zuerkennung einer Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft (vgl. BGH, Urteil vom 17. Mai 1995 - 2 StR 111/95).

IV.

Die Urteilsgründe geben Anlass zu folgendem Hinweis:

Die Erwägung, dass ein nur teilweise als unglaubhaft bewertetes Geständnis eine Verurteilung nur dann tragen könne, wenn es durch außerhalb der Einlassung liegende gewichtige Gründe gestützt werde, lässt eine im Ausgangspunkt rechtlich verfehlte Einschränkung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung besorgen. Die vom Landgericht damit erkennbar in Bezug genommenen beweisrechtlichen Anforderungen sind für besondere Konstellationen des Zeugenbeweises anerkannt (vgl. etwa BGH, Urteile vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159; vom 17. November 1998 - 1 StR 450/98, BGHSt 44, 256, 257); auf die geständige Einlassung können sie indes nicht ohne Weiteres übertragen werden.

HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 360

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede